Anders hatte sich setzen müssen. Obwohl sein Innerstes ruhig und seine Gedanken geordnet waren, hatten ihm die letzten Stunden zugesetzt. Alex formte seine Gedanken neu. Das Mädchen gab ihm Rätsel auf, die seinem Verstand unlösbar erschienen.
Er war müde. Mehr, als er sich eingestehen wollte. Spielerisch drehte er den Siegelring in den Fingern, ehe er zu dem Boten hinübersah, der mit ineinander gefalteten Händen vor ihm stand und den Blick demütig gesenkt hielt.
»Und du versicherst mir«, fuhr er nach einer Weile fort, »dass dies die Nachricht ist, die Eyndor selbst dich überbringen lässt?«
Nervös nickte der Bote. »Ja, Herr.« Seine Stimme klang brüchig und Anders entging nicht, dass seine Finger schwitzten und er versuchte, sie unbemerkt an seiner Robe abzuwischen. Doch Reaktionen wie diese waren für ihn zur Gewohnheit geworden und er maß diesen Dingen heute weniger Bedeutung zu. »Er hat im Traum gesehen, dass Euch ein Kind der Anderswelt den Tod bringen wird, wenn ihr es einlasst. Der Pakt, den Ihr und mein Herr geschlossen habt, schließt Eure Unversehrtheit ein. Isay will, dass Ihr wohlauf seid. Deshalb bin ich hier. Es geht um Leben und Tod.«
»Ein Kind..«, murmelt der Krähenprinz. Seine Stirn schlug Falten, seine Augen wurden schmale Striche. »So soll es sein.« Seine Hand ballte sich um den Ring herum zur Faust. »Du kannst gehen. Sag deinem Herrn Isay, ich werde dieses Problem aus der Welt schaffen. Er braucht sich keine Gedanken zu machen. Ich werde tun, was er verlangt. Unser Pakt gilt weiterhin, solange er die Finger von Eyndor lässt.« Er erhob sich, baute sich vor dem Boten auf und spreizte seine Rabenschwingen, bis sie ihre volle Größe erreicht hatten. »Geh jetzt!«
Der Bote fuhr auf dem Absatz herum und stürmte durch die Flügeltür nach draußen, die von zwei Dämonen hinter ihm verschlossen wurden. Einer der beiden, ein kleines, gedrungenes Ziegenwesen mit weißbraunem Fell, fingergroßen Stirnhörnern und blutroten Augen verneigte sich tief, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, und positionierte sich wie ein Wächter davor. »Herr?«, drang es mäkelig aus seiner Kehle. »Bei allem Respekt, das Mädchen..«
Anders hob die Hand. Er war zurückgesunken, hatte sich schwer auf die Lehne gestützt und Mittel,- Zeige- und Ringfinger der linken Hand an seine Stirn gebettet. »Das Mädchen«, wiederholte er düster und sah sich wehmütig einem Problem gegenüber, das nicht so einfach zu lösen sein würde. Nicht, nachdem sie ihr Vertrauen verloren und er sie hatte einsperren lassen. »Bring sie zu mir. Sorge dafür, dass niemand erfährt, was eben in diesem Raum besprochen wurde. Niemand spricht mit ihr. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Herr.« Dann war der Dämon fort. Das Klopfen seiner Hufe jedoch hallte noch eine ganze Weile nach.
Der Kerub zermarterte sich das Hirn. Die Schwäche krabbelte auf tausend kleinen Beinchen an seinem Körper hinauf. In ihm trugen Engel und Dämon einen Kampf aus, den keine Seite je gewinnen konnte. Und doch musste er machtlos mit ansehen, wie die dunkle Seite in ihm mehr und mehr die Oberhand gewann.
Und nun das.
