Als der Morgen graute, war der Zauber vorüber. Die Flammen waren erloschen, die Magie des Augenblicks hatte sich verflüchtigt, und aus dem mächtigen Band der Freundschaft war ein Band der Zweifel geworden. Als Eyndor aufstand, und erste Anstalten machte, ins Haus zu gehen, sahen alle auf, aber niemand hielt ihn zurück. Das Schweigen war unerträglich. Und die Natur schwieg mit. Kein Vogel sang, keine Blätter raschelten im Wind, nicht einmal ein Windhauch streifte ihnen das Haar ins Gesicht. Es war still und befremdlich geworden, und auch wenn Alex es sich selbst nicht eingestehen wollte, aber über Nacht hatte sich alles verändert. Sie hatten gemeinsam gelacht, sich gegenseitig gewärmt, Hoffnungen und Sehnsüchte ausgetauscht und waren voller Hoffnung gewesen. Der Zauber der Nacht hatte sie verblendet und die Sorgen des Tages unsichtbar erscheinen lassen. Nun kehrte die Wirklichkeit mit aller Macht zurück.
Das Mädchen stand auf, klopfte sich Erde von der Hose und warf einen letzten Blick in die Runde. Die Gesichter ihrer Freunde waren leer. In ihnen war kein Leben mehr, kein Hoffen, kein Vertrauen in die Macht, die sie vergangene Nacht heraufbeschworen hatten. Sie waren zu Hüllen mutiert, die ihr Schicksal kannten. Sie alle waren tot und verdammt, wenn ihr Plan misslang.
Als sie schließlich die Kraft fand, loszulassen, und Eyndor nachzulaufen, fühlte sich Alex von ihrer Mitschuld befreit. Sie folgte dem Krieger ins Haus und ließ die Tür hinter sich zufallen. Kaum, dass sie allein waren, flüsterte sie seinen Namen und er blieb auf der Stelle stehen. Mit gerunzelter Stirn drehte er sich zu ihr herum und musterte sie von Kopf bis Fuß. Sein schönes Lächeln kehrte nicht zurück, aber sein Blick wandelte sich in etwas Freundliches. »Hab keine Angst«, sagte er zu ihr. »Ich bin noch immer zuversichtlich.«
Er drehte sich um und verschwand in Richtung Waschraum. Alex blieb zurück. Hilflos schlang das Mädchen seine Arme um ihren schlanken Leib und flüsterte leise: »Aber ich nicht..«
Alex zog sich zurück, drehte sich fort und sah in diesem Moment, wie sich die Tür öffnete und Halla und Reyndra hereinkamen. Auf ihren Gesichtern zeigte sich Wehmut, aber sie versuchten zu lächeln, und Alex war ihnen unendlich dankbar dafür.
»Du siehst aus«, sagte Halla freundlich, »als hättest du einen Geist gesehen. Komm, Kind, lass uns etwas essen. Nur weil heute der Krieg beginnt, ist das nicht das Ende aller Tage. Ich habe schon viele Schlachten kommen und gehen sehen, und mein lieber Mann kam jedes Mal zurück.« Im Vorübergehen packte sie Alex an der Schulter, drehte sie herum und nahm sie mit in die Küche.
Aber das Mädchen konnte das Zittern unter ihren liebgemeinten Worten fühlen. Diesmal hatte auch sie Angst. Der Feind, gegen den sie kämpften, war anders als alles, was ihnen bislang im Weg gestanden hatte. Isay kannte all ihre Schwächen. Er besaß den größten Triumph, den er je hätte einfangen können, und er wusste, seine unumstrittene Herrschaft endete mit Anders. Deshalb würde er alles daran setzen, ihn nicht aufzugeben und an ihm festzuhalten. Und genau das war es, was das Mädchen innerlich entzweite.
Zeitgleich saß, viele Marschstunden entfernt, der Schwarze Prinz in seiner Zelle und hielt das Gesicht dem einzigen Sonnenstrahl entgegengestreckt, dem es morgens gelingen konnte, ins Innere des Verlieses zu fallen. Mit geschlossenen Augen empfing er die Wärme des neuen Tages und schaltete den Rest seiner vorherrschenden Gefühle einfach ab. Es war einfach. Nur ein Schalter in seinem Kopf, den zu betätigen, ihm durch jahrelange Übung leicht viel. Um ihn herum herrschte nichts anderes, als dieser winzige Lichtstrahl, dessen Nähe ihm nur kurz vergönnt war.
