Besser, wir sind keine Freunde. Hatte er das wirklich zu ihr gesagt? Nachdem er so erbittert gegen sich selbst gekämpft hatte, wollte er nun alles zu Gunsten eines Krieges hinschmeißen? Hatte er ihr nicht versprochen, da zu sein, wenn sie jemanden brauchte? Sie brauchte ihn! Seine Zuversicht. Seine Weisheit. Seinen Schutz.
»Du grübelst«, riss sie Eyndors Stimme aus den Gedanken. Sie standen vor dem großen Haupttor und Alex wusste abermals nicht, was sie sehen würde, wenn sich die Pforte öffnete. Sie wusste nicht mehr, was sie glauben oder denken sollte. »Was bedrückt dich?«
»Das, was er gesagt hat.«
»Es ist das, was er immer sagt«, wehrte Eyndor ab und stemmte sich kraftvoll gegen das Portal, bis es knarrend nachgab und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit echtes Tageslicht auf Alex Gesicht fiel. »Seit ich ihn kenne, höre ich immerzu die gleichen Floskeln. Komm mir nicht zu nah, ich bin gefährlich. Halt dich von mir fern, Eyndor. Lauf mir nicht nach. Du kannst nicht bei mir bleiben, Eyndor. Ich bringe dich in Gefahr. Mir fehlt die Zeit, mich um deine Gefühle zu sorgen. Es ist immer die selbe Leier.«
»Und dennoch hat er dich zu sich geholt, als du noch ein Kind warst.«
Sie traten hinaus, und obwohl das Sonnenlicht nicht warm war, drang es dem Mädchen bis auf die Seele hinab. Alles fühlte sich auf dieser Wiese freier an. Die Last der schwarzen Mauern drückte sie nicht mehr nieder. Niemand wachte über sie und ihr Blick konnte grenzenlos schweifen. Um an eine Weide zu kommen, jedoch, mussten sie eine Weile den Hügel hinab laufen.
»Ja«, gab Eyndor zurück. »Das hat er wohl. Und ich glaube, er hat mich damit gerettet.«
»Du bist von Mönchen großgezogen worden? Wie alt warst du damals?«
»Ich weiß es nicht. Zehn vielleicht? Von groben, kalten Männern, die aus mir eine Aufgabe und keinen Menschen machen wollten. Ihnen war es gleich, was ich fühlte, was ich wollte, oder wer ich war. Für sie zählte nur, dass ich eines Tages eine Aufgabe bewältigen musste und sie dafür verantwortlich waren, mich vorzubereiten. Meine Kindheit war ein furchtbares, schwarzes Loch aus Lügen und Einsamkeit. Ich besaß keine Freunde und ich wusste nicht, was Leben ist, bis Anders zu mir kam.«
»Und dennoch glaubt er, er hat dich verdammt.«
»Er denkt, ich weiß davon nichts, aber ich weiß, dass er sich schuldig fühlt.«
Alex biss sich auf die Unterlippe. Dies wäre der perfekte Augenblick, um Eyndor in Kenntnis zu setzen, dass seine Bürde Anders Möglichkeit war, ein wenig seiner eigenen Schuld abzutragen. Und hätte sie dem Anders nicht geschworen, dass er es nie erfahren würde, wäre dies der Zeitpunkt gewesen, an dem sie ihm alles erzählt hätte. Nur das Wissen, dass Anders diese Schlacht schlug, um sich und ihn zu befreien, hielt sie davon ab, seinen Wunsch nicht zu respektieren.
Sie bedauerte, dass die beiden ungleichen Krieger beide so unglücklich mit der Situation waren und es einfach nicht fertigbrachten, miteinander zu sprechen.
