»Alex.« Es war nur ein Flüstern, ein Hauch im Wind, doch er wiederholte sich immer wieder und wieder. Unsichtbare Naturgeister und Stimmen aus dem Jenseits, die das Mädchen näher an den Abgrund riefen, umschwirrten ihre Gedanken, umkreisten ihr Bewusstsein.
Sie stand am Ende einer Wiese. Über dem Abgrund bauschten sich dunkle Wolken zu Gebirgen aus schwarzem Unbehagen auf. Der Himmel war finster. Es roch nach Feuer. Winzige Aschepartikel lagen in der Luft und nisteten sich in Alex Haare ein. Der Tod trieb sich in diesem Abgrund herum.
Es war leise. Viel zu still für das Unheil, das in der Luft lag. Die Autorität des Übels war überall spürbar. Der Tod, der Meister der Furcht und Herr aller Ängste, lauerte in den Schatten und Alex fühlte ihr erstes Aufeinandertreffen näher rücken.
Er saß dort unten, weit unter den Klippen und schaute zu ihr auf, als wartete er nur darauf, dass sie sich dem Abgrund näherte, um sie hinabzuziehen. Sein machtvoller Sog nagte an ihr. Er zerrte in Form eines Sturms an ihren Kleidern und drängte sie unaufhaltsam dem Nichts entgegen.
Sie wollte sich dem Drang entgegenstellen, sich auflehnen, aber ihr Kopf war wie leergefegt. Die Mauern ihres Widerstands waren gefallen, und sie wusste nicht, wieso. Alles, was sie bislang vor der Finsternis gewarnt und gegen sie abgeschirmt hatte, war fort, und sie hatte der Dunkelheit kaum etwas entgegenzusetzen.
Nein, ein Teil von ihr, etwas, das sie nie kennengelernt hatte, hieß dieses Grauen sogar willkommen, wie einen alten Freund.
Ein zweiter Schritt. Behutsam neigte sie sich vor und konnte einen ersten Blick über den Rand der Welt hinweg erhaschen. Und dort saß er im Dunkeln und wartete auf sie: der Tod.
Er kauerte sehr weit unter ihr, in einer toten Schlucht, die vom Feuer verwüstet war. Ein Bach zog seine Bahnen durchs Zentrum der Verwüstung und wusch die Überreste fort, die ihm das Feuer gelassen hatte. Rasch zog sich das Mädchen zurück, hob die Hand und griff sich ans Herz.
Andheras Anblick schmerzte.
Sie war allein mit all ihren Ängsten und Sorgen. Ein Blick zurück. Zaghaft drehte sie sich im Kreis und hielt Ausschau nach irgendwem, irgendetwas. Wo war Eyndor? Wo waren Anders und Nuin? Wo waren all die Wesen geblieben, die ihr geschworen hatten, bei ihr zu sein, wenn sie einmal Hilfe brauchte?
Ihre Worte verwandelten sich im Bewusstsein des Mädchens in Schall und Rauch. Sie existierten nicht länger und Alex verstand, dass obgleich sie nicht alleine war, sie im Zweifelsfall ihren Weg selbst bestimmen musste. Und da sie nicht die Macht besaß, dem Drängen der Dunkelheit zu entgehen, gab es für sie nur einen einzigen Weg - dem Abgrund entgegen.
Sie ging einen dritten und einen vierten Schritt auf die Klippen zu und hielt erst inne, als ihre Zehen bereits über den Abgrund hinaus ragten. Unter ihr erstreckte sich das Königreich eines so alten Feindes, dass ihr die Worte fehlten, um die Bilder zu beschreiben. Doch hingegen aller Erwartungen war der Kampf dort unten nicht geschlagen, er tobte weiter mit unbarmherziger Grausamkeit.
