Da stand sie nun: angespannt, bleich und mit zittrigen Fingern, kaum fähig, die letzten Stufen hinter sich zu bringen. Doch sie spürte, dass er da war. Dass er wie ein Raubtier hinter der schweren Holztür auf sie warten würde. Seit Minuten stand sie dort, reglos, und hielt den Atem an, unwissend, ob ihr wild schlagendes Herz sie nicht längst verraten hatte.
Nur noch eine Handvoll Schritte lagen zwischen ihr und ihrem Fleisch gewordenen Albtraum. Und dann, kaum, dass sie den Entschluss gefasst hatte, endlich weiterzugehen, war die Stille plötzlich von leisen Stimmen erfüllt.
»Es ist sehr lange her«, sagte jemand, und es war nicht Anders. Die Stimme klang weiblich, hell und weich. »Du siehst müde aus.«
»Spotte ruhig über mich«, erwiderte eine zweite Stimme. Anders. Seine Stimme ließ dem Mädchen die Nackenhaare zu Berge stehen. »All dein Hohn bedeutet mir nichts. Was willst du hier?«
»Ich wollte sehen, wie es dir ergangen ist«, erwiderte die Frauenstimme glockenhell. Sie klang weder feindlich, noch distanziert und dennoch konnte Alex die Autorität in ihr fühlen. »Ich wollte dich sehen, und erfahren, ob ich irgendetwas tun kann, um dir zu helfen.«
»Um mir zu helfen«, wiederholte der Krähenprinz, ehe ein tiefes, dunkles Lachen seine Kehle verließ. »Du? Nach allem, was du mir angetan hast?«
»Ich habe dir gar nichts angetan. Das warst du selbst. Und wie ich erkennen muss«, sagte die Stimme seufzend, »bist du noch immer uneinsichtig. Hast du nichts daraus gelernt, dass man dir das Wertvollste genommen hat? Hast du nicht gelernt, demütig zu sein und dankbar für alles, was du noch besitzt? Ich habe dir erlaubt, den jungen Mann zu retten, weil ich dachte, eine freundliche Geste meinerseits würde deinen harten Kern dahinschmelzen lassen. Was ist nur aus dir geworden?«
»Ist es das, was du willst?«, hakte der Kerub feindselig nach. Auch wenn Alex ihn nicht sehen konnte, spürte sie, wie seine Wut den Raum erfüllte. Wer würde es wagen, sich ihm in den Weg zu stellen? »Mich gefügig machen? Glaubst du wirklich, ich könnte dir, nach all den Jahren noch vertrauen und auf deine Hilfe hoffen? Ich glaube an gar nichts. Allem voran, nicht an dich.«
»Und aus diesem Grund wirst du keine Erlösung erfahren. Niemand wird dir helfen können. Du würdest die Wahrheit nicht einmal erkennen, wenn sie direkt vor deiner Nase liegt. Du hast vergessen, wer du bist, wer du warst, und du hast mich belogen, Anders. Deshalb bist du hier, und deshalb kann ich dir nicht helfen.«
»Niemand hat je davon gesprochen, dass ich deine Hilfe will«, fauchte Anders erregt. Selbst durch die Tür hindurch war sein Zorn spürbar. »Geh einfach. Ich habe nichts für dich, und du bist mir ein Dorn im Auge.«
Urplötzlich drohte sich die Stimmung hinter der Tür zu wandeln. Alex konnte etwas aufwallen fühlen. Etwas Großes, Mächtiges, das Anders zurückdrängen wollte. Eine seltsame, aber gewaltige Macht erhob sich hinter der Wand zu neuem Leben und wischte mit einem Schlag die Autorität des Schattenprinzen beiseite. Das Mädchen konnte etwas hören, das wie ein Knurren klang und eindeutig zu Anders gehörte, und dann war die Magie, die das Zimmer überschwemmte, plötzlich so reines Licht, das es unter der Tür hindurch auf den Flur hinaus sickerte.
