Es knallte. Die Kiste schlug hart auf den Boden und das Echo brach sich an den dunklen Wänden.
»Verdammt!«, fuhr Darias auf. »Seid vorsichtig! Darin befindet sich etwas, dessen Wert ihr kaum ermessen könnt! Wohin bringt ihr die Truhe?«
Die beiden Dämonen, die die Holzkiste geschleppt hatten, duckten sich unter seiner drohend erhobenen Hand fort, grunzten kurz und fassten angespannt nach den Griffen, um sie wieder in die Höhe zu stemmen.
»Es tut mir leid, Herr«, wimmerte eine der Kreaturen. »Ins Verlies. Isay will es so.«
Darias ließ die Finger sinken. »So? Und weshalb erfahre ich davon nichts?« Er grollte innerlich. »Tut, was er euch befohlen hat. Ich komme sofort nach!« Isay wusste, dass er dem Kerub gegenüber nur so lange im Vorteil war, wie dieser in Ketten lag und im Kerker saß. Dass er nun angeordnet hatte, die Truhe zu Anders bringen zu lassen, war mit Sicherheit kein Zufall. Und es verärgerte den Krieger, denn Isay hatte es wieder einmal nicht für nötig gehalten, sein Vorhaben mit ihm abzusprechen.
Rasch wandte der Krieger sich ab, machte kehrt und stapfte den Gang hinunter. Dieses Schloss engte ihn ein und raubte ihm den letzten Funken Individualität, der ihm noch geblieben war. Er wusste nicht, wohin ihn sein Weg führen würde und konnte nur erahnen, wohin es Isay verschlagen hatte. Aber es stand außer Frage, dass er ihn finden musste. In seinem Magen krampfte ein unliebsames Gefühl. Es drängte ihn. Sie hatten einen Pakt geschlossen, der besagte, dass er Anders ihm überlassen würde, sobald er in Besitz dessen war, was sich in der Truhe befand. Aber nun schienen sich die Pläne des Dämons aus irgendeinem Grund geändert zu haben. Und er musste wissen, was diese Abwandlung seines Vorhabens für ihn selbst bedeutete.
»Wo ist Isay?«, fragte er den ersten Krieger, der ihm vor die Nase kam, packte diesen am Kragen und schüttelte ihn zweimal. »Hast du ihn gesehen?«
Der dunkelhaarige Mann nickte angespannt, drehte sich im Griff des Kriegers und deutete den Gang hinab, auf das Zimmer zu, in dem Isay den Schwarzen Engel festgesetzt hatte. Darias ließ den Mann los, schenkte ihm ein grimmiges Nicken und durchstreifte den Korridor, bis er den Raum erreicht hatte und einen Blick hinein warf. Isay saß dort, während unzählige Kerzen das Zimmer erhellten und starrte nachdenklich dem großen Spiegel entgegen, vor dem sich erst vor wenigen Tagen sein Schicksal offenbart hatte. Als er näherkam bemerkte er, wie sich der Blick des Spiegel-Egos des Dämons hob und an sein Gesicht heftete. »Darias!«, entfuhr es ihm. In einer gleitenden Bewegung fuhr das Schattenwesen herum, öffnete die Arme und winkte ihn herbei. »Komm herein, schließ die Augen und atme die Präsenz einer Macht, die all deine Wünsche erfüllen kann.« Symbolisch schloss er die Augen und atmete tief die staubige Luft ein, die schwer innerhalb der Mauern zirkulierte. »Kannst du fühlen, wie stark der Zauber war, der hier gesprochen wurde?«
»Ich habe ihn gesehen«, fauchte der Krieger mit düsterer Miene und ließ den Blick einmal über den Spiegel schweifen. »Nur meinetwegen hast du bekommen, wonach du dich so lange verzehrt hast!«
»Und du ahnst kaum, wie dankbar ich dir für diesen Dienst bin.« Isay zuckte die Achseln, hob die Hand und streich mit dem Zeigefinger über den Spiegel. Sein Finger zeichnete dabei eine Spur über das Glas. »Ich selbst habe mein Leben lang bedauert, dass es Kreaturen gibt, die über die Gabe verfügen, sich diese wunderschönen Gegenstände zu Willen zu machen, ich selbst aber nie dazugehörte. Diese grenzenlose und reine Bindung zwischen dieser und allen anderen Welten wird mir immer versagt bleiben. In zehn Jahren konnte ich Anders nicht dazu bringen, von dieser Macht Gebrauch zu machen. Dir hingegen ist es in wenigen Tagen gelungen.«
»Und mein Lohn?«