Sie sah Eyndor im Kampf mit einem Mann, dessen ganze Gestalt von schwarzem Stahl verschlungen war. Er trug eine Rüstung, in der sich die Flammen spiegelten. Sein Helm war am oberen Ende zu zwei Hörnern gebogen und repräsentierte das Antlitz des Teufels. Auf seiner Brust prangte ein Wappen, das dem Mädchen nie zuvor begegnet war: ein roter Kreis mit einem weißen und einem schwarzen Drachen darin. Der schwarze Drache biss in den Schwanz des Weißen und hatte ihn bereits zur Hälfte verspeist. Ein Symbol für den Triumph der Finsternis über das Licht und für die Vergänglichkeit allen Lebens. In seinen mit Metall behandschuhten Händen ruhte ein breites Schwert, das mit zwei Händen zu führen war. Die Klinge war silbern und mit Blut bedeckt, das nicht von ihm stammte. Es war Eyndors. Der sichtlich angeschlagene Krieger trug zwar einen Brustharnisch, doch seine rechte Schulter blutete. Ein breiter Schlitz teilte das Fleisch und ließ Blut in Strömen sein Hemd benetzen.
Obwohl er noch immer aufrecht stand und selbst sein Schwert noch hielt, war seine Erschöpfung mehr als deutlich zu sehen. Er bebte am ganzen Leib. Einzelne Haare hatten sich aus seinem zusammengebundenen Haar gelöst und klebten nun an seiner verschwitzten Stirn.
Er würde fallen, das wusste Alex, als sie sah, wie er seine Kraft sammelte, um noch einmal das Schwert zu schwingen. Seine Muskeln waren erschöpft, seine Bewegungen zu langsam, und sein Widersacher in deutlich besserer Verfassung. Dieser Kampf war verloren.
Und er bedeutete den Sieg des Todes.
Alex sah wie versteinert zu, wie der Krieger im Helm die Waffe hob und zustieß. Fast mühelos gelang es ihm, in einem einzigen Herumreißen seiner Klinge, seinem Widersacher das Schwert aus der Hand zu schmettern und zuzustechen. Lautlos glitt die Klinge durch Eyndors rechten Oberschenkel hindurch und hinterließ beim Hinausziehen ein weiteres blutiges Rinnsal, durch das Lebenskraft seinem Körper entwich. Sogleich lösten sich aus allen Flecken, an denen Finsternis herrschte, Schatten und stoben auf den entwaffneten Krieger ein. Sie warfen sich in Scharen über Eyndors Gestalt und entwanden ihn Alex Blicken.
Er war tot, dachte sie, selbst wenn er selbst noch nichts davon wusste.
Sein Schicksal war besiegelt.
In diesem Moment begriff sie, dass das Szenario vor ihren Augen nicht wirklich war. Dass es ein Traum sein musste. Sie empfand keine Trauer um ihn, auch dann nicht, wenn sie seinen leisen Tod vor Augen hatte. Sie empfand keine Scham, dabei zuzusehen, wie ihn die Schatten unter sich begruben und weiter vom Leben fortrissen. Sie spürte keine Sorge um ihn, denn es spielte keine Rolle, an welchen Ort er ging. Etwas weitaus Schrecklicheres war hier geschehen. Ein dunkler Schemen überlagerte Eyndors stummen Tod und zwang das Mädchen dazu, wie in Trance den Kopf herumzureißen. Ihr Blick tastete sich an der Schlucht entlang.
Jemand beobachtete sie.
Der Tod war hier. Seine allumfassende Präsenz zog erbarmungslos die Aufmerksamkeit des Mädchens in seine Richtung. Mit langen, schweren Schritten folgte sie dem Verlauf der Klippen, bis sie sehen konnte, dass der Bach eine Biegung machte. An seinem verschlackten Flussbett sah sie Kreaturen sitzen. Es waren keine Menschen und keine Dämonen. Sie waren Gefallene. Etwas, das hier und dort leben konnte, und für das Alex keinen Namen hatte. Sie saßen in stiller Trauer um eine Gestalt herum, die dort im Sterben lag. Sie war noch nicht tot, aber diesem unaufhaltsam geweiht.
