Alex schlang ihre Furcht hinunter. »Hier«, sagte sie und vermied jeden Blickkontakt mit den großen Spiegeln, die wie leblose Wächter um sie herum standen. Gemeinsam hatten er und Eyndor drei von ihnen nach unten gebracht und um kleinsten Raum des Schlosses an drei der vier Wände gelehnt, sodass sie nahezu vollständig von Spiegeln umgeben waren. »Ich fühle mich unwohl dabei.«
»Ich auch.« Anders zuckte die Achseln. »Aber es ist schwierig, etwas über den Feind in Erfahrung zu bringen, wenn man nicht weiß, wo er sich befindet. Unsere Möglichkeiten sind begrenzt.«
»Können wir nicht gemeinsam gehen?« Mit einem Seufzen sah sich das Mädchen in dem kargen Zimmer um. »Wenn etwas schief läuft, dann bin ich in der Lage durch jeden Spiegel zu flüchten, und ich kann dich sogar mitnehmen.«
Es sollte spontan klingen, aber tatsächlich hatten sie und Eyndor in der vergangenen Nacht lange beieinandergesessen und darüber nachgedacht, wie gefährlich es war, ihn alleine gehen zu lassen. Und nach einer langen Diskussion, die darin gipfelte, dass Alex dem jungen Mann zeigte, wie man eine Münze warf, entschieden sie schließlich, dass es besser wäre, wenn Alex mit Anders ging. Sie musste zurück zurückhalten und vorsichtig sein, aber würde er verletzt oder geschah irgendetwas, womit sie nicht rechnen konnten, besaß sie Eyndor gegenüber den entscheidenden Vorteil, dass sie einen Ausweg kannte, auf dem ihnen niemand folgen konnte. Ja, plötzlich schien alles klar und einfach zu sein. Sie stiegen in diesen Traum, fanden heraus was Darias bezweckte und verschwanden ungesehen.
»Sie hat natürlich Recht«, warf Eyndor ein. »Und du weißt das. Ich komme hier gut allein zurecht. Was soll schon passieren? Ich flöße euch regelmäßig den Trank ein, damit ihr dort bleiben könnt überwache euren Schlaf. Und wenn sich etwas verändert..« Demonstrativ klopfte er auf die massivhölzerne Tischplatte. »Dann hole ich euch zurück.«
»Alex.« Anders flüchtete sich in ein Lächeln. »Ich brauche dich hier. Dieser Zauber wirkt nur in eine Richtung und ich bin der Einzige, der diese Tür aufstoßen kann. Ich brauche dich hier, weil ich nicht beides gleichzeitig tun kann. Ich kann vielleicht nicht den Zauber durchführen und schauen, was auf der anderen Seite geschieht. Vielleicht werde ich mich, wenn ich zurückkehre, nicht einmal an das erinnern, was ich gesehen habe. Dieser Zauber ist kompliziert, und ich kenne ihn nicht. Ich brauche dich vielleicht hier, um mich zu erinnern.«
»Dann wird es so sein wie das, was du neulich getan hast?«
»Ähnlich. Ich spüre Darias auf und was auch immer er sieht, werde ich auch sehen. Vielleicht werde ich dort sein, vielleicht nicht. Die Wege der Magie sind nicht immer einfach, vorauszusagen.« Anders nickte. »Aber ein Zauber dieser Größe ist schwierig und nicht leicht zu stemmen. Ich werde vieles vergessen, wenn ich zurückkehre. Deshalb musst du bei mir bleiben und sehen, was ich sehe.«
»Dann.. gehst du nicht wirklich dort hinüber? Waren wir auch noch hier, als wir dort drüben waren?«
»Wir haben das Schloss nie verlassen.«
»Also wirst du einfach hier sitzen und ich werde mit dir in den Spiegel schauen, während Eyndor auf uns beide aufpasst?«
»So in etwa.« Wortkarg wandte sich der Anders ab und begann, die letzten Vorkehrungen zu treffen, die darin bestanden, sich vor den in der Mitte positionierten Spiegel zu knien und seinem eigenen Abbild entgegen zu blicken. »Es ist eine rein mentale Verbindung zwischen mir und diesem Zauber. Viel mehr weiß ich selbst nicht.« Sein Spiegelbild sah zu Eyndor hoch. »Es wird Zeit.«
Sofort huschte dieser fort und Anders machte sich langsam mit dem Spiegel vertraut.
»Wieso hast du ihn damals zu dir geholt?«, fragte das Mädchen und verschränkte hinter ihm die Arme vor der Brust. »Was bedeutet dir ein Kind, das du bis dahin nicht gekannt hast und für das du nicht verantwortlich warst? Wieso bekam er diese Bürde aufgehalst, und nicht du?«
»Alex, das ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um-«
»Versprichst du mir, dass du es mir sagen wirst, wenn das hier vorüber ist?«
Sie brannte ihren Blick in den seines Spiegelbildes, und obwohl ihm ihre Bitte sichtlich missfiel, nickte er. »Einverstanden. Aber ich muss mich jetzt konzentrieren.«
Deshalb schloss er die Augen und sogleich begann sich sein Körper in jenes seltsame Licht zu hüllen, das Alex schon mehrmals an ihm gesehen hatte. Das erste Mal oben im Turm, in seinem versteckten Spiegelzimmer, das zweite Mal, als er ihr das Leben gerettet hatte, und zuletzt, als er mit Alex durch den Spiegel sah. Waren es letztendlich Spiegel, die diese Macht auf ihn ausübten?