»Hüte deine Zunge, mein Freund!« Die Frauenstimme hatte sich erhoben und schien nun von einer echohaften Macht umgeben zu sein. »Vergiss nicht, wer dich in diese Situation gebracht hast. Du allein trägst Schuld an deinen Strafen und denen deiner Liebsten. Du bist der Grund dafür, dass dein einziger Freund dem Feind in die Hände fiel und du allein wirst den Preis all der Summen deiner Sünden zahlen.« Der Sog verebbte, und Alex sah, wie das unter der Tür durchdringende Licht erlosch. »Aber ich erkenne ehrfürchtig an, dass du das Mädchen ganz ohne Hintergedanken gerettet hast, und vergebe dir deine unwissenden Worte.« Schritte erklangen, leise und tapsig, wie die eines Tieres. Jemand, oder etwas, tänzelte durch das Zimmer. »Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Alles um dich herum geht verloren, und wenn du nicht sehr schnell lernst, jemandem zu vertrauen, wird dein Kampf bald geschlagen sein, und du und alle, die du liebst, für immer verloren.« Wieder hörte Alex die Frauenstimme seufzen. »Du kannst mich jederzeit rufen. Bitte vergiss nicht, dass ich dir immer eine Freundin sein werde, wenn du mich brauchst.«
»Verlass mein Reich«, ertönte Anders Stimme gelassen, ruhig, erfüllt von tödlichem Zorn und rasender Ruhe. »Sofort.«
»Gut.« Die weibliche Stimme klang traurig, fast ein wenig mitgenommen. »Aber mein Angebot gilt. Und sobald du verstanden hast, dass nur du dein Feind bist, scheu dich nicht, mich zu rufen. Ich wünschte, es wäre für uns beide leichter.«
Anders grollte. »Ich werde dich nicht noch einmal zum Gehen auffordern.«
Kurz darauf hörte Alex noch einmal leise Schritte, und dann Stille. Wie angewurzelt stand sie, mit dem Tablett in der Hand vor der Tür, und wusste nicht, was sie da eben gehört hatte. Wem gehörte die Stimme? Wer um alles in der Welt konnte neben Isay so viel Macht auf den Kerub ausüben?
Langsam senkte sie den Blick auf die dampfende Suppenschale, von der ein wenig übergeschwappt war. Ihre Finger zitterten und das Pochen ihres Herzens hallte durch ihren ganzen Körper. Anders war aufgebracht. Sein Zorn flackerte wie eine schwarze Welle über das Schloss hinweg und drang wie unsichtbarer Nebel unter der Tür hindurch.
Der Zeitpunkt war denkbar schlecht, um das Gespräch mit ihm zu suchen und dennoch wusste sie nicht, wie viele Möglichkeiten sie noch dazubekommen würde. Anders war ein so zerrissenes, jähzorniges und doch gefährlich kontrolliertes Geschöpf, dass ein ruhiges Gespräch mit ihm quasi niemals möglich war.
Und ehe Alex sich ihrer Taten bewusst war, hatte sie das Tablett auf die rechte Hand gehievt, die Linke gehoben und an die Tür geklopft. Der darauf folgende Augenblick war einer der schlimmsten ihres kurzen Lebens. Was erwartete sie? Dass die Tür aufflog und ihr der ganze Zorn des Kerubs entgegenschlug? Dass er sie anschreien und erneut in Angst und Schrecken versetzen würde?
Nichts von alledem geschah. Kurz nachdem sie angeklopft hatte, erklangen Schritte. Die Klinke wurde hinabgedrückt, und als die Tür aufschwang, stand Anders plötzlich vor ihr.
Seine Miene war finster. Schatten lagen auf seinem Gesicht. Seine Bernsteinaugen funkelten verräterisch.
Er setzte zu einem wütenden Grollen an, als er das Mädchen erkannte und sein Zorn augenblicklich verrauchte, als wäre er niemals da gewesen.