Dort, am Rand des Wassers, starb Anders. Umringt von formlosen Geschöpfen kauerte er zusammengesunken zwischen den Steinen. Die Überreste seiner Schwingen waren gerupft, der Rest war den Flammen zum Opfer gefallen. Die großen, dunklen Federn hingen in Fetzen an ihm herab. Um ihn herum war die Erde in einem Kreis zu Asche verbrannt. An seinen Händen hinten die Überreste ausgerissener Fesseln, die ihm tief ins Fleisch geschnitten hatten. Das lange Haar hatte sich teilweise aus dem Zopf befreit und lose Strähnen klebten ihm am Gesicht und den schweißnassen Armen. In seinem Todeskampf war eine Hand zu seiner Brust hinauf gewandert, aus der ein Dolchgriff ragte, der noch immer in den Fingern einer neben ihm kauernden Gestalt lag. Feuerrotes Haar und ein schmaler, ganz in Schwarz gekleideter Leib offenbarten Alex schnell, dass es Isay war, der Anders dort, fernab aller Augen niedergestreckt hatte. Das Mädchen spürte, wie er in Isays Armen verging und mit ihm alles, was Andhera Frieden verschaffen konnte.
Sein Ende war das Ende der Welt.
Diese Entscheidung war so endgültig, dass keine Zweife daran blieben. Mit Anders endete Andhera in einem Meer aus Flammen.
Alles an diesem emotionslosen Szenario schrie ihr entgegen, wie qualvoll und einsam sich die letzten Augenblicke seines Lebens in die Länge gezogen hatten, ehe ihn Isay mit diesem Dolch erlöste.
Es war nicht fair.
Und plötzlich setzte die Angst ein. Alles, was der Traum ihr bislang abverlangt hatte, war stillschweigend zuzusehen, wie die einzigen Wesen starben, die sie in ihren Kreis aufgenommen hatten. Sie hatte Eyndor verloren und nun musste sie Anders gehenlassen.
Es war nicht fair. Anders hatte einen Fehler begangen. Viele. Er war ein Narr und zog die kleinen Biester magisch an. Und doch hatte Alex seit ihrem Gespräch das Gefühl, dass seine Ziele aufrichtig waren. Er hatte sein Leben der Wiedergutmachung verschrieben, nachdem sein ausgesprochener Fluch Andhera mehr und mehr bedrohte. Und auch wenn seine Methoden zweifelhaft und nicht immer klar waren, kämpfte er aus Überzeugung. Weil seine eigenen Fehler an ihm nagten.
Diesen Tod, dieses unbedeutende, stille Ende, hatte er nicht verdient. Und auch Eyndor gebührte ein anderes, würdevolleres Dahinscheiden.
Sie senkte den Blick erneut in den Abgrund hinab und sah, wie ein Windstoß die beiden Krieger unter ihr erfassten und einzelne, dunkle Federn aus den gerupften Schwingen des Engels riss. Als Anders Finger um den Griff des Dolches herum erschlafften, schlug die Erkenntnis dem Mädchen mit voller Wucht ins Gesicht. Das durfte nie geschehen.
Alex keuchte. Es war dieser Moment, in dem sie spürte, wie groß ihre eigene Schuld an diesem sinnlosen Sterben war. Weil sie den Schlüssel zur Erlösung in den Händen hielt und ihn nicht nutzen konnte.
»Nicht doch..«, entwich ihre eigene Stimme blass ihren bebenden Lippen. »Das ist-«
Urplötzlich fuhr Isay herum, riss den Kopf in die Höhe und fixierte sie an. Er sah nichts und niemanden sonst. Nur sie. Alex wusste, nie zuvor hatte in irgendjemandes Blick so viel Hass gelegen. Seine Augen bestätigten ihre Befürchtungen: In ihren Händen hätte die Macht gelegen, Anders zu retten. Und Andhera.
Panisch fuhr Alex herum - und stürzte geradewegs in die Hände des maskierten Kriegers, dem sie eben noch bei Eyndor gesehen hatte. Sie versuchte, sich loszureißen, doch seine Finger packten sie und lagen wie Schraubstücke auf ihren Armen.
Kalter Atem entwich ihrer Kehle. Sie sah, wie er auf dem Helm des Kriegers weißlich beschlug. »Wer bist du?«, flüsterte sie ihm zu.