Und dieser Augenblick war mehr, als er verdiente. Er sog die Kraft auf, wie ein gieriger Schwamm, atmete tief ein und aus, und als er die Lider hochschlug und dem maskierten Magier entgegenblickte, der im Halbdunkel vor seiner Zelle saß, und sich auf seine Beschwörungen vorbereitete, ahnte er, wie schwer ihn dieser Tag treffen würde. Er streckte die Hand aus, berührte die Kiste, die vor ihm stand, und ließ ein letztes Mal Magie in den Zauber hineinfließen, mit dem er einst beschlossen hatte, seine Welt zu schützen. Wie lange es ausreichen würde, wusste er nicht. Isays Magier war weit gekommen. Hinter der rabenschwarzen Kapuze und der missgestalteten Maske aus Silber, die dem Gesicht und Schnabel eines Vogels nachempfunden war, verbargen sich ungeheure Kräfte. Magie, wie Anders ihr selten begegnet war. Wer auch immer unter diesem Umhang steckte, hatte wohl nicht nur die Macht besessen, Darias zurückzuholen, sondern zeigte sich auch äußerst geschickt im Kampf gegen Anders eigenen Zauber.
Er war stark. Mit jedem Tag fiel es Anders schwerer, seinen Zauber aus seinen eigenen Gedanken fernzuhalten. Durch den Bann seiner Ketten geschwächt, und einem Großteil seiner Kräfte beraubt, kratzte er am wundesten Punkt seiner Seele. Jeden Tag versuchte der anonyme Maskenmann, in seine Gedanken vorzudringen, jeden Zentimeter seines Geistes zu erkunden und ihm das Geheimnis zu entlocken, wie dieser Bann zu brechen war.
Anders spürte es. Er wusste, ab dem Zeitpunkt, wenn der Magier kam, blieben ihm nur noch Augenblicke, um sich zu sammeln und den Widerstand aufzubauen. Aber er würde kämpfen, und wenn es sein musste, bis zum letzten Atemzug.
»Wer bist du?«, fragte der Kerub. »Wieso kämpft ein Mann mit deinen Fähigkeiten an Isays Seite und versteckt sein Gesicht, nicht aber seine Fertigkeiten?«
Wie war es Isay gelungen, diesen Mann aufzuspüren? Wie konnte er ihn halten, wie bändigen? Wie brachte man ein Wesen mit so viel Zauberkraft dazu, sich für die Vernichtung Andheras einzusetzen?
Der Kerub zog die Kiste näher zu sich.
Hinter der Maske brach das Gemurmel ab. Das verborgene Gesicht hob sich Anders entgegen. Der gebogene Schnabel wies direkt zwischen die Augen seines Gegenübers. »Ich bin Licht und Schatten, ein Teil von allem und nichts. Nicht mehr und nicht weniger als der Mann, der den Schwarzen Engel gefangen und den Tod überlistet hat.« Er lachte rau und kurz darauf begann er von vorn, seinen Zauber um den Engel zu weben und das Kräftemessen eine weitere Runde fortzusetzen. Er war fort, geistig viel zu weit entfernt, um ein tatsächliches Gespräch zu führen. Nur eine Hülle, angereichert mit unvorstellbar wütender Magie und rachsüchtigen, finsteren Gedanken. Kein Mann. Ein Monster.
Aus dem Nichts ließ Anders seine großen dunklen Schwingen erscheinen und hüllte sich und die Kiste in deren notdürftigen Schutz ein, fletschte die Zähne und stellte sich einen weiteren Tag lang dem unsichtbaren Kampf, den er mit der Magie dieses Mannes führte. Der Anblick des Maskenmannes brannte sich wie ein blinder Fleck auf seiner Netzhaut ein.
»In mir ist noch verdammt viel Gegenwehr«, versprach er dem Gesichtslosen und spannte all seine Muskeln und Gedanken an, um den Bann abzuwehren, der ihm hart wie ein Hammerstoß entgegenfuhr. »Es werde es dir alles andere als einfach machen.«
»Und doch«, erwiderte der Zauberer tonlos. Seine Stimme klang leer, jedes Wort nur wie eine seelenlose Hülle, der keine Botschaft innewohnte. Unter der Maske hefteten sich tiefschwarze Augen auf den Kerub. »Wirst du fallen.«