»Alex«, sagte er erstaunt. Mit großen Augen musterte er sie fragend. Dass sie hier war, schien ihn zu verwirren. In seiner Stimme war keine Spur von Feindseligkeit mehr zu hören. Langsam gab er die Tür frei, drehte sich halb zur Seite und wies mit einer Hand in das Gemach hinter sich. »Komm rein. Aber du hast dir einen sehr unvorteilhaften Augenblick ausgesucht, um das Gespräch mit mir zu suchen.«
Rasch lief Alex an ihm vorüber. Eine Welle ihres panischen Herzschlages schwappte auf Anders über, und so drehte er sich, behutsam langsam herum, um die Tür zu schließen, ehe er ihr einen seltsam kontrollierten Blick schenkte, und zusah, wie das Mädchen das Tablett auf dem kleinen Holztisch am Fenster abstellte.
»Es wird nicht lange dauern.«
»Was«, setzte er an, während er die Arme vor der Brust verschränkte, »kann ich für dich tun?«
Seine Raubtieraugen folgten jeder Geste des Mädchens. Analysierend sah er ihr zu, wie sie die Suppenschale vom Tablett nahm und auf den Tisch stellte. Er verfolgte aufmerksam, wie Alex Finger nach de Löffel griffen und ihn ebenfalls auf die Holzplatte legten. Was sah er wohl, wenn er sie anblickte? Spürte er ihre Unsicherheit? Wusste er, dass sie sich die allergrößte Mühe gab, ihre Angst zu unterdrücken? Und bemerkte er, wie erfolglos sie damit war? Hatte er deshalb, kaum dass er die Tür geöffnet hatte, seine Schwingen verschwinden lassen, um wieder der Mann zu sein, den sie von früher kannte?
Alex spürte die wachsamen Augen des größten Raubtiers auf sich liegen, dem sie je begegnet war. Und doch war er ihr vertraut. Nicht weil er ihr Leben gerettet hatte, sondern weil er Anders war. Und auch, weil seine übernatürliche Anmut verschwunden war. Er war blass und unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Was Eyndor gesagt hatte, stimmte. Die Fluchmagie des Engelsschwertes kämpfte unerbittlich mit ihm.
»Ich weiß, dass du mich gerettet hast«, begann das Mädchen, drehte sich um und zog die dunkle Feder hervor, die es nach dem Erwachen bei sich getragen hatte. Sorgsam bettete es diese auf den Tisch und faltete die Hände im Schoß. »Ich weiß, dass du mir gefolgt bist, nachdem ich weggelaufen bin. Du bist mir in meine Welt nachgegangen und hast dieses Wesen in die Flucht geschlagen. Ohne deine Hilfe hätte dieser Tag sehr übel für mich enden können.«
»Und jetzt fühlst du dich verpflichtet dazu, mir zu sagen, dass du meine Hilfe nicht gebraucht hast«, vermutete der Kerub. Sein Blick musterte sie vom Scheitel bis zu den Zehen. Was er wohl sehen würde? Ein bleiches Mädchen, das zitterte und voller Angst dem Feind gegenüberstand? »Ist es das, was du willst? Den Mann zurechtrücken, der dir dein kostbares kleines Leben weggenommen hat?«
»Nein.« Ohne sich abzuwenden, wischte Alex ihre verschwitzten Finger an ihrer Hose ab. »Ich bin hier, um mich dafür zu bedanken. Glaub mir, oder nicht, aber dieses kleine, kostbare Leben hat alles für mich bedeutet.«
Der Kerub zog eine Augenbraue nach oben. »Hat Eyndor dich hergeschickt?«
»Er hat mir erzählt, dass du mir nachgestürmt bist. Ich weiß von dem Schwert und den Konsequenzen, die du nun zu tragen hast. Du hast schon besser susgesehen.« Seltsamerweise schienen Anders diese Worte aufzumuntern. Immerhin die Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf seinen müden Zügdn. »Außerdem weiß ich zu schätzen, was du das für mich getan hast, auch wenn ich dir keinen Grund dazu gegeben habe.« Mit einem Seufzen suchte sie nach Worten. »Deine Motive sind mir zwar nicht klar, aber ich weiß, dass du mir mehr als einmal das Leben gerettet hast, und dafür möchte ich dir danken.«
Zwischen ihnen herrschte plötzlich betretenes Schweigen. Anders Miene war undurchsichtig. Seine Augen waren verengt, er beobachtete sie. Und doch zog sich die Härte ganz langsam aus seinem Blick zurück. Etwas in seinem Gesicht wollte sich entspannen. »Nicht der Rede wert«, erwiderte er schließlich. »Es ist gut, dich wohlauf zu sehen.«