Durch zwei schmale Schlitze im Helm hindurch sah sie seine Augen grün und gefährlich funkelten. Hinter der Teufelsmaske, hinter dem Harnisch aus Stahl und der blechernen Rüstung, lag der kalte Hauch des Bösen. Alles, was sie in der Schlucht gespürt hatte, lag nun in seinem gnadenlosen Griff.
Ein tiefes Grollen drang unter seinem Helm hervor. Seine Stimme klang blechern vom Widerhall des Eisens. »Ich bin der Erste von Vielen, die kommen werden. Frag deinen gefiederten Freund nach mir, wenn du noch Gelegenheit dazubekommst.« Er hob die Hand. Sein stählerner Handschuh war um etwas Kleines geschlossen, das sich weich im Wind wiegte. »Hat ihm mein kleines Geschenk gefallen?«
Hat ihm mein kleines Geschenk gefallen?
Alex fuhr in die Höhe. Ein Tropfen kalter Schweiß perlte von ihrer Stirn und lief ihr die Wange hinunter. Sie starrte auf ihre Hände hinab und konnte das Beben nicht eindämmen. Hinter ihrer Stirn liefen nur langsam alle Handlungsstränge des Traumes wieder ineinander. Sie hatte in einem einzigen Augenblick ihr ganzes Leben vorbeiziehen sehen und geglaubt, es wäre vorüber.
Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre Freunde starben. Ihr Herz raste. Sie versuchte zu atmen, aber ihre Lungenflügel ächzten nur.
Hat ihm mein kleines Geschenk gefallen?
Anders! Die Worte des Kriegers glichen einer Drohung. Welches Geschenk? Panisch schwang sie die Beine aus dem Bett, brachte ihren Kreislauf und ihre Gedanken in Einklang und rannte über die kalten Steine. Sie musste zu ihm. Das wusste sie einfach. Sofort. Oder etwas Schreckliches würde geschehen.
Es war nicht nur ein Traum gewesen. Es war mehr. Was sie durchlebt hatte, glich einem Blick hinter die Kulissen einer Vorahnung. Es war wie damals, als sie Eyndor in seiner Zelle gesehen hatte und wusste, dass Isay Anders einen Handel vorschlagen würde. Dieser Traum würde sich erfüllen. Er war eine Verheißung. Ein Vorbote des Untergangs.
So schnell sie konnte, rannte sie zur Tür hinüber. Sie zählte die Schritte nicht, sie dachte an gar nichts. Ihre Gedanken waren fortgewaschen. Die Bilder aus ihrem Traum blockierten ihr Bewusstsein. Sie konnte nur rennen und laufen, und spüren, wie heiße, zornige Tränen über ihre Wangen liefen.
Abrupt drückte sie die Klinke hinunter, riss die Tür auf und stürzte geradewegs in die unfreiwillig ausgestreckten Arme einer Gestalt, die im Türrahmen stand. Alex sah nicht auf. Sie wusste auch so, wer es war. Doch anstatt zurückzuweichen, warf sie sich weinend in die Arme des Kriegers, drückte ihr Gesicht in den weichen Stoff seines Hemdes und durchnässte mit ihren Tränen den schwarzen Stoff.
»Alex«, hörte sie Eyndors leise Stimme in ihr Bewusstsein vordringen. »Um Himmels Willen, was ist denn geschehen? Du hast geschrien. Ich dachte-«
Er zog sich langsam zurück, brachte bewusst Distanz zwischen sie beide und senkte behutsam beide Hände auf ihr Gesicht. Seine großen rauen Daumen wischten ihr die Tränen von den Wangen und gleich darauf nahm sie sein Blick gefangen. In seinen dunklen Augen lag Sorge, die sich Alex nicht gleich erschloss. Doch als sie sich vorstellte, was er in ihr sehen musste, begriff sie seine Verwirrung.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren!«, setzte sie an und suchte ihre verlorengegangene Sprache. »Ich hatte einen ganz furchtbaren Traum.« Mühsam beherrscht versuchte sie, dem Blick des Kriegers standzuhalten. Doch in seinen Augen sah sie ihr eigenes, bleiches Abbild und wie sehr sie zitterte. »Du musst sofort nach oben gehen und nach ihm sehen.«
»Nach wem?«
»Nach Anders!« Die Gedanken des Mädchens waren wirr. Sie erinnerte sich flüchtig an die Feder, die sie in den Fingern des Kriegers gesehen hatte. Die Feder, die sie aus ihrer Welt mitgebracht hatte. »Ich glaube, er könnte in Gefahr sein.«
»In Gefahr? Ich habe vor weniger als einer Stunde noch mit ihm gesprochen.«
»Bitte vertrau mir einfach!«
Flink riss sich Alex los, stürmte an ihm vorbei und auf den Gang hinaus. Wie von selbst folgte ihr Körper einer Spur, die nur sie allein wahrnehmen konnte. All ihre Instinkte flammten auf, wie bei einem Hund, der einen Hasen jagt. Alles intensivierte sich. Alle Geräusche klangen lauter. Das Blut pochte in ihren Ohren.
