»Es gibt einen Pfad unterhalb des Schlosses, auf dem wir ungesehen ins Schlossinnere gelangen können, den offensichtlichen Weg durch das Haupttor, das gut bewacht sein und damit beinahe unüberwindbar wird, und den Weg durch die Luft, den Nuin uns hiermit eröffnet.« Eyndor tippte mit dem Stock, den er in der Hand hielt, gegen seinen Schuh und blickte gedankenverloren auf die Zeichnung, die er in die Erde gezeichnet hatte. »Das sind die drei Möglichkeiten, die uns bleiben. Nutzen wir sie alle, zwingen wir Isay dazu, seine Männer aufzuteilen und erhöhen unsere Chancen, dass es einem von uns gelingt, zu Anders vorzudringen.« Er hob den Stock an und zeichnete einen Punkt, der alle Variablen seines Plans miteinander verband. »Anders zu befreien hat oberste Priorität, ganz gleich, was im Schloss geschieht. Wir brauchen ihn, und ich bin entschlossen, ihn Isay wegzunehmen.«
»Isay ist ein Fuchs«, warf Reyndra ein, während er die Zeichnung zu seinen Füßen musterte. »Nuin könnte uns tatsächlich einen entscheidenden Vorteil verschaffen, weil Isay nichts von ihm weiß. Aber dich und das Mädchen wird er erwarten. Somit scheidet das Haupttor gänzlich aus.« Flink nahm er Eyndor den Stab aus der Hand und zog einen Querstrich durch das Wort TOR. »Es wäre Selbstmord, einen so offensichtlichen Versuch zu starten, ins Schloss zu gelangen. Und für mich hat ebenso viel Bedeutung, dass wir alle lebend zurückkehren. Wenn wir Anders befreien können, aber einer von uns sein Leben lassen muss, gewinnen wir nichts.«
»Wir gewinnen immerhin das Leben des einzigen uns bekannten Wesens, das in der Lage ist, die Zerstörung unserer Welt aufzuhalten.«
»Was nichts daran ändert, dass er nicht wollen würde, dass du dein Leben für ihn lässt!« Reyndra reichte Eyndor den Stab zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg. »Wir dürfen nicht voreilig handeln, sonst verlieren wir mehr, als wir gewinnen können.«
Natürlich hatte er Recht. Alex hatte bislang kein Wort gesprochen. Sie hielt sich zurück, weil die Stimmung angespannt war, und sie deutlich fühlen konnte, wie Eyndors Laune mit jedem Wort weiter sank, das Reyndra ihm entgegenbrachte. Dabei schien der in die Jahre gekommene Krieger der Einzige zu sein, der in der Lage war, ihre Situation komplett und allumfassend zu überblicken. Wie ein geübter Stratege ging er in Gedanken wieder und wieder alle Möglichkeiten durch und scheute sich nicht davor, Eyndor in die Schranken zu weisen. Mit dem jungen Krieger gingen die Gefühle durch, wann immer er eine Möglichkeit witterte, seinem Freund zu Hilfe zu eilen. Und ohne Reyndras Hilfe hätte sich das Mädchen große Sorgen um ihn machen müssen, denn sie zweifelte nicht daran, dass er sein Schwert greifen und in einen Kampf stürmen würde, den er unmöglich gewinnen konnte.
Vorsichtig sah sie zu ihm auf und bemerkte, dass seine Kiefer lautlos mahlten. Seine Anspannung war ihm anzusehen und er kämpfte nicht mehr dagegen an.
»Wie viel Zeit muss denn noch verstreichen, ehe wir handeln?«, begehrte Eyndor hitzig auf, und offenbarte Alex gegenüber erstmals sein hitziges Gemüt. Und wie er da so stand, mit seinem dunklen Haar, den feurigen Augen und einer Entschlossenheit im Blick, die einen Feind das Fürchten lehren konnte, sah er aus wie Anders. Wusste er, dass sie einander so furchtbar ähnlich waren? »Ich kann spüren, dass es in der Erde brodelt. Und wenn wir Anders verlieren, verlieren wir alles.«
»Wie genau soll es ihm eigentlich möglich sein, Andhera zu retten?«, flüsterte Alex Nuin zu, während sich Eyndor und Reyndra ein erregtes Wortgefecht lieferten.