Mit Alex Erscheinen in dieser Welt hatte sie ihr Todesurteil unterzeichnet und war dummerweise auch noch dem einzigen Wesen in die Hände gelaufen, das ihr nichts Gutes wollte. Und von alledem hatte sie nichts geahnt, nichts gewusst, nichts erraten können. Nicht, wenn man mit einem Dämon kämpfte, und nichts davon wusste. Es war keine Schande unter diesem Gesichtspunkt zu verlieren, dachte er. Und doch spürte er Wehmut. Sie war tapfer gewesen und hatte sich allein einem Kampf gestellt, den ausgebildete Krieger scheuten. In ihr steckte mehr von einer Kämpferin als in so manchem Namensträger.
Er faltete seine Schwingen zusammen und machte sie unsichtbar für die Augen der Sterblichen. Es war einfacher, sie zu verbergen und es würde ihm leichter fallen, zu dem Mädchen durchzudringen, nach allem, was vorgefallen war. Sei nicht der Dämon, ermahnte er sich, sei Anders. Einfach nur Anders.
Aber Anders war nur eine Hülle, eine blasse Erinnerung und ein Name, der nichts mit ihm zu tun hatte.
Und wenn alle Stricke rissen, besaß er ein sehr mächtiges Druckmittel. Was ihn letztendlich nicht besser machte, als Isay.
Die Zwickmühle war perfekt.
Hunderte von Metern über seinem Kopf saß Alex im Turm und wartete. Sie hatte die letzten Stunden damit verbracht, aus dem Fenster zu starren, aber Nuin nirgendwo erblicken können. Vielleicht, dachte sie betrübt, war er entkommen und längst über alle Berge..
Nicht wie sie. Nicht wie Anders. Anders, der gar nicht Anders war, sondern der Krähenprinz selbst, der mit ihr sein böses Spiel getrieben hatte. Ob er wusste, wie groß ihre Angst und ihre Sorge gewesen waren, als Anders und sie getrennt worden waren? Ahnte er, wie schwer sie die Erkenntnis getroffen hatte, dass es den Mann, den sie zehn Jahre lang vermisst hatte, nie gegeben hatte? Oder hatte es ihn gegeben, und er war auch nur ein Opfer?
Vor der schweren Holztür klangen Schritte. Das Mädchen drehte sich vom Fenster fort, ließ die Schultern hängen und stellte sich dem unsichtbaren Feind. Doch als der Schlüssel im Schloss gedreht wurde und die Tür weit aufschwang, stand nur eine Kreatur im Rahmen, die halb so groß war, wie sie selbst, haarig und ziegenähnlich. Ein Wesen, das einem Faun glich, nur animalischer, viel mehr Tier und kleiner.
»Mädchen«, sagte das Wesen mit knarzender Stimme. »Mädchen, komm. Er will dich sehen.«
»Ich will ihn aber nicht sehen«, erwiderte Alex eisig. Ob der Dämon sah, dass das, was sie ihm als Mut verkaufen wollte, nichts anderes als Verzweiflung war? Der Dämon. Allein das Denken dieses Wortes fühlte sich seltsam an. »Wenn er meinen Tod will, hätte er mich einfach nur zurücklassen müssen.«
Seufzend kam der Dämon näher. »Hör zu, Kind. Es geht mich zwar nichts an, aber wenn du nicht mit herunterkommst, ruf ich die Wachen und die schleifen dich in den Thronsaal. Glaub mir«, grollte er, »das willst du nicht.«
Nein, das wollte sie nicht. Alex hob die Hände und rieb sich über die frierenden Oberarme. Angst ließ sie insgeheim zittern, doch sie zwang sich, ihre Furcht zu verbergen. »In Ordnung«, gab sie sich geschlagen und folgte dem Wesen auf den Gang. Direkt davor erstreckte sich eine Treppe mit unzählig vielen gewundenen, unebenen Stufen bis hinunter in die Eingangshalle. Sie wusste es, denn vor wenigen Stunden war sie jede Einzelne von ihnen hinauf gestiegen. Stufe um Stufe. »Was will er von mir? Wird er mir etwas antun?«
»Unsinn!«, sagte der Dämon und schüttelte schlechtgelaunt den Kopf. »Wird er nicht. Hat noch nie getan, was Isay wollte. Auch wenn ihm der Bote wenig Spielraum gelassen hat. Dich gibt er nicht her.«
»Welcher Bote?«»Isays Bote.« Der Ziegendämon schnaubte. »Der, der kurz nach euch angekommen ist. Er - ach, du wirst schon sehen.« Dieser Bote. Der, der ihm die Nachricht über die gelogene Vision erzählen sollte. Die, von der Anders längst wusste.