Er wandte sich ab, drehte sich der Tür zu und wollte nach der Klinke greifen, als Alex erneut den Mund öffnete. »Und ich werde nicht mehr weglaufen«, fügte sie hastig hinzu. »Ich werde hierbleiben und deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen.«
Seine ausgestreckte Hand verlor an Spannung. Plötzlich schien sein Interesse geweckt. Sein Kopf ruckte herum, sein Blick heftete sich aufmerksam an ihre Gestalt. »Ach wirklich? Ist das so?«
»Ich habe keinen Ort mehr, an den ich gehen kann«, erwiderte Alex aufrichtig. In ihrer Stimme konnte man den Kloß hören, den sie nicht mehr hinunterschlucken konnte. »Ich habe keine Familie mehr, bei der ich Schutz suchen kann, und ich kenne niemanden in dieser Welt, außer Nuin, dir und Eyndor. Du hast mein Leben gerettet, aber meine Familie ist für immer verloren. Wohin sollte ich laufen? Ich werde bei dir bleiben, und ich werde nichts tun, um dir zu schaden. Wenn du willst, wirst du mich nicht einmal bemerken. Du brauchst nichts und niemanden mehr, um mich zu halten. Darauf gebe ich dir mein Wort, wenn es das ist, was du wünschst.«
»Ich verstehe«, entgegnete Anders wachsam. »Und im Gegenzug möchtest du, dass ich den Greifen auf freien Fuß setze.«
Natürlich roch er den Braten. Was hatte sie auch erwartet?
Das Herz des Mädchens begann zu bollern. Würde er ihr helfen? War wirklich noch Gutes in ihm oder war sie lediglich von seiner Rettung verblendet?
Steckte in Anders noch immer ein aufrechter Mann, oder belagerte nur Finsternis sein Herz?
»Es gibt keinen Grund dazu, ihn festzuhalten, wenn ich nirgendwohin gehen kann, um vor dir zu fliehen. Und da du auf deine eigene Art scheinbar nur das Beste für mich willst, gibt es auch keinen Grund für mich mehr, vor dir wegzulaufen.« Sie nickte ihm zu und suchte vergebens in seinem Blick nach der Wahrheit, die sie so dringend brauchte. Würde er Nuin die Freiheit schenken? War sein Vertrauen in ihr Wort stark genug, um seine Zweifel zu bezwingen? »Er wird dir nicht schaden. Gib ihm nur sein Leben zurück, und ich gebe dir mein Wort, dass ich bei dir bleibe.«Alex wusste, dass sie wie das Reh in der Falle saß. Es gab keinen Grund, weshalb Anders ihr diesen Wunsch gewähren sollte, und dennoch sah sie ein kleines Erwachen in seinem harten Blick. »Was hat deine Meinung geändert?«
»Du hast gewusst, dass ich dir nicht helfen würde. Du dachtest, dein Kampf sei für immer verloren und meine Entscheidung, dir nicht zu helfen, unumgänglich, und doch bist du mir nachgelaufen und hast mein Leben gerettet.« Das Mädchen straffte sich, hob den Blick und trat dem Engel so stolz entgegen, wie es ihm nur möglich war. »Du bist nicht mehr der Mann, der damals an meinem Bett saß, und mich trösten wollte. Du bist auch nicht mehr der Mann, der mich in dieser Welt willkommen geheißen und gebeten hat, vor dem Krähenprinzen davonzulaufen. Und vielleicht hat es diesen Menschen auch niemals gegeben, oder es ist dir gelungen, ihn zu töten. Aber dass du mir zur Hilfe gekommen bist, ohne etwas im Gegenzug von mir zu verlangen ist Beweis genug, dass noch immer etwas Gutes in dir steckt. Du kannst es leugnen und verstecken, oder eine Lüge nennen, aber ich glaube daran, dass du nicht völlig verloren bist, auch wenn du es vielleicht selbst glauben magst. Eyndor vertraut auf dich und deine Fähigkeiten, das Richtige zu tun. Ich habe einen Funken Licht in dir geweckt, ganz gleich, wie beharrlich du es leugnen willst. Irgendwo in deinem Wesen versteckt sich Güte. Und ich will lernen, dir zu vertrauen. Also? Haben wir einen Pakt?«
»Also gut.« Anders musterte sie eisern, und obwohl das Thema für ihn damit beendet schien, und er nichts dazu mehr sagen wollte, sah Alex doch einen Funken Erleichterung in seiner harten Miene erwachen. »Ich erfülle deinen Wunsch. Er kann gehen. Ich werde jemanden anweisen, mit dir hinabzugehen. Du wirst dich verabschieden wollen.«
Alex nickte. »Das würde ich gerne.« Während Anders gesprochen hatte, war ihr Herz zu einem Metronom geworden, das viel zu schnell einen Takt verfolgte, den sie bislang kaum gekannt hatte.