Die Feder. Die Feder, die sie nach ihrer Rettung mitgebracht und Anders dagelassen hatte.
Etwas stimmte nicht mit dieser Feder. Und sie hatte sie mitgenommen und auf seinen Tisch gelegt.
Sie hatte ihm diese Feder gegeben.
»Ich weiß«, wisperte sie in die Leere der Korridore, während sie rannte, »dass ich recht habe!«
Hinter ihr erklangen schwere Schritte. Eyndor war noch immer hinter ihr. Er verstand sie nicht, aber er folgte ihr wenigstens.
Alex spürte einen Sog aus der Schattenwelt, der stärker wurde, je näher sie der Treppe kam. Der sich in einen Orkan verwandelte, als sie die ersten Stufen nahm und ihr den Zorn der Naturgewalten entgegenschlug, als sie die letzte Stufe hinter sich ließ. Ohne über die Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken, rauschte sie über den Gang, bis sie die Tür zu Anders Gemach sah, warf sich in die Türklinke und stürzte in den dahinterliegenden Raum.
Was ihre Augen dann erblickten, ließ das Blut in ihren Adern gefrieren.
Anders lag in seinem Bett. Über ihm kreiste ein lebendig gewordener Albtraum. Eine Kreatur wie jene, die Alex in ihrem Elternhaus angegriffen hatte, bestehend aus Schatten und Stimmen, zog über ihm schwebend seine Kreise. Die Porzellanhaut des Kerubs strahlte wie Mondlicht. Seine ausgefahrenen Schwingen hingen rechts und links vom Bett herab und ihre Enden zuckten leicht. Anders Gestalt war bewegt, obwohl er schlief. Seine Lider flackerten. Seine Finger zuckten und von seinen halb geöffneten Lippen entwich ein strahlendes Licht hinein ins Innere des Ungeheuers. Was das Monster tat, sah Alex deutlich vor sich: Es entzog Anders seine Kraft. Es saugte ihn aus und labte sich an seiner Macht.
»Alex, geh zur Seite!«
Hinter ihr hörte sie ein Poltern, mit dem Eyndor hereinstürmte. Er griff sich den ersten Gegenstand, den er zu fassen bekam und warf ihn durch den Raum, schmetterte ihn dem Ungeheuer entgegen und bewirkte, dass das Band zwischen ihm und dem Schwarzen Engel für einen Augenblick riss.
»Los!«, brüllte er, riss den Kopf zur Seite und wies Alex mit einer hektischen Geste an, zu Anders zu laufen. »Versuch ihn aufzuwecken! Wir brauchen ihn!« Dann bückte er sich, bekam den langen Kerzenhalter zu fassen, der neben dem Tisch stand und stürmte auf das Ungeheuer zu.
Er schlug zu, wieder und wieder. Aus dem Inneren des Monsters erscholl ein Knurren von unzähligen Stimmen, aber Eyndors Angriff zeigte Wirkung: Das Wesen zog sich langsam zurück.