Von da an schwieg das Wesen. Sie legten all die Stufen schweigend zurück, und als sie die Eingangshalle erreicht hatten, fühlte Alex deutlich, wie ihr Mut sank. Sie hatte nur eine Chance: Sie musste sich ganz und gar auf die Hoffnung konzentrieren, dass der Schlossherr sie nicht töten würde.
Die Halle mündete in ein riesiges Tor, vor dem ein zweiter Dämon stand. Gemeinsam schoben sie das Portal auf und ein schmaler Lichtkegel schob sich von der heller erleuchteten Empfangshalle in den nur matt erhellten Thronsaal, der dahinter lag. Schon von der Tür aus konnte sie sehen, dass der dunkle Kerub auf dem großen, schwarzen Thron saß. Einzig die großen, schwarzen Flügel waren verschwunden und machten ihn wieder ein wenig mehr zu Anders; Anders, dem sie vertraut hatte. Eine edlere, düstere Variation des Mannes, dem sie ihr Leben in die Hände gelegt hätte.
Als sie näher kam, fühlte sich das Herz in ihrer Brust wie eine Trommel an. Sie musterte den Kerub lange, doch erst, als sich ihre Blicke trafen, spürte sie, wie groß die Bedrohung war, die von ihm ausging. Eine düstere, fast schwarze Aura flackerte um ihn herum auf. Er war von Totenstille umgeben und von Finsternis beseelt. Alles an ihm hatte sich verändert, obwohl doch eigentlich alles gleich geblieben war, bis auf die Kleider, die er trug. Wams, Harnisch und Schwert waren einem gut sitzenden schwarzen Hemd gewichen. Er trug eine saubere Hose und das Haar diesmal offen über eine Schulter geworfen.
»Lasst uns alleine«, drang seine Stimme durch den Raum und die Dämonen zogen sich augenblicklich zurück. Sein wachsames Auge blieb auf dem Mädchen ruhen und in der Tiefe dieser brennenden Murmeln flossen Bernsteinnebel ineinander. Darin eingebettet, die konservierte Seele eines Edelmannes, der zum Monster geworden war. »Alex«, sagte er mit der ihr so vertrauten Stimme, doch auch diese schien nun eine andere zu sein. Sie klang hohl und kalt, als würde sie keinem lebenden Wesen angehören.