»Er denkt, er wird sterben«, murmelte das Mädchen und sah zu Eyndor auf. »Ich hab’s in seinen Augen gesehen. Eben gerade und auch neulich in seinem Gemach. Er glaubt, er stirbt für Andhera und danach wird alles wieder gut.«
»Es gibt viele verschiedene Prophezeiungen und auch die, die Isay ihm überbringen ließ, ist irgendwie wahr. Mein drittes Auge hat sich von Isays Fluch noch nicht erholt, aber ehe meine Visionen eingeschlafen sind, habe ich oft kleine Ausschnitte aus einer Zukunft gesehen, in der diese Schlacht vorüber war.«
»Und er war nicht dort«, vermutete das Mädchen.
Das kurzzeitige darauf folgende Schweigen bestätigte ihre Annahme. »Visionen und Vorhersagen sind immer ungenau. Sie basieren auf Umständen, die sich jederzeit ändern können. Anders Zukunft, und auch unsere, ist ungewiss. Aber er glaubt, dass er diese Schlacht nicht überstehen wird.«
»Und du?« Instinktiv langte Alex nach den Fingern des Kriegers und wurde sich dessen erst bewusst, als es bereits geschehen war. Doch diese kleine Geste fühlte sich gut an, und sie gestatte sich diesmal, ihrem Instinkt nachzugeben. »Hast du Angst?«
»Es wäre einfacher, wenn er das hätte, was in der Truhe liegt.« Mit einem Seitenblick musterte er Alex und diese verstand sofort.
Aber es war ausgeschlossen. Anders Worte hallten wie ein dunkles Omen in ihren Ohren nach. Was darin verborgen lag, war vielleicht nicht Segen, sondern Fluch. Eine Waffe, die alles zerstören konnte, wenn der, der sie führte, nicht hinter ihr stand. Und Anders machte Fortschritte, aber bereit für eine solche Schlacht war er nicht.
»Wenn er mich darum bittet und ich fühlte, dass es richtig ist, dann tu ich es.«
»Hältst du es für zu gefährlich, ich verstehe. Und nachdem er dich erst vor Kurzem so grob angepackt, und mich angegriffen hat, kann ich nachvollziehen, weshalb du so denkst. Diese Waffe beschert ihm den Sieg, wenn er sie führen kann. Da er es nicht kann, und sich selbst nicht traut, werden wir alles tun, um ihm den Weg zu bereiten und dann darauf vertrauen, dass in ihm mehr steckt, als er uns glauben machen wollte.« Er schmunzelte. »Ich habe sehr viel Zeit hier verbracht, aber deine Nähe scheint ihm gut zu tun. Mehr, als meine es könnte. Er mag dich. Und ich mag dich auch. Deine Gegenwart ist befreiend, deine Gedanken sind frisch und irgendwie versprühst du Zuversicht, die wir alle gebrauchen können. Ich bin froh, dass du zurück bist. Selbst wenn du dir sicher etwas anderes erhofft hast.«
Alex nickte. »Meine Eltern fehlen mir sehr«, antwortete sie ihm und stieg über eine Unebenheit im Untergrund. »Ich hätte sie gern noch einmal wiedergesehen, Dämonen oder nicht. Aber Anders wird mich nicht zu ihnen lassen, und vielleicht ist es besser so. Jetzt ist das hier mein Zuhause. Und ich hätte es schlechter treffen können. Mit ihm.« Sie blieb stehen, strich sich eine Haarsträhne zurück. »Mit dir. Mit allem hier.«
»Du bist eine außergewöhnliche Persönlichkeit«, fuhr der Krieger unbeirrt fort und Alex konnte sehen, wie er seltsam offen lächelte. »Ich kann gut verstehen, wieso du es sein musstest, die uns rettet. Selbst als Kind warst du sicherlich etwas Besonderes. Anders hat ein Gespür für innere Schönheit.«
»Leider auch für Dunkelheit.«
Alex Gedanken wanderten zu Darias. Sein tragisches Schicksal und sein Tod ließen sie keineswegs kalt. Selbst wenn er nun zurück war und offensichtlich die falschen Ziele verfolgte, wagte sie sich kaum vorzustellen, was er fühlen musste. Zunächst machte Anders einen Krieger aus ihm, lehrte ihn alles, zog ihn zum Mann heran und dann ließ er ihn liegen und überließ ihn seinem Schicksal.