Indessen gelang es Alex endlich, sich in Bewegung zu setzen. Die Steine, zu denen ihre Beine geworden waren, bewegten sich wieder und gestatten ihr, zum Bett zu laufen. Sie stürzte sich auf die Matratze, packte mit beiden Händen das Schlafhemd des Kerubs und zerrte daran. »Anders!«, rief sie ihm ins Gesicht. »Du musst aufwachen! Wach auf! Mach die Augen auf!«
Seine Lider flackerten. Sein Körper reagierte, doch sein Bewusstsein blieb dunkel. Erst, als Alex ihre Hand auf sein Gesicht legte und ihn mit der zweiten Hand heftig zu schütteln begann, deutete sein Geist die ersten Anzeichen des Erwachens an. Seine Atmung wurde flacher, das Zucken seiner Finger stellte sich ein und seine Hand bewegte sich. Langsam huschte sie hinauf, berührte seine Schläfe und sank hinab auf Alex Finger, die in den Stoff seiner Kleider gekrallt waren. Erneut begannen seine Augenlider zu flackern und diesmal gelang es ihm, sie aufzuschlagen. Ein trüber, finsterer Blick traf Alex und versicherte ihr, dass sie keine Sekunde zu früh gekommen waren. Die Schwäche nagte an ihm und er schien nicht sofort zu verstehen, was um ihn herum geschah.
»Alex?« Was zwischen seinen fiebrigen, aufgesprungenen Lippen hervorsickerte, war kaum als seine Stimme zu erkennen.
Das Mädchen spähte rasch zu Eyndor zurück, der geräuschvoll alles daran setzte, das Ungeheuer von seinem Freund fernzuhalten. Irgendwann, nachdem eine Ewigkeit vergangen schien, und sie die Augen wieder auf Anders richtete, sah sie, wie sich sein Blick langsam klärte.
»Ich weiß, dass du müde bist«, ließ sie ihn wissen, senkte die Finger und strich eine Handvoll loser Haare aus seinem Gesicht. »Ich weiß, du fühlst dich krank und willst nichts und niemanden in deiner Nähe haben, aber ich muss dich bitten, noch einmal all deine Kraft zusammenzunehmen und dieses Ding zu zerstören, bevor es uns zerstört. Ohne dich schaffen wir es nicht.« Obwohl es den Anschein hatte, als würden ihre Worte an ihm abprallen, bemerkte das Mädchen rasch, wie Anders an ihr vorbeilinste und nach Eyndor und dem Ungeheuer suchte. »Tu irgendwas!«
Anders schälte sich aus der Decke, warf die Beine aus dem Bett, und als er endlich aufrecht stand, gewannen Hass und Empörung so rasch die Oberhand, dass ihre Zweifel wie fortgewischt waren. Er hob die Hand, richtete die Innenfläche auf das Wesen und schloss die Augen. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper. Plötzlich war der ganze Raum von Energie erfüllt. Die Luft um ihn herum knisterte. Alex sah, wie sich seine Brust zweimal hob und senkte, und im Anschluss schoss ein Strahl, wie gleißend heller Nebel aus seiner Hand und traf das Schattenwesen unmittelbar ins Zentrum seiner Existenz. Ein schriller Schrei ertönte, gefolgt von einem Knirschen, einem Schaben und Grollen. Dann von Stille. Anders legte nach. Er öffnete den Mund und begann ganz leise Worte in einer Sprache zu sprechen, die dem Mädchen gänzlich unbekannt war. Hartklingende, kantige Worte fielen von seinen Lippen und gruben sich wie Pfeilspitzen ins Herz der Kreatur. Alles in ihr schien zu rebellieren. Sie begehrte auf. Schattenhände stoben aus ihrem Inneren und tasteten nach allem, was sie zu fassen bekamen. Nach Eyndor, nach Alex und Anders selbst. Doch die Macht, die Anders trotz seines geschwächten Zustandes aufbringen konnte, tötete es vor den Augen des Mädchens.
Das Ungeheuer grollte, es fauchte und knurrte, ehe sein Kampf geschlagen war. Es wurde kleiner. Schwarze Nebelfetzen fielen von ihm ab und verringerten seine Masse. Etwas in ihm schien zu sterben und nicht wiederzukehren. Dann, in einem allerletzten Aufbäumen seines Todeskampfes schoss ein Strahl aus dunkler Energie aus seinem Inneren und traf Anders frontal gegen den Brustkorb. Sofort riss der Zauber ab, mit dem Anders seinen Gegner verwundet hatte. Der Kerub ging zu Boden, eine Hand ans Brustbein gepresst, und atmete hörbar ein und aus.