Sie blieb stehen, so weit entfernt, dass sich die Distanz schützend anfühlte. »Und wie soll ich dich nennen?«
»Keine Spielchen mehr.«
»Ich habe nicht mit dir gespielt«, erwiderte das Mädchen böse. »Denn ich dachte, ich kenne dich ein wenig. Ich dachte, du wärst mein Freund. Ich habe geglaubt, ich habe dich umgebracht, weil ich deine Hand losgelassen habe. Ich bin der letzte Mensch, der mit den Gefühlen anderer spielt. Aber jetzt wünschte ich, genau das wäre dir widerfahren. Lieber tot, als das.«
»Du bist zu mutig gewesen, um jetzt dumm zu sein«, erwiderte Anders kalt. In seinen Augen jedoch lag ein diabolisches Funkeln. »Ich hätte dich vor zehn Jahren töten können, wenn ich es gewollt hätte. Und gestern. Und heute Nacht und immer wieder. Aber ich habe es nicht getan. Ich werde es auch jetzt nicht tun. Niemand in meinem Reich wird dir auch nur ein Haar krümmen. Ich bin nicht dein Feind.«
»Nein, du bist ein Monster! Da ich zu jeder Zeit mit offenen Karten gespielt habe, wusstest du im Gegensatz zu mir immer, mit wem du es zu tun hattest. Was willst du von mir?«
»Eben gerade hat ein Bote mein Schloss verlassen, der mit einer Nachricht von Isay zu mir kam.« Der Kerub neigte sich vor und musterte das Mädchen mit zusammengekniffen Augen. Sein Blick floss durch sie hindurch bis tief in ihre Seele und plötzlich fürchtete Alex um alles, was sie noch besaß. »Du hattest recht. Er kam, um mir meinen Tod zu prophezeien, wenn ich ein Bündnis mit dir eingehe.«
Plötzlich begannen die Hände des Mädchens zu zittern. »Ich verstehe nicht..«
»Isay lässt mir ausrichten, dass ich mich entscheiden muss. Er will deinen Kopf, und ich soll ihn ihm bringen. Oder er wird mir Eyndors Kopf bringen und sich meinen holen.«
Das Mädchen hielt den Atem an. Wenn Anders dieser irrsinnigen Drohung des Dämons glaubte, gab es keinen Grund für ihn, sie am Leben zu lassen. Dann war sie so gut wie tot, egal, was er ihr versprach.
»Zum Glück ahnte er, als er diesen Boten schickte nicht, dass ich bereits von seinem Vorhaben wusste.«
»Ich wüsste nicht, wie ich, dummer kleiner, sterblicher Mensch, dir in dieser Angelegenheit helfen könnte.«
»Vielleicht doch. Ich schlage dir einen Pakt vor«, fuhr der Kerub mit gefährlich ruhiger Stimme fort. »Ein Bündnis, bei dem wir beide gewinnen. Du kannst dein Leben behalten. Ich will es nicht, und ich wollte es nie. Glaube nicht, dass ich so menschlich bin, dass mir die Dinge, die wir gesagt haben und die Vergangenheit, die uns verbindet, so viel bedeuten, dass ich dich nicht aus dem Weg räumen würde. Ich bin kein Mensch und spiele nicht nach euren Regeln. Nichts hindert mich daran, dir wehzutun, wenn ich es will.« Endlich stand er auf. Wie ein Schemen glitt er von dem Thron herab und hinter seinem Rücken flackerte die Finsternis, bis die großen, dunklen Schwingen aus seinen Schulterblättern stießen und sich hinter ihm lautlos aufspreizten. Aber anders als Alex sie in den Tunneln unterhalb des Schlosses gesehen hatte und entgegen aller Erzählungen, waren sie gar nicht vollständig schwarz. Wie ein Wasserfall verlief sich die Dunkelheit seines Gefieders von oben nach unten. Tiefschwarz waren sie nur das obere Drittel, wo sich die größten Federn zeigten. »Aber ich vertraue Isay nicht, und wenn er will, dass ich dich töte, ist es wohl am besten, dich am Leben zu lassen. Über mein Leben entscheide ich selbst. Und auch, ob ich den Tod in mein Schloss lasse, oder nicht.«
Der Ausdruck auf seinem Gesicht war undurchsichtig geworden. Er schien eine Mauer um sich zu errichten, die es Alex unmöglich machte, zu ihm durchzudringen. Wie hatte sie sich so sehr in ihm täuschen können? Wie hatte sie davon ausgehen können, dass er Anders war, ein Wesen, in dem Gutes steckte?
