Scherbenwelt
Kaum, dass sie den Spiegel betreten hatten, wusste Alex, dass sie Angst um Eyndor hatte. Nie zuvor hatte sie ein anderes Wesen auf diese Reise mitgenommen. Außer Joshua. Und der konnte sich immerhin nicht beschweren. Er verbrachte den Übergang eingemurmelt in ihrem Shirt, war zwar wach und sein kleines Herz raste, aber der verhielt sich ruhig. Anders als Eyndor. Ihm hatte sie aus Zeitgründen nicht sagen können, dass es im Inneren eines Spiegels keine Luft, keine Atmosphäre und keine Wirklichkeit gab. Sie hatte ihn quasi ins kalte Wasser geworfen und musste ihn schnellstmöglich auf die andere Seite bringen. Aufgebracht trat sie auf der anderen Seite des Spiegels hinaus, fuhr herum und ergriff seine Finger mit beiden Händen, um ihm bei diesem einen Schritt zu helfen. Als er kurz darauf nach Luft japsend aus dem Spiegel stürzte, und erst einmal auf alle Viere fiel, gelang es tatsächlich einem kleinen Lächeln, über ihre Lippen zu huschen.
»Willkommen Zuhause«, flüsterte sie ihm zu, ließ sich neben ihn sinken und spürte, wie ihr eigenes Herz noch wilder zu rasen begann. Behutsam hielt sie ihm die Hand entgegen und beobachtete geduldig, wie er um seine Fassung kämpfte, ihr ganz langsam sein zugewuchertes Gesicht entgegen hob und ihr Lächeln erwiderte.
»Du hast mich gerettet«, gab er daraufhin zurück und konnte nun gar nicht anders, als sie in seine Arme zu schließen.
An ihrer Wange spürte sie seinen Bart. Er kratzte und war rau. Er hätte nichts sagen müssen. Seine Dankbarkeit war ihm anzusehen. Tief in seinem Blick lag ein Einklang mit der Welt, der vorher nicht dort gewesen war. Sie sagte ihm nicht, dass er vielmehr sie gerettet hatte, sondern genoss es in vollen Zügen, scheinbar einmal alles richtig gemacht zu haben.
Dann löste sie sich von ihm und stand auf. »Ich bin froh, dass du wieder hier bist, und dein Leben fortführen kannst, auch wenn das Krieg bedeutet. Aber mein Freund sitzt hier in einem Kerker, und sollte sich frei durch die Lüfte bewegen. Ich weiß, du kennst ihn. Sein Name ist Nuin. Und ich bitte dich, dein Wort zu halten. Geh zu Anders und bitte ihn, meinen Freund und mich gehen zu lassen.« Das bist du uns schuldig. Aber das sprach sie nicht aus. Sie dachte es und wusste sofort, dass auch er dieser Meinung war.
»Nuin?«, fragte Eyndor und schien hellhörig geworden. »Dein Freund, der hier gefangen ist, ist Nuin? Der Greif?«
Alex nickte. »Er sagte, ihr kennt euch von früher. Bitte hilf ihm. Eigentlich sollte er gar nicht hier sein. Aber Anders hat uns beide in eine Falle gelockt und-« Sie seufzte. »Ist das überhaupt sein Name?«
»Du könntest seinen Namen nicht aussprechen«, erwiderte der Krieger. »Der Mann, dem sein Körper vor ihm gehörte, hieß so. Und seitdem hat er den Namen behalten und zu seinem gemacht. Und ich finde, dass er eigentlich auch sehr gut passt. Immerhin ist er ein wenig anders. Und nun lass mich sehen, was ich tun kann.«
Sein Blick schweifte umher. Sie waren in jenem Turmzimmer zurückgekommen, durch das das Mädchen zuvor verschwunden war. Das bedeutete, der Empfangssaal des Krähenprinzen lag viele hundert Stufen unter ihnen, und er würde sicher nicht nach oben kommen, um sie Willkommen zu heißen.
»Komm«, sagte das Mädchen und winkte den Krieger in Richtung Treppe. »Ich denke ich weiß, wo wir ihn finden werden.«
Obwohl er mit Sicherheit längst wusste, dass sie hier waren. Wenn er so eng mit dem Schloss verbunden war, wie er selbst behauptet hatte, wusste er immerzu ganz genau, was hier vor sich ging und war einfach nicht erschienen, um sie zu begrüßen. Alex verzog das Gesicht und versuchte nicht daran zu denken, dass sie nach wie vor Teil seines perfiden Spiels war und sich darauf zu konzentrieren, dass Eyndor möglicherweise die Macht besaß, Anders davon zu überzeugen, dass er sie gehenlassen musste.