In diesem Augenblick packte Eyndor den Stuhl, riss ihn in die Höhe und schmetterte ihn ins Zentrum des Ungeheuers, welches in einem allerletzten Aufschrei in alle Richtungen zerstreut wurde und sich ins Nichts auflöste. Die dunkle Aura, die den Raum verdunkelte, schmolz dahin. Nur die zurückgelassene Zerstörung erinnerte noch an den Kampf, der hier stattgefunden hatte.
Wie in Trance lief Alex los, las die Engelsfeder vom Tisch auf und eilte zum Fenster, um sie hinauszuwerfen. Erst, als sie diese in der vorherrschenden Dunkelheit nicht mehr ausmachen konnte, fühlte sie, wie sich langsam, unendlich langsam, Erleichterung in ihr breitmachte.
Sie warf das Fenster zu und drehte sich um. Dorthin, wo Eyndor neben dem Krieger in die Hocke sank und ihn nur mühsam wieder aufs Bett hieven konnte. Wie erstarrt sah sie dabei zu, wie Anders einen Kampf kämpfte, der sich ihrem Verständnis gänzlich entzog. Was Anders eben vor ihren Augen getan hatte, war nicht möglich. Er hatte aus seinem Inneren Magie bezogen und mit ihr das Dämonenwesen zerstört. Wie war das möglich? Wie war das zu erklären?
Sie setzte sich in Bewegung. Zu ihm. Ihn um Verzeihung bitten, ehe er realisieren konnte, dass sie an diesem Drama schuld war. Ihre eiskalten, zitternden Finger tasteten nach Anders Hand und kaum, dass sie einander berührten, sah er wieder zu ihr auf. Seine Augen verengten sich und plötzlich ging sein Blick tiefer. Durch ihre Haut, ihre Knochen und Muskeln hinein ins Innere ihrer Seele. Sie fühlte, wie er in unzugängliche Tiefen ihres Wesens vorstieß und wie sein Blick sie auszog, bis sie nichts anderes für ihn war, als eine durchgeknallte Gefühlswelt.
Erst dann zog er sich zurück, ließ sich zurücksinken und flüsterte: »Scheint, als hättest du mich soeben gerettet.«
Und obwohl Alex wusste, dass es eigentlich andersherum war, dass er sie alle gerettet hatte, nickte sie und drückte seine Hand ein wenig fester. »Ich hatte so ein Gefühl..«
»Ein kluges Gefühl«, warf Eyndor ein. Er musterte Anders unsicher und fragte schließlich: »Bist du in Ordnung?«
Der Kerub nickte, doch es war offensichtlich, dass er log. »Würde mir irgendjemand erklären, was hier los ist?«
»Das weiß ich selbst nicht so genau«, erwiderte der Krieger und musterte Alex misstrauisch. »Woher wusstest du, dass-«
»Ich hatte einen furchtbaren Traum«, begann das Mädchen zu erzählen. »Da waren Feuer und Rauch und eine große Schlacht an einer Schlucht. Und ich sah-«
Der Rest des Satzes verebbte in ihrer Kehle. Das letzte Mal, als sie einen so verheißungsvollen Traum gehabt hatte, war alles genauso gekommen, wie sie es gesehen hatte. Eyndor hatte mit Isay eine List ausgehandelt und einen Boten mit einer falschen Nachricht zu Anders geschickt. Alles, war so geschehen.
»Du hast meinen Tod gesehen«, sagte Anders plötzlich ohne Vorwarnung, und noch während er sprach, zog sich ein bitteres Lächeln über seine Lippen.