Isays Lächeln wurde breiter. »Den sollst du erhalten.«
»Du versprachst mir das Leben des Schwarzen Engels, wenn ich dir helfe, in den Besitz der Truhe zu gelangen. Wie viel ist dein Wort wert?«
Düster musterte er den Dämon und dieser ließ seine wilden Augen aufblitzten. »Die Dinge haben sich geändert«, erwiderte er tonlos. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass dieser Plan so hervorragend funktionieren würde.«
»Du versprachst mir, ihn mir zu überlassen, sobald du die Truhe in deinem Besitz hast! Ich warte schon eine halbe Ewigkeit, darauf, dass-«
»Ich habe den Plan geändert!«, begehrte Isay auf und stampfte mit Nachdruck einen Stiefel auf den Steinboden. »Wie kannst du nur nicht verstehen, wie groß unser Vorhaben ist? Du und ich, wir waren uns einig, dass wir die Grundfesten seiner Existenz erschüttern wollen! Wir waren uns einig, dass seine Vernichtung unumstößlich ist!«
Schnaubend hob Darias den Arm und wies auf den Korridor hinaus. »Ich bin Krieger!«, gab er zurück. »Was ich wollte, war die Möglichkeit, mit der Qual abzuschließen, die ich durch Anders Hand erleiden musste! Nicht mehr und nicht weniger bezweckte mein kleiner Racheakt. Und du brichst unseren Pakt und trampelst auf meinem Stolz herum, als hätte er kein Gewicht! Sein Leben gehört mir!«
»Und jetzt gehört es mir.« Isays Grinsen wurde breiter und verwandelte sich in etwas Düsteres. »Mach nicht den Fehler, zu vergessen, dass es mein Magier war, der dich aus der Verdammnis zurückgeholt und dir ein zweites Leben geschenkt hat. Ein Wort von mir genügt, und er nimmt es dir wieder fort.«
»Ist er bei ihm?«, fragte der Krieger und erschauderte bei diesem Gedanken. »Hast du ihn auf den Schwarzen Engel losgelassen?«
Isay nickte wortlos. »Um die Kiste zu öffnen, und Anders zu bezwingen, gibt es keinen anderen Weg.«
Ein aufwallendes Gefühl blinder Wut breitete sich in der Brust des jungen Kriegers aus. Allein der Gedanke an den finsteren Magier schürte Zorn und Abscheu in seinem Herzen. Er war Zeuge der Abscheulichkeiten geworden, die dieser Mann in Isays Namen begangen hatte.
Darias fuhr auf dem Absatz herum und stürzte aus dem Raum. Hinter sich hörte er Schritte und spürte, wie Isay ihm folgte. Doch Darias beschleunigte, stapfte die große Treppe hinab und durchquerte die Eingangshalle.
»Darias!«, rief Isay ihm nach. »Warte. Lass mich erklären, was-«
Gebieterisch hob der Krieger die Hand und hastete weiter. »Ich bin der Erklärungen überdrüssig geworden«, gab er zurück, öffnete die schwere Tür und stieg die vielen Stufen ins Verlies hinab.
Auch hier folgte Isay ihm. Darias musste Anders sehen. Jetzt. Sofort. Er ließ sich nicht beirren und setzte seinen Weg fort, bis er Stimmen, Knurren und Rascheln hören konnte und, je näher er kam, desto deutlicher wurde ihm, wie sehr Isay ihn hintergangen hatte. Er nahm in die letzte Stufe und sein Blick streifte die Zelle des Kerubs. Die Gittertür stand offen. Isays Magier, ein schwarz gewandeter Mann, der niemals sein Gesicht zeigte und Darias, seit er ihn zurückgeholt hatte, bei jeder Begegnung eisige Schauer über den Rücken jagte, hatte sich im Dunkel positioniert, die Hand dem Kerub entgegengereckt.
Er wirkte, als würde er sich neben der Zeit befinden. Wie ein blinder Fleck auf Andheras Netzhaut. Etwas, das nicht hier sein sollte, und so sehr vor Finsternis strotzte, dass es Zeit und Raum um sich krümmen konnte. Die Kraft, die seinen Finger entströmte, war wild, war schwarz und zerstörerisch. Einen Schutz gab es nicht.
Anders Schwingen waren gespreizt und schützend um die Truhe und sich selbst gelegt, als würde diese Geste sie beide vor der Stärke des Magiers bewahren. Aber das tat sie nicht, und ihm war anzusehen, dass er das, was der Fremde mit ihm anstellte, nicht unendlich lange ertragen konnte.