»Isay hat drei Dinge in seinen Besitz gebracht, die sehr viel Bedeutung für mich haben. Ein Schwert, eine versiegelte Truhe und Eyndor. Dieses Schwert trug ich bei mir, als ich verbannt wurde. Es ist eine Klinge, deren Stich niemals heilt. Einmal von ihr berührt, rafft es selbst den größten Krieger dahin. Es tötet Unsterbliche. Und ich will es wiederhaben. Eine so mächtige Waffe in den falschen Händen kann meinen Tod bedeuten. Die Truhe, die er mir weggenommen hat, ist jene, in die der Schlüssel passt, den du bei dir trägst. Darin verbirgt sich die mächtigste Waffe Andheras. Es ist kein Schwert und kein Pfeil. Es ist ungleich größer und unzerstörbar. Und du bist das einzige Wesen, das Zugriff auf diese Waffe hat. Nur ein Wesen mit reiner Seele, an dessen Händen noch nie Blut geklebt hat, kann den Schlüssel benutzen. So habe ich den Zauber ausgesprochen. Es besteht keinerlei Gefahr, sie mir auszuhändigen, denn ich kann ohne deine Hilfe nicht an ihren Inhalt gelangen. Isay hat mich gezwungen, ihm diese Dinge auszuhändigen, für ein Leben, das ich ihm schulde, und mich danach mit eben diesem Leben erpresst, ins Exil zu gehen. Seither sitze ich auf diesem schwarzen Thron und verliere Tag für Tag Macht und Ansehen. Mein Name war einst mit Stolz behaftet, nun lehrt er Andhera das Fürchten. Wenn es dir gelingt, mir diese beiden Dinge zu bringen, schenke ich dir meinen Spiegel und mein Ehrenwort, dass ich für dich das Tor nach Andhera für immer verschließe. Weder Isay noch ich oder irgendwer sonst, wird dir je zur Gefahr werden können. Ich lasse dich passieren und dein Leben fortführen, wie du es wünschst.«
»Und wenn nicht?«
»Wenn Isay herausfindet, dass ich dich nicht getötet habe, wird er es tun. Und er wird keinesfalls so gnädig sein, wie ich es bin. Er ist ein sehr gefährlicher Mann und wird nicht nach den Gründen deines Handelns fragen. Es ist deine Entscheidung, Mädchen. Sei klug.«
»Und wie«, fragte das Mädchen, während eine Wolke aus Verzweiflung ihr den Atem raubte und erste Tränen in ihre Augenwinkel schossen, »soll ich an diese Dinge herankommen, wenn nicht einmal du es kannst?«
»Unser Pakt bindet mir diesbezüglich leider die Hände. Ich betrete sein Schloss niemals und er meines nicht. So war es und so wird es bleiben. Du allerdings kannst dich hineinstehlen, ihm meine Habseligkeiten entwenden und zu mir bringen ohne, dass er es merkt. Eine Festung wie seine ist lange nicht so gut bewacht, wie du denken magst. Niemand wagt es, dort einzubrechen. Und ich würde dir diesen Handel nicht vorschlagen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass du es schaffen kannst.« Er kam zwei, vielleicht drei Schritte auf das Mädchen zu gelaufen, hob die Hand und streckte sie ihr entgegen. »Dein Leben oder dein Tod? Was darf es sein, Menschenkind?«
»Du meinst, mein Leben für den Untergang deiner Welt.« Alex war erschrocken zurückgewichen.
Nickend ließ Anders die Hand sinken. »Weder dir, noch Andhera droht durch meine Hand Gefahr. Aber ich verstehe, dass du vielleicht einen Anreiz brauchst.« Dann erhob er die Stimme und rief durch die Halle hinweg. »Bringt meinen Gast herein!«
Auf der anderen Seite des Portals erklangen Hufe, die auf Steinen scharrten. Jemand bewegte sich. Die große, zweiflügelige Tür wurde knarrend geöffnet und kurz darauf erklang ein Brüllen, das Alex Hoffnungen schlagartig zerstörte. Noch ehe das Scharren von Krallen auf dem Boden erklang, und noch lange, ehe sie den Schatten sehen konnte, der von einem Dutzend Dämonen an langen, dicken Tauen hereingezerrt wurde, wusste sie bereits, aus wessen Kehle dieser Laut gekommen war.
»Nuin!«, rief sie aus. Ihr Blick flog über den Leib des Greifen hinweg. Die Schwingen waren ihm mit Seilen zusammengeschnürt und um seinen Hals lag ein eiserner Kragen, an dem das Tau befestigt war, mit dessen Hilfe ihn die Dämonen hereinzerrten.