War das sein Ernst? Er würde Nuin auf freien Fuß setzen und ihr erlauben, ihn noch einmal zu sehen?
Als sie aufsah, spürte sie denfragenden Blick des Kerubs auf sich. Anders verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. Lässig ließ er sein wachsames Auge kreisen. »Mir scheint«, ließ er sie wissen, »das ist nicht alles, was dir auf der Zunge liegt. Du hast nur keinen Mut, es auszusprechen.«
Mit einem Mal schloss er die Augen und Alex fühlte deutlich seinen Geist nach ihrem tasten. Selbst, wenn sie geglaubt hätte, es gäbe einen Weg, sich vor ihm zu verschließen, so wusste sie doch, dass sie die Kraft dazu nicht besaß. Er war so schnell in sie hineingefahren, dass jeder Widerstand zwecklos erschien. Es gab kein Entkommen vor ihm.
Ich habe dir gar nichts angetan. Das warst du selbst. Plötzlich konnte sie ihre eigenen Erinnerungen wie ein Echo in den Tiefen ihres Gehörgangs wahrnehmen. Anders war durch sie hindurchgedrungen und hatte all die Fragen gefunden, die sie quälten. Wieso hatte er sie gerettet? Was lag ihm an Eyndor? Wieso hatte er dessen Bürde auf sich geladen? Und wo war seine Seele?
»Mh«, hörte sie ihn machen, während er sich schleppend aus ihrem Bewusstsein zurückzog. »Du hast mich belauscht.«
Eine Feststellung, nicht mehr. Kein Zorn, keine Wut in seiner Stimme.
Es kümmerte ihn nicht.
»Und?«, fragte sie, doch ihre Stimme bebte. »Ist es wahr?«
»Es ist alles wahr«, antwortete Anders gelassen und schlug die Augen auf. »Ich habe dich gerettet, weil ich dir ein Leben schuldig war. Durch meine Schuld wurdest du in diesen Kampf verwickelt, und es macht mich wütend, dir diese Bürde aufgeladen zu haben. Solange dieser Krieg tobt, wirst du ein Teil davon sein. Das ist meine Schuld, und es nagt an mir. Erneut. Ich nehme an, Eyndor hat es sich nicht nehmen lassen, dir unsere Vorgeschichte zu erzählen? Was er sagte, ist nur die halbe Wahrheit. Sein und mein Leben sind seit unserer ersten Begegnung miteinander verbunden. Es war weder Schicksal, noch Bestimmung. Dass ihm diese Bürde aufgehalst wurde, ist meine Schuld, und ich bin der Einzige, der sie tragen sollte.« In den Untiefen seiner Bernsteinaugen mischte sich Selbsthass mit Kälte und Wut. Die Intensität seines Blickes wandelte sich in Feuer und drohte, Alex zu verbrennen, wenn sie nicht wagte, fortzusehen. Doch sie war zu weit gegangen, hatte sich zu nah an den Teufel herangewagt, um nun umzukehren.