Gleich darauf kehrte Eyndor zurück. In seiner Hand brodelte der Tod ein jeden Geruchssinns. Das Zauberelixier, das er über den Tag hinweg gebraut hatte, roch nach Morast, und als Alex einen Blick darauf erhaschen konnte, bemerkte sie rasch, dass es auch danach aussah. Angewidert verzog sie das Gesicht und wandte den Kopf ab, als Anders das Gebräu entgegennahm, kurz daran roch, dann aber den ersten Schluck nahm.
»Wenn ich das trinke«, fuhr er fort, »weiß ich nicht, wie lange es dauert, bis ich weg bin oder wie lange es dauern wird, mich zurückzuholen. Ich kenne die genaue Wirkungsweise dieses Spruches nicht. Dieser Zauber ist Neuland für mich. Ich lege den Zeitpunkt meiner Rückkehr in eure Hände. Ihr wisst, was zu tun ist. Habt ihr noch Fragen an mich?«
Alex seufzte. »Kann es schiefgehen?«
»Nicht, wenn ihr euch an das haltet, was wir besprochen haben. Sobald wir wissen, was wir wissen müssen, holt ihr mich zurück. Da ich nicht wirklich dort bin, kann Darias mich zwar bemerken, wenn ich nicht vorsichtig bin, aber er kann mir nichts antun und mich nicht verletzen. Mir kann nichts geschehen.«
»Sei vorsichtig«, sagte Eyndor zu ihm. »Wir sehen uns gleich wieder.«
Mit einem Nicken leerte Anders den Becher in einem Zug und schickte sich an, ihn danach auf den Boden zu stellen, doch die vernichtende Wirkung des Zaubers setzte augenblicklich ein und überrollte ihn wie eine Welle aus Magie. Ein Krampf schüttelte ihn und ließ den Becher geräuschvoll aus seinen Fingern gleiten und auf den Steinen zerschellen. Sein Körper sank ein Stück nach vorn, so weit, dass seine Hände das Glas berührten und der Spiegel augenblicklich seine Macht demonstrierte und den Zauber in Gang setzte. Lautlos und langsam begann sich die Oberfläche des Spiegels zu verflüssigen. Winzige Tentakeln aus flüssigem Glas huschten über die, sich in winzigen Wellen bewegende, Spiegelhaut und schlängelten sich um seine auf dem Spiegel liegenden Hände. Wie zischelnde Schlangen wanden sie sich seine Arme bis zu seinen Schultern hinauf und ließen ihn nicht mehr los.
»Anders!«, rief Alex aus, und wollte losstürzen, doch Eyndor hielt sie zurück.
Weitere, zum Leben erwachte Spiegelfragmente verflüssigten sich zu langen Fäden, die Nadeln dünn und krochen auf Anders zu, um sich mit einem schleifenden Geräusch in seine Brust zu bohren. Er schrie nicht, aber seine Atmung setzte aus und fuhr dann wie gewohnt fort. Er bekam nicht mit, dass ihn einzelne Teile des Spiegels aufgespießt und durchdrungen hatten und vielleicht, dachte das Mädchen, bereitete ihm nichts von alledem Schmerzen, weil es nur Teil des Zaubers und nicht wirklich war.
»Vertrau ihm. Tu, was er gesagt hat. Schau zu. Und sag mir, was du siehst.«
In diesem Augenblick brach das Bewusstsein des Kerubs ein. Wie ein Vogel, der zum Licht hinauf flog, löste sich sein Geist von seinem Körper. In dieser Welt konnte Alex nichts davon sehen, aber im Spiegel stellte sich seine Seele als blasses, weißes Wölkchen da, das durch das sich windende Glas im Inneren des Instruments verschwand, während der Spiegel mit Anders Körper verschmolzen blieb.
»Wenn er gelogen hat, und das Spuren hinterlässt«, sagte Alex, riss sich von Eyndor los und lief zu Anders, um zu tun, um was er sie gebeten hatte, »dann bringe ich ihn eigenhändig um!« Sanft berührte sie sein Gesicht und bemerkte, dass seine Augen nicht ganz geschlossen waren. Ihr Blick ging tiefer. Dorthin, wo die winzigen Speerspitzen aus dem Inneren des Spiegels in seine Brust eingedrungen waren. Er blutete nicht, und nichts deutete darauf hin, dass er schwer verwundet war. »Kannst du mich hören?«
Seine Lippen öffneten sich leicht, als wollte er irgendetwas sagen, doch kein Laut kam über seine Lippen und dann setzten die Bilder ein. Alex wandte den Kopf und sah, wie sich auf der in Bewegung geratenen Spiegelhaut die Umrisse eines Korridors abzeichneten. Sie erkannte Steine, die Wände bildeten, Steine, die Mauern und Böden und Decke zeichneten. Ein an den Rändern leicht verschwommener Gang tat sich vor ihren Augen auf.
»Kannst du das sehen?«, fragte sie. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie Eyndor den Kopf schütteln.
»Ich sehe gar nichts.«
Also behielt Anders Recht mit seiner Annahme, dass Alex die Einzige war, die ihm bei dieser Aufgabe helfen konnte.
»Was siehst du?«, hakte Eyndor nach und kam bis auf wenige Schritte an den Spiegel heran. Auch ohne ihn anzusehen spürte Alex seine Anspannung, seine Sorge und das Wissen, dass er überhaupt nichts tun konnte.
»Einen Korridor.« Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Alex klarer zu erkennen, was sie mit Anders magischer Unterstützung durch dessen Augen sehen konnte. »In einer Festung oder einem Schloss, oder..« Eine Gestalt kam um die Ecke. Ein Mann in einem dunklen Gewand mit einem Gesicht, das nicht das eines Menschen war. Schwarzes, zotteliges Fell wuchs auf seinen Wangen, seinem Hals und seiner Stirn. Er war ein Dämon. »Ich glaube, es ist Isays Schloss.«