»Auch die.«
»Und du? Welche Rolle wirst du spielen, wenn der Kampf näher rückt?«
Eyndor Lächeln verschwand. Er blieb kurz stehen und musterte das Mädchen, dann senkte er den Blick auf ihre ineinander verschränkten Finger hinab und legte den Kopf zur Seite. »Hast du etwa Angst um mich?«
»Nicht mehr, als um ihn«, sagte sie, doch das war nicht wahr. Tatsächlich bedeutete ihr der junge Mann etwas. Etwas, das sie noch nicht erklären konnte.
Er nickte, doch das Funkeln in seinen Augen sprach eine andere Sprache. »Ich werde bei ihm bleiben, und solange ich kann, für ihn kämpfen. Und für dich. Ich werde der Krieger sein, der ich immer sein sollte und alles tun, um die zu beschützen, die ich liebe. Und wenn ich müsste, würde ich selbst in die Truhe greifen und diese mysteriöse Waffe schwingen.«
»Dann bist du zweifelsohne der edle Mensch, zu dem Anders dich machen wollte.«
»So?« Im zarten Sonnenlicht glänzte Eyndors dunkles Haar. »Hat er das gesagt?«
»Nicht mit Worten.«
Aber er hatte es gesagt. Wieder und wieder. Wann immer Alex das Gespräch auf den jungen Krieger gelenkt hatte, war es Anders gewesen, der von dessen Stärke und Weisheit überzeugt war. Nie hätte er ein schlechtes Wort an ihm gelassen oder seine Motive in Frage gestellt. Weil er, unbewusst oder nicht, so stolz auf Eyndor war, dass ihm die Worte fehlten. In ihrer Welt war Alex oft mit wahrer Liebe konfrontiert worden. Aber die Freundschaft, die sie hier in voller Blüte miterleben durfte, war etwas anders und sprengte jeden Rahmen. Anders und Eyndor waren durch einen dummen Fluch für alle Zeit verbunden, und auch ohne ihn bestünde zwischen ihnen ein seltsames Band.
»Du kannst froh sein, dass er dich im Kindesalter zu sich geholt hat. Du wärst nicht du, wärst du dort geblieben.«
»Oh, das bin ich! Selbst wenn ich nie verstanden habe, wieso er es getan hat. Ich war ihm fremd. Nur irgendein Kind ohne Bedeutung. Wieso rettete er mich und verdammte sich selbst?«
Und da, unter dem matten Licht einer viel zu schwachen Sonne, beantwortete Eyndor die unausgesprochene Frage, die Alex seit ihrem ersten Tage hier beschäftigte. Sie blieb stehen und blinzelte. Ihr Blick glitt über das Gesicht des Kriegers, über sein dunkles Haar und seine funkelnden Augen bis hin zu einem leisen Verdacht, der sich in ihren Gedanken manifestierte und nicht mehr loslassen wollte.
»Er wird seine Gründe gehabt haben. Holen wir die Rinde«, murmelte sie und lief weiter.
Sie löste sich von seiner Hand. Sofort kehrte die Kälte zurück. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass dieses seltsam leere Gefühl vielleicht eine Bedeutung hatte. Aber die hatte es. Alles bedeutete etwas. Und dieses Gefühl machte ihr Angst. Etwas in ihr hatte sich Eyndor auserkoren. Er war nicht der Traumprinz, viel zu alt und nicht die Art Mann, von der die immer geträumt hatte, aber er war aufrichtig und besaß so viel innere Stärke und Schönheit, dass sie fror, wenn er sich von ihr entfernte.
Trübsinnig verfiel sie in Schweigen und stapfte hinter ihm her. Was war nur los mit ihr? Wieso fühlte sie sich plötzlich so klein und nichtig?