»Wieso?«
»Als ich in Andhera erwachte, gab es nichts mehr, woran mir lag. All meine Erinnerungen waren fort. Ich weiß, ich habe furchtbare Dinge getan, und bin dafür verbannt und bestraft worden, aber ich kann mich an rein gar nichts von alledem mehr erinnern. Ich wusste nichts von mir und nichts von der Welt. Ich war verletzt und der Körper, den ich mir geliehen habe, blutete aus unzähligen Wunden, die ich aus meiner Verbannung mitgebracht hatte. Doch als ich spürte, dass ich sterben würde, fand mich eine Frau. Ein liebreizendes Wesen von sanfter und schöner Natur. Sie pflegte mich gesund und lehrte mich nicht nur, was Dankbarkeit ist, sondern auch wie man Liebe und Angst empfindet. Ich habe mein Herz an sie verloren und wünschte, ihre Zeit wäre nicht begrenzt gewesen. Sie zeigte mir eine Welt, die es wert war, erhalten und geliebt zu werden. Eine Welt, die rau und grausam, aber auch wunderschön war und unglaubliche Dinge hervorbringen konnte. Sie lehrte mich, was es heißt, eine Heimat zu haben, und ein Leben. Aber das Schicksal strafte uns schnell. Sie wurde krank und starb. Und ich lernte, wie es ist, jemanden zu verlieren, den man liebt. An diesem Tag bin ich mit ihr gestorben, und kein Glück bringt mir das Licht zurück, das ihr Dahinscheiden aus meinem Leben genommen hat. Ich beschwor alle Mächte der Finsternis herauf, die mir bekannt waren, und versprach ihnen meine Seele und mein Leben für einen Fluch, der jedes Wesen auf dieser Welt ins Unglück stürzen würde, so wie mich ihr Tod. In das gleiche Leid, das ich Tag für Tag empfinde, seit sie nicht mehr bei mir ist.«
Alex Magen krampfte, ihre Hände zitterten so sehr, dass sie sie hinter ihrem Rücken verbergen musste. Das war Anders großes Geheimnis und seine Verbindung mit dem Untergang Andheras. Das war, was ihm die Frauenstimme vorgeworfen hatte, und weshalb dieser Krieg nach ihm verlangte.
»Also hast du den Zauber heraufbeschworen, der die Schattenwesen freigelassen hat und den Tod Andheras bedeutet«, vermutete sie und musste erstmals das Gesicht von ihm abwenden. »Und die Götter haben dich gestraft, indem sie ein unschuldiges Wesen mit der Aufgabe betrauten, dein Chaos zu bereinigen. Deine Strafe war, mit ansehen zu müssen, wie Eyndor deine Schlacht schlägt?« Anders nickte. »Mit wem hast du gesprochen, ehe ich hereinkam?«
»Mit einer Göttin.« Die Lippen des Kerubs kräuselten sich zu einem diabolischen Grinsen. »Die Einzige von ihnen, die glaubte, meine Seele wäre eine Rettung wert. Bis ich Eyndor aufsuchte, und den Plan der Götter durch mein Eingreifen zerstörte. Sie war nicht angetan von dieser Idee. Aber sie verachtet mich nicht so, wie die anderen. Sie hat mir ihren Beistand entsagt, weil ihr meine Methoden missfallen und sie mich für nicht sehr kooperativ hält. Seitdem drehe ich mich im Kreis, denn ich kann mir selbst nicht vertrauen und weiß um das Dunkel, das in meiner Seele wohnt. Ich bin zu tief in meinen eigenen Flüchen gefangen, als dass ich frei von Schuld in einen Krieg ziehen könnte, den ich selbst heraufbeschworen habe.«
»Weiß er davon?«
Sie bezog sich auf Eyndor. Wüsste er von Anders Taten, wäre sein Vertrauen wohl kaum so unerschütterlich, wie es war.
»Nein.« Anders Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Und er wird es nicht erfahren. Du solltest jetzt gehen. Da ist ein finsteres Untier in mir, das mehr als alles andere möchte, dass ich dir Schaden zufüge, weil ich selbst verletzt wurde. Und ich will das dünne Band, das wir eben knüpfen, nicht durch meine lose Zunge gefährden.«
»Wegen des Schwertes? Eyndor hat mir davon erzählt, und ich-«
Er drehte sich von dem Mädchen fort und es spürte, wie etwas ungleich Finsteres sich seiner Seele bemächtigte. Das Dunkle, von dem er immer wieder sprach, und das ein unabwendbarer Teil seines Wesens war, tastete so sehr nach ihm, dass er ihren Anblick keine Sekunde länger ertragen konnte.