»Und Eyndors.« Alex seufzte tief. »Ich sah ganz Andhera sterben. Und da war ein Mann, ein Krieger in einer Rüstung, der sagte, du wüsstest, wer er ist. Er hat von einem Geschenk gesprochen, und da dachte ich..«
»Dass ein Fluch darauf liegt.« Anders Lächeln wurde breiter, obgleich ihn die Erschöpfung atemlos machte. »Du bist ein kluges Mädchen, Alexandra.«
»Nicht klug genug, um das Schlimmste verhindern zu können. Ich habe diese Feder mitgebracht, ohne mir irgendetwas dabei zu denken. Ich wusste ja nicht-«
»Aber schnell genug, um rechtzeitig zu sein.« Anders Lächeln schwand. »Du hast ein Unheil gespürt, von dem ich nicht einmal wusste, dass es hier ist. Meine Kräfte sind stärker aus dem Gleichgewicht geraten, als ich dachte. Was hast du in deinem Traum gesehen?«
»Da war eine große Schlacht, die bereits geschlagen war. An einer Schlucht, durch die ein kleiner Bach lief. Alles stand in Flammen und stank nach Rauch. Das Feuer war meilenweit zu sehen. Und dort in der Schlucht sah ich, wie-« Langsam drehte sie den Kopf und warf Eyndor einen vielsagenden Seitenblick zu. »Ich habe gesehen, wie du gestorben bist.«
Verblüfft zog der dunkelhaarige Krieger eine Augenbraue in die Höhe. »Wie?«
»Alles war voller Schattenwesen und du hast mit diesem seltsamen Krieger gekämpft. Er hat dich überrumpelt und die Schatten sind einfach über dich hergefallen.« Alex sah auf zu ihm. Ihre Gedanken drehten sich. Sie wusste, dass es ihre Pflicht war, irgendetwas zu sagen, das den Krieger aufmuntern könnte, doch mit dem Aussprechen dieser grauenvollen Dinge wurden ihr die Bilder wieder in Erinnerung gerufen. All das Leid schlug wie eine Welle über ihr zusammen und drohte sie unnachgiebig unter sich zu begraben. »Es tut mir leid. Aber ich konnte nichts dagegen tun.«
Eyndor nickte, doch Schrecken und Betroffenheit waren ihm anzusehen. »Du kannst ja nichts dafür.«
»Und ich?« Anders setzte sich auf. »Was hast du für mich gesehen?«
»Isay. Du hast zerschunden ausgesehen und in einem Kreis aus Asche gelegen. Als hätte man-« Sie stockte, hielt inne und wusste plötzlich nicht, wie sie ihn auf den Schmerz vorbereiten sollte, den sie in seinen sterbenden Augen gesehen hatte. Und als sie hochblickte, wusste sie, dass er längst verstanden hatte. s steckte ein Dolch in deiner Brust. Und dann sagte dieser Krieger zu mir, dass du seinen Namen kennst.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Da war etwas.. Seltsames und Böses an ihm. Und ich habe gespürt, dass der Tod zu gegen war.«
Anders nickte ihr zu, doch als sie fortfahren wollte, hob er die Hand und brachte Alex zum Schweigen. »Wie hat er ausgesehen, dieser Krieger?«
»Er trug eine Rüstung. Eine schwarze Rüstung. Und einen Helm, der geformt war, wie zwei nach oben gebogene Hörner. Auf seiner Brust war ein Wappen mit zwei Drachen. Einem weißen und einem schwarzen. An mehr kann ich mich nicht erinnern, tut mir leid.« Sie linste zwischen den beiden Kriegern hin und her. Sie waren beide sehr still geworden und tauschten rasch einen kurzen Blick aus. »Weißt du, wer er ist?«
»Nein«, sagte Anders sanft. »Aber ich habe einen Verdacht, der sich unmöglich bewahrheiten darf. Er kämpfte im Namen einer Königin, für die ich etwas übrig hatte. In einer Schlacht ging er mir verloren und ich zog mich zurück.«
»Was wurde aus ihm?«
»Er starb. Der Mann, den du gesehen hast, kann unmöglich dieser Krieger sein.«
»Wieso bist du da so sicher?« Alex seufzte. »Er war sehr überzeugend, und ich-«
»Weil er tot ist. Er ist in dieser Schlacht gefallen. Und Tote kommen nicht zurück.«