»Hört sofort auf!«, hörte Darias plötzlich seine eigene Stimme von den Wänden widerhallen. Raschen Schrittes betrat der Krieger das winzige Verlies, warf den davor befindlichen Wachen einen äußerst feindseligen Blick zu und stellte sich unmittelbar vor den Gefangenen, den eigenen Kriegern in den Weg. Anders Widerstand verebbte sichtlich. Erst, als Darias unbewusst den Blickkontakt des Magiers unterbrach, schöpfte Anders langsam neue Kraft aus der Stille. Aber er tat nichts, um sich oder die Truhe zu verteidigen.
»Wieso kämpfst du nicht?«, fragte der Krieger leise und warf aus den Augenwinkeln einen Blick auf den Engel zurück.
Anders musterte ihn berechnend. Seine Atmung ging schwer. »Weil ich weder dir, noch Isay, oder diesem magischen Scheusal, diesen Sieg über mich gönne.«
»Ich wusste nichts von alledem«, sagte Darias tonlos. »Und ganz gleich, was ich für ein Monster bin, ich hätte es auch nicht zugelassen! Du kennst mich. Das hier habe ich gewiss nicht gewollt, und dem hätte ich mich niemals zur Verfügung gestellt.« Er neigte sich leicht zurück, suchte Anders Blick und hielt ihn gefangen. »Du hast mein Wort.«
»Das Wort eines Mannes, der sich einer grausamen Waffe bedienen muss, um sich hierher zu wagen«, erwiderte Anders eiskalt und deutete ein Nicken in Richtung des Magiers an, »ist weniger wert als das eines Dämons, der mit offenen Karten spielt. Du hast meine Gefühle gegenüber jenen ausgebeutet, die mir etwas bedeuten. Ich weiß nicht, ob ich dich noch kenne.«
Seine Magie wirkte gedämpft, durch irgendetwas, das der Zauberer mit ihm anstellte.
Aus den Augenwinkeln heraus erhaschte der junge Krieger einen Blick auf die Truhe. »Was ist da drin? Ich wollte ein Schwert auf dein Herz richten, und dich nicht mit unlauteren Mitteln schlagen.«
»Du musst dein Schwert nur in die Kiste rammen.« Anders schnaubte. Ein bitterböses Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken. »Es liegt da drin und pocht vor sich hin. Stich dein Schwert hinein, und du bekommst die Rache, nach der du dich verzehrst.«
»Genug!« Isays donnernde Stimme brach den Zauber der Feindseligkeit, der ihnen auszubrechen drohte. Geschwind schob sich der Dämon ins Innere der Zelle, packte Darias am Arm und zog ihn zurück, während dieser nicht in der Lage war, sich von Anders abzuwenden. »Ist das wahr?«, fragte er.
»Ja, das ist es.« Isay schmunzelte, zog den Krieger so weit zurück, bis die ihm folgenden Wachen die Gittertür schließen konnten, ohne sie einzusperren und ließ ihn dann erst los. »Wer hätte das gedacht? Die einzige Waffe, die laut meiner Seher in der Lage dazu ist, mich zu Fall zu bringen, ist das Herz eines gefallenen Engels.« Er musterte Darias mit schwer zu deutender Miene, hob die Hand und klopfte selbigen auf die Schulter. »Ein Tag voller Offenbarungen, nicht wahr?«
»Was wir tun, ist falsch!«, gab Darias erbost zurück. »Ich war niemals feige.«
»Lieber feige und am Leben«, entgegnete Isay, während er sich hinter dem Krieger hervor schob und breit grinsend in Anders Richtung schaute, »als stolz und tot. Die Kiste bleibt hier! Ich will, dass sie beide rund um die Uhr bewacht werden. Jede Veränderung wird mir augenblicklich mitgeteilt!« Seine Augen taxierten Anders. »Schau mich nicht so vorwurfsvoll an! Du hättest alles haben können, wenn du den Mut gehabt hättest, zu dem zu stehen, was du bist. Du bist ein Dämon, genau wie ich. All das Gerede vom Guten in dir, von den göttlichen Prophezeiungen und die Gerüchte über die Macht, die du auf diese Welt haben sollst, sind Unfug. Du hättest alles haben können, und bekommst nun nichts, weil du vergessen hast, was uns ausmacht. Wir sind Jäger und Krieger. Wir ziehen uns keine Freunde heran und wir dienen keiner höheren Macht, die uns zu beherrschen wagt. Dass du hier bist, ist allein dein Fehler, und du wirst alle Konsequenzen mit voller Härte tragen. Verabschiede dich von allem, was dir heilig ist. Bald bleibt nichts übrig von alledem.Es gibt jemanden, der dafür sorgen kann, dass dir kein Geheimnis und kein Zauber mehr bleibt. Du da!« Drohend hob er den Finger und wies auf einen der Krieger, deren Gesichter von Helmen verborgen waren, hinter deren Sichtschlitzen nur Augen hervorblickten. »Du übernimmst die erste Wache.« In seinem Gesicht loderte die Bestie auf, die unter seinen Knochen ihre Klauen wetzte. »Ich will niemanden in der Nähe des Gefangenen wissen.« Sein Blick streifte Darias, ehe er dem Magier einen wortlosen Befehl gab, woraufhin sich dieser tief verneigte und langsam zurückzog. »Nicht einmal dich, mein Freund. Morgen ist ein großer Tag, Anders! Morgen zeige ich dir, zu was Magie im Stande ist.«
Unter seiner Haut schwelte der Zorn. Isay drehte sich um und Anders nutzte die Gelegenheit, ein letztes Mal Darias Blick zu suchen. Der junge Krieger strotzte nur so vor Rachsucht, vor Zorn, vor Wut und Zweifel. Hatte er wirklich geglaubt, dass Isay sein Wort halten würde? Dachte er tatsächlich, mit dem Dämon Geschäfte zu machen, würde irgendetwas von ihm übrig lassen?