»Mittels Magie«, erwiderte der Greif. »Es ist ein Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, und angeblich hat nur er die Macht dazu, ihn zu führen.«
»Ja, aber ich meine.. wie? Wie bekämpft man etwas, das man nicht sehen kann?«
»In vielen kleinen Teilschritten, nehme ich an. Die Schattenwesen vernichten, Isay bezwingen, die Wunden Andheras heilen. So etwas in der Art.« Er schmunzelte, schaute zu den Kriegern hinüber und deutete ein Nicken in ihre Richtung an. »Niemand weiß es, aber wollen eine Meinung dazu haben. Aber ich denke, es geht nur zweitrangig um diesen Krieg. Eyndor will einen Freund retten. Und du?«
»Ich auch«, gestand Alex mit einem müden Lächeln. »Als ich erfahren habe, wer er ist, hat er sich mir gegenüber furchtbar benommen. Er war gemein und launisch, er hat mit meinen Gefühlen gespielt und mich bewusst manipuliert. Aber es wurde besser mit jedem Tag. Und ich konnte hinter den Schein blicken und ein Wesen erkennen, das sich hinter Lügen und Trugbildern versteckt. Wenn wir Anders retten, möchte ich erfahren, wer er wirklich ist, und ob das Wesen, das Eyndor so sehr verehrt, noch irgendwo in ihm steckt.«
»Denkst du das wirklich?« Der Greif legte den Kopf schief. »Eyndor ist vielleicht verblendet.«
»Ich denke, dass der Schwarze Prinz eine Wahrheit in sich trägt, die er bisher nicht aussprechen konnte, aber in ihm ist Gutes. Ich konnte es sehen, als er Eyndor und mir zur Rettung verhalf.« Sie schluckte einen Kloß hinunter. »Als er sah, was Isay mit uns vorhatte, lag in seinem Blick eine tiefe Entschlossenheit. Ich sah deutlich, wie viel Mühe ihn diese Entscheidung kostete und was sie ihm abverlangte. Und ich hätte nie darum gebeten. Aber er hat aus freien Stücken entschieden, dass wir diejenigen sein sollen, die entkommen und war bereit den Preis dafür zu zahlen. Das Monster, das in ihm lauert, ist nicht immer stark, und wenn er Rückhalt erhält, wenn wir ihn zurück ins Licht ziehen können, dann halte ich ihn tatsächlich für einen Mann, der wahrhaft Großes vollbringen kann. Er-« Alex hielt inne, als sie bemerkte, dass die Gespräche um sie herum verstummt waren, und warf einen Blick zu Eyndor hinüber, der diesen wortlos erwiderte.
Er hatte jedes Wort gehört.
»Alex hat recht«, murmelte er. »Was wir brauchen, ist Zusammenhalt. Wir müssen Anders stärken, egal wo wir sind. Es tut mir leid.« Er griff sich an die Stirn und schüttelte erbost über seine Erregung den Kopf. »Verzeih mir, Reyndra. Aber ich bin müde, und ich hatte so sehr auf eine einfache Lösung gehofft, dass ich das wichtigste Ziel aus den Augen verloren habe. Konzentrieren wir uns auf die Fakten. Und da Alex schon dabei war..« seufzend vollführte er eine einladende Geste und sagte: »Bitte, fahr fort.«
»Isay wird Anders so lange nichts antun, wie er ihn braucht«, sagte das Mädchen. »Somit wissen wir eines sicher: Es geht dem Schwarzen Engel gut. Sein Leben ist nicht unmittelbar in Gefahr und er ist klug genug, um es nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen.« Ihr Blick suchte Rückhalt in den unbewegten Gesichtern ihrer Freunde. Und tatsächlich! Dort hinter dem Frust, der Hilflosigkeit und dem Verdruss fand sie nickende Bestätigung. »Ich glaube an ihn, so sehr, wie er an uns glaubte.« Heimlich streckte sie die Hand aus, langte nach Eyndors Fingern und huschte an seine Seite. »Und das eröffnet uns den vierten Weg.« Alex runzelte die Stirn und warf einen Blick in die Runde. »Den, den Eyndor bewusst ausgelassen hat. Mich. Ich kann durch den Spiegel gehen und direkt ins Schloss gelangen.«
Plötzlich schwiegen alle um sie herum. Eine seltsame Form der Stille hielt Einzug in ihre Runde und mit einem Mal fühlte sich das Mädchen, als würde sie mit dem Rücken an der Wand stehen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie ihre seltsamen Fähigkeiten totgeschwiegen und versteckt. Doch nun, hier im Angesicht einer schier aussichtslosen Situation, schienen sie endlich einen Sinn zu ergeben. Dies war vielleicht die Berufung, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte. Der eine Moment, an dem aus einem Fluch eine Gabe wurde.