Sie waren die Treppe halb hinuntergegangen, als Alex den Kopf drehte und zu Eyndor zurücksah. »Hat er das wirklich getan? Ich meine, dir deine Bürde abgenommen. Oder hast du es mir nur erzählt, damit ich dir glaube?«
»Alles, was ich sagte, ist wahr. Er kam eines Tages nach Sonnenuntergang in das Kloster, in dem ich aufgewachsen bin und ich wusste, dass er gekommen war, um mich zu töten. Isay hat es ihm aufgetragen. Damals, als sie noch Verbündete waren. Er wollte mich aus dem Weg räumen, solange ich noch zu jung und unerfahren war, um ihm gegenüberzutreten. Doch als Anders kam, und mit erhobenem Schwert an mein Bett trat, wussten wir beide, dass er es nicht konnte. Er nahm meine Hand und sagte, ich solle ganz fest drücken und mir wünschen, ich wäre von meinem Fluch befreit. Ich tat es, und als ich die Augen aufschlug, war alles vorüber. Ich war frei, und er an meinen Fluch gebunden.«
»Hast du ihn jemals gefragt, wieso er das getan hat?«
»Nein«, erwiderte der Krieger und lief langsam weiter. »Es ist ein stilles Bündnis. Ich stelle diese Frage nicht, und er wird mir niemals vorwerfen, dass alles meine Schuld ist.«
Alex nickte und folgte ihm. »Verstehe. Tut mir leid, ich war bloß neugierig.«
»Frag, was immer du fragen willst. Dies ist nicht deine Welt, und ich kann verstehen, dass dich viele Dinge verwirren.« Er lächelte, aber da Alex hinter ihm lief, konnte sie lediglich seine Mundwinkel zucken und seine Ohren ein wenig wackeln sehen.
»Hast du Angst?«, fragte sie ihn plötzlich. »Ich meine, zu ihm zurückzukehren.«
»Wieso glaubst du das?«
»Weil ich denke, dass du damals fortgelaufen bist. Wenn seine Macht so groß ist, wie alle behaupten, dann bist du sicher nicht in seiner Obhut gewesen, als Isay dich gefangen nahm. Und du selbst hast gesagt, dass es auf dem Schlachtfeld geschah. Also was ist passiert?«
Eyndor stieß ein Seufzen aus, das von den Wänden widerhallte. »Du hast recht. Das habe ich gesagt. Und es ist wahr. Ich bin damals gegangen. Aber aus anderen Gründen, als du vermuten wirst. Ich war das Töten leid. Und den Krieg. Ich dachte, ich breche auseinander, wenn ich noch einmal ein Schwert schwingen muss. Anders war nicht begeistert und er befahl mir, das Schloss nicht zu verlassen. Aber ich bin gegangen, und der Krieg hat mich eingeholt. Und als ich begriff, wem ich da auf dem Schlachtfeld gegenübertrat, war der Kampf längst vorüber. Als Anders mein Verschwinden bemerkte, folgte er mir. Aber es war zu spät. Und ja, ich habe etwas Angst davor, ihn wiederzusehen. Wir haben seit diesem Tag kein Wort mehr miteinander gesprochen. Ich weiß nicht, wie er auf mich reagieren wird. Aber ich weiß, dass deine Wut nicht größer sein kann, als die Schmach, die ich selbst empfinde. Er kann mich kaum mehr verurteilen, als ich selbst.«
»Hast du keine Angst, dass er dich zu Nuin ins Verlies steckt?«
»Er hätte nicht zehn Jahre um mich kämpfen müssen, um mich hinter Gitter zu bringen. Da war ich bereits. Am sichersten Ort der Welt.«
Das stimmte. Mit Sicherheit würde sich Eyndor in nächster Zeit niemals mehr in solcher Sicherheit befinden, wie in den letzten Jahren, als Isay Tag und Nacht aufgepasst hatte. Und dennoch hatte er nach Hause gewollt. Vielleicht einfach nur, um einen alten Freund wiederzusehen, ihn um Verzeihung zu bitten, oder endgültig abschließen zu können.
Er drehte sich abrupt auf der allerletzten Stufe um und schaute zu dem Mädchen auf. »Du musst nicht mit mir gehen, wenn du nicht willst. Ich rede allein mit ihm.«
Aber Alex war sich bewusst, dass sie dieser Konfrontation nicht aus dem Weg gehen konnte. »Nein, schon gut. Ich bin sicher, er wartet hinter dieser Tür«, ließ sie den Krieger wissen und wies auf die gewaltige, zweiflügelige Tür am Ende des Ganges. Fast, um ihren Worten Ausdruck zu verleihen, schien sich die Finsternis hinter der Tür zusammenzuballen und den Magen des Mädchens in einen schwarzen Klumpen zu verwandeln. Ihr wurde schlagartig speiübel und der Gedanke, noch einmal in Anders falsche Augen sehen zu müssen, ließ ihr die Luft in der Kehle stocken. Aber es musste sein. Jetzt mehr denn je.