»Glaub mir oder nicht«, warf er in den Raum, »aber das war nicht, was ich wollte!«
»Das«, sagte Anders zu ihm und musterte die Kiste angewidert, »ist was Hass aus uns macht. Hast du wirklich gedacht, du könntest einem Dämon trauen, der einen Krieger im Schlaf überwältigt?«
»Auch davon wusste ich nichts. Isay wollte die Truhe. Und nur die Truhe. Dass er dich festnehmen lässt, konnte ich nicht ahnen.«
Anders schnaubte. Ein bitteres Lächeln zog sich über seine Lippen, ehe er endlich die Kraft fand, auf die unscheinbare Holzkiste hinabzusehen. Mühsam machte er einen Schritt auf sie zu, bevor er ganz langsam in die Hocke sank und zum allerersten Mal, seit er sich damals das Herz herausgerissen hatte, die Hand danach ausstreckte. »Es ist gleich, was du geglaubt oder gewollt hast«, erwiderte er kühl. »Was wir tun bestimmt, wer wir sind.« Zitternd fuhr seine Hand über die Eisenbeschläge, mit denen die Truhe verschlossen war. »Mit einem einzigen Atemzug«, fuhr er fort, »verliere ich alles, wofür ich einstehen wollte. Und alles nur wegen eines kleinen Herzens in einer großen Kiste.«
Darias neigte den Kopf. Er sah zu dem Krieger zurück, den Isay zur Wache abgestellt hatte und trat an die Gittertür heran. Seine Finger schlangen sich um die kalten Eisenstangen. »Was hat dich gezwungen, den Dämon wegzusperren?«
»Die Liebe eines Mannes«, murmelte der Engel gedankenverloren, »zu allem, was ihm geblieben ist.«
»Du hast es für Eyndor getan. Wieso? Was besitzt er, was ich nie für dich haben konnte? Du hast ihn mir immer vorgezogen. Immer. Wieso?«
»Gerade du müsstest es verstehen. Ich hatte keine Wahl. Er ist mein Sohn. Und Blut ist immer dicker als Wasser.« Mit diesen Worten hob er das letzte Mal den Kopf, um den Krieger anzuschauen, versank dann vollends in Gedanken und driftete ab. Seine Augen blieben auf der Kiste hängen und plötzlich spielte die Welt um ihn herum keine Rolle mehr. Nichts von alledem. Nicht Darias, nicht Isay, nicht der Dämon, der ihm zum ersten Mal seit einer Ewigkeit näher war, denn je. Einfach nichts.
Darias wandte sich ab. Er ballte die Hände zu Fäusten. In ihm schwelte der Zorn und mit einem Mal wusste er nicht, ob er sich weiterhin beherrschen konnte.
»Alex?«
Das Mädchen blinzelte der Sonne entgegen. Ihre Umgebung war unscharf gezeichnet.
»Alex!«
Langsam drehte sie den Kopf und sah zu Eyndor hinüber. »Träumst du schon wieder?«, fragte er sie mit gerunzelter Stirn.
Das Mädchen nickte. »Ich denke schon..«
Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Manchmal kann ich nicht verstehen, wo du mit deinen Gedanken bist. Hast du vergessen, dass wir einen Drachen aufspüren wollten?«
Kopfschüttelnd blinzelte Alex die letzten Fetzen ihres Tagtraums fort und sah, wie sich der Krieger langsam abwandte und in die andere Richtung entschwand. Er war Anders Sohn. Und er wusste nichts davon.