Sie atmete durch und musterte nacheinander die verhaltenen Gesichter ihrer Freunde, ehe sie den Mut fand, tief in sich zu gehen und endlich die Worte auszusprechen, die wie ein Feuer in ihr schwelten: »Ich bin die Einzige, die unbemerkt ins Schloss gelangen kann. Das ist der Grund dafür, dass ich hier bin und vielleicht sogar, weshalb Anders mich einst erwählte, den Schlüssel zu seinem Herzen zu bewachen.«
»Alex, das ist Irrsinn«, warf Eyndor entmutigt ein. »Ich weiß, du willst helfen, aber-«
»Ich will nicht helfen«, wehrte sie ab. »Ich bin die einzige Option. Die einzige Möglichkeit, ihm den kostbarsten Besitz aus den Fingern zu reißen, und du weißt es. Ihr alle wisst es. Ihr habt mich bewusst ausgelassen, weil keiner von euch den Mut hat, mich darum zu bitten. Das müsst ihr auch gar nicht. Ich tu es freiwillig.« Sie neigte sich vor, entwendete Eyndor aus seiner freien Hand den Stock und schrieb einen Namen in die Erde. Alex. »Das sind unsere Möglichkeiten: Nuin startet einen offensichtlichen Angriff aus der Luft, der einen Teil der Wachen ablenken wird. Er wird Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Reyndra gelangt durch den unterirdischen Gang ins Innere des Schlosses. Isay kennt diesen Weg nicht, und sobald er dort ist, wird Anders seine Anwesenheit spüren. Dass er weiß, was in seiner Festung geschieht, ist unser entscheidender Vorteil.« Sie holte tief Luft und tippte auf das Wort HAUPTTOR, das Eyndor geschrieben hatte. »Und Eyndor übernimmt das Portal. Wenn Isay dich sieht, wird er nach mir nicht suchen.« Sie nickte dem Krieger zu. »Indessen gehe ich durch den Spiegel hinab ins Verlies und befreie Anders.« Sie ließ den Stab fallen, stemmte die Hände in die Hüfte und musterte die Krieger nacheinander. »Ihr wisst, dass das unsere einzige Möglichkeit ist.«
»Sagte ich nicht, dass das Haupttor quasi uneinnehmbar ist?«, fragte Eyndor misstrauisch. Seine Stirn lag in tiefen Sorgenfalten, während seine Finger ihre ungewollt kräftig drückten. »Das Schloss steht oben auf einem Hügel. Schon wenn ich mich ihm näher, wird Isay davon erfahren und mich abwehren, ehe ich es erreicht habe.«
Alex sah auf. Ein Lächeln breitete sich über ihren Lippen aus. In ihren verworrenen Gedanken kehrte langsam Ordnung ein. Ein kleiner, aber feiner Plan reifte hinter ihrer Stirn heran. »Und was, wenn ich vielleicht wüsste, wo wir einen waschechten Drachen herbekommen könnten?«
»Einen Drachen?«, wiederholten Reyndra und Eyndor wie aus einem Munde.
Alex wies zu Nuin herüber. »Als Nuin, Anders und ich uns dem schwarzen Schloss näherten, griff uns ein Drache an. Anders blieb zurück, um ihn aufzuhalten. Isay hat uns dieses Ungeheuer auf den Hals gehetzt, aber ich vermute, dass er sich immer in der Nähe des Schlosses aufhält. Also, wäre ein Drache dazu imstande, dich durch das Portal zu bringen?«
Auf Eyndor Lippen erschien ein spitzbübisches Grinsen. »Alexandra«, feixte er, » für ein kleines Erdenmädchen hast du es faustdick hinter den Ohren!«
»Ich weiß«, erwiderte sie zwinkernd. »Was glaubst du? Kann es funktionieren?«
»Hat denn schon jemals irgendeiner deiner seltsamen Pläne nicht funktioniert?«
»Dann zeig mir, wie ich mich verteidigen kann, wenn mir jemand im Schloss begegnet. Und dann befreien wir Anders.«