Langsam hob er die Hand. »Alex, du solltest jetzt wirklich gehen. Wir reden ein anderes Mal weiter.«
Vor ihren Augen drohte seine Seele zu zersplittern und Alex wusste instinktiv, dass dies ein Nachbeben des Schwertzaubers war, der sich seines Körpers bemächtigt hatte, als er in ihrem Namen das Engelsschwert geschwungen hatte. Dies war das Nachbeben der Macht, von der Eyndor gesprochen hatte. Der Grund, weshalb sich Anders zurückgezogen hatte.
»Anders..«
»Wenn du mir sagen willst, dass du meine Truhe nicht öffnen kannst, auch nachdem ich dich gerettet habe,«, begann dieser eisig, »dann spar dir deinen Atem. Ich will nicht, dass du sie öffnest. Im Gegenteil. Sie muss verschlossen bleiben. Das, was darin ist, darf nie befreit werden.« Er langte nach der Feder, die Alex auf den Tisch gelegt hatte und strich mit dem Zeigefinger darüber. Seine Augen tasteten nach ihren, und plötzlich war nur Schwärze darin. »Ich erwarte keine Vergebung von dir. Und ich bin alles andere als erpicht darauf, den Inhalt dieser Truhe noch einmal wiederzusehen.«
Seine Worte ließen Alex aufhorchen. Sie kniff die Augen zusammen und lauschte in sich hinein. Wenn Anders eine Waffe besaß, die den Krieg entscheiden konnte, wieso wollte er sie dann nicht nutzen? Noch einmal? Bedeutete dies, dass er besagte Waffe schon einmal einsetzen musste? Fürchtete er deshalb ihre Macht?
»Ich habe Eyndor den Schlüssel gegeben.« Einen Augenblick hielt das Mädchen den Atem an, um abzuwarten, was geschah. Doch als Anders sie bloß schweigend ansah, fuhr sie betreten fort: »Ich weiß, du möchtest gerne, dass ich die Heldin bin, die du in meinem kindlichen Ich gesehen hast. Die eine Person, die dir im letzten Augenblick zur Seite steht. Aber das bin ich nicht. Und du wirst nie der strahlende Held sein, der ganz Andhera rettet. Ich kenne Geschichten wie diese. Aber wir sind kein Teil einer epischen Legende. Wir sind nur Verlierer, die nicht anwesend waren, als das Glück verteilt wurde. Niemand hilft uns.«
»Ich akzeptiere deine Entscheidung«, erwiderte der Kerub ruhig. Ihre Worte schienen ihn nicht einmal zu verletzen. »Wenn du ehrlich zu dir bist, hast du sie schon lange getroffen.«
»Vielleicht..,« begann sie zaghaft, »wird der Tag kommen, an dem wir doch heldenhaft sein können.«
Abrupt wandte sich der Dämon gänzlich dem Fenster zu und aus seinen Schulterblättern sprossen wie im Zeitraffer erfasst die mächtigen Vogelschwingen hervor und legten sich wie einen Mantel um seine Gestalt. »Eines Tages vielleicht. Aber nicht heute. Du solltest deinem Freund Lebewohl sagen.« Seine Augen hatten sich an einen Punkt irgendwo in der Ferne geheftet. »Lass mich alleine. Sag ihm, er hat nichts vor mir zu befürchten. Ich werde ihm niemanden nachschicken, ihn nicht beobachten oder verfolgen. Er ist frei, und verdankt diese Gnade deinem riesengroßen Herzen. Eine Heldentat hast du bereits begangen, Alexandra.«
Alex gehorchte, und zum ersten Mal, glaubte sie tatsächlich daran, dass Anders das Richtige tat. Vielleicht versteckte sich irgendwo in ihm doch noch der Mann, den sie einst in ihm gesehen hatte.
Sie nickte ihm zu und drehte sich um. »Ich danke dir.«