Gemeinsam, nebeneinander traten sie auf das Portal zu, vor dem diesmal kein Dämon stand und Wache hielt. Der kurze Augenblick, der sie noch von der Zusammenkunft mit dem Herrn der Schatten trennte, war für Alex die Ruhe vor dem Sturm. Und jetzt fürchtete sie sich. Nicht annähernd so viel, wie vor Isay, aber doch mehr, als gut für sie gewesen wäre. Sie erinnerte sich selbst an ihr Versprechen, dem Kerub gegenüber niemals mehr Schwäche zu zeigen und nickte Eyndor zu, als dieser nach der Tür griff und das große Portal mit aller Macht aufstieß. Knarrend protestierte das dunkle Holz gegen die Kraftanstrengung des Kriegers und lehnte sich gegen ihn auf. Eyndors Kraft jedoch bezwang das störrische Tor und schon kurz darauf fiel ein gleißender Lichtstrahl auf de Korridor hinaus. Alex schaute durch den Spalt und gewahr ein Zimmer von unsagbaren Ausmaßen. Doch dort, wo bei ihrer letzten Begegnung mit Anders im Thronsaal Finsternis vorgeherrscht hatte, war nun Licht. Und der throngleiche Sessel, in dem er gesessen hatte, war leer.
Direkt hinter Eyndor trat sie ein und ließ den Blick schweifen. Die gewaltigen Fenster, vor denen diesmal keine dunklen Vorhänge lagen, ließen so viel Licht ins Innere des Saals fallen, dass er weder trist noch unheimlich erschien. Es war nur ein Zimmer, das keine Seele besaß. Wie der Mann, der darin lebte. Sie erfasste Anders Gestalt am Fenster, wo er mit verschränkten Armen stand und sich auch dann nicht umwandte, als sie eintraten. Er stand einfach nur da und blickte durch das Glas hinaus ins Freie.
Er drehte sich nicht um und sah nicht auf, als er den Blick des Mädchens auf sich fühlte. Mit einem Seufzen schloss er die Augen. Das matte Sonnenlicht berührte sein Gesicht und brachte Schönheit zu Tage, die er sonst in Dunkelheit versteckte.
»Anders?«, flüsterte Alex, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte. »Ich habe jemanden mitgebracht, der sich freut, dich nach langer Zeit wiederzusehen.«
Keinerlei Regung bewegte die starre Gestalt des Kerubs. Doch seine Augenlider hoben sich und sein Blick schweifte ab, zu irgendeinem Punkt in der Ferne, den Alex nicht sehen konnte.
»Ich habe dir Eyndor zurückgebracht«, fuhr sie fort. »Und jetzt will ich nach Hause.«
»Er war nicht Teil unseres Handels. Du hast mir weder mein Schwert noch meine Truhe gebracht«, erwiderte der Dämon ruhig, drehte sich herum und musterte ausschließlich sie lange und eisern. »Und ich weiß, dass Isay nun unser Geheimnis kennt. Diese drei Dinge waren es, um die ich dich gebeten habe. Und du kommst mit leeren Händen zurück.« Dann, ganz langsam, glitt sein Blick vom fassungslos entsetzen Gesicht des Mädchens hinüber zu dem Krieger, der wie angewurzelt in der geöffneten Tür stand und ein Lächeln zuckte um seine verhärteten Mundwinkel.
»Aber..«»Mein Freund«, sagte dieser endlich, nachdem er die Fassung zurückerlangt hatte. »Ich.. Es tut gut, hier zu sein.«
»Es tut gut, dich in Sicherheit zu wissen.«, pflichtete ihm Anders bei. »Schön, dass du hier bist.«
Mit verschränkten Armen, drehte er sich vollends herum, maß die beiden mit einem letzten, kühlen Blick und durchschritt das Zimmer, um an ihnen vorüber in die Eingangshalle zu schreiten.
Der Augenblick, der seinem Verschwinden folgte, seine Schritte, die auf dem Boden langsam verhallten und die Erinnerung an seine Worte waren es, die Alex den Boden unter den Füßen raubten. Nach allem, was sie erwartet hatte, war dies nicht der Dank, den sie sich erhofft hatte. Sie hatte ihr Leben riskiert.
»Warte!«, rief sie ihm nach und fuhr herum. Anders blieb stehen, neigte den Kopf leicht zurück und musterte sie über seine Schulter hinweg aus den Augenwinkeln.
»Was willst du?«
»Was wird aus Nuin? Was wird aus mir?«
»Du kannst gehen«, waren seine Worte, ehe er hinter einer der Säulen und somit aus ihrem Blickfeld verschwand. »Ich habe keine Verwendung mehr für dich. Aber dein Freund bleibt hier. Wir haben einen Pakt geschlossen, und du hast deinen Teil der Abmachung nicht eingehalten. So lange du durch meine Welt schweifst und meinen Schlüssel um den Hals trägst, wird er meine Absicherung sein. Aber ich rate dir, geh nicht hinaus, nun, da Isay dein Gesicht und deinen Namen kennt.«
Das Loch, in das Alex stürzte, wurde riesig und sie spürte, dass sie ohne Eyndors Hand, die sie plötzlich packte, zusammengebrochen wäre.