Sie fuhr herum und funkelte Anders so voller Zorn an, dass tatsächlich ein müdes Lächeln dessen Antlitz erhellte. »Nichts bindet eine gute Seele so stark wie Freundschaft. Ein Segen und ein Fluch zugleich, nicht wahr?« Sekunden später wich jede noch so kleine Regung aus seinem Gesicht. Seine Miene verfinsterte sich auf eine Weise, die Alex nie für möglich gehalten hätte. Dann hob er die Hand, um auf Nuins Gesicht zu weisen. Einer seiner Diener zückte ein Messer und drückte die Schneide in sein weiches Fell unterhalb des Halses. »Ist dir sein Leben Anreiz genug, um meinen Vorschlag zu überdenken?«
»Nein!«, schrie Alex auf und stürzte vor. Ihr Herz raste wie ein Uhrwerk. »Nicht!«, rief sie, fuhr herum und sah zu dem Kerub zurück. »Hör auf!« Ihr Innerstes fühlte sich an, als würde es in ihr ertrinken. Sie konnte fühlen, wie die Luft auf dem Weg in ihre Lungenflügel stockte und wusste, Nuins Tod würde alles verändern. Für immer. »Bitte, ich tu, was auch immer du willst, aber lass ihn gehen.«»Ich werde ihm sein Leben schenken und seine Freiheit, sobald du unserem Pakt zugestimmt hast. Geduld ist nicht unbedingt meine größte Stärke.« Ein zweites Mal näherte er sich ihr, hob die Hand und streckte sie vor.
Sein Blick brannte sich in den des Mädchens. Es war die Kälte darin, das eisige Feuer, das Alex bewusst machte, dass er die Wahrheit sagte. Anders würde keine Sekunde zögern, sowohl sie, als auch Nuin aus dem Weg räumen zu lassen. Gar nichts auf dieser Welt schien ihm noch irgendetwas zu bedeuten. Nichts spielte eine Rolle für ihn, und solange er in diesem Zustand gefangen war, würde er sein Vorhaben in die Tat umsetzen. Um jeden Preis.
»Du lässt uns frei?«, hakte sie mich brüchiger Stimme nach. »Und du versicherst mir, dass ich einfach nach Hause gehen darf und du Nuin nicht nachstellen wirst?«
»Nicht, Alex!«, rief ihr Nuin zu.
Anders nickte. »Ich bin der Krähenprinz, der Herr der Schatten, der Schwarzgefiederte, der Krieger der Götter und der Hoffnungsträger Andheras. Gefahr und Schutz, Hüter und Gesetz.« Seine Lippen zucken, aber das Lächeln bricht nicht hervor. »Mein Wort ist bindend und verlässlich.«
Alex musterte seine Hand lange. »Nur eine Frage noch«, sagte sie dann und schaute zum Herrn des Schlosses auf. Ihr Blick brannte sich in seine feurigen Augen, die den ihren so viel überlegen schienen. »Anders«, fuhr sie fort. »Hat er je existiert, oder warst du auch derjenige, der mich als Kind besuchen kam?«
»Der Anders, den es vor mir gab, war ein schlechter Mensch«, erwiderte der Kerub kühl. »Er hat getrunken, gespielt, seine Frau geschlagen und weder Andhera, noch sein eigenes Leben zu schätzen gewusst. Als ich in dieser Welt erwachte, war ich schwer verwundet und brauchte einen Körper, weil meiner im Sterben lag. Er war das erste, sterbliche Wesen, dem ich begegnete. Ich sah ihn an und wusste, dass er das Leben, das ihm anvertraut worden war, nicht zu schätzen wusste. Also gab ich ihm eine letzte Chance, seine Seele zu retten und Andhera von Nutzen zu sein. Ich schickte seinen Geist ins Totenreich und behielt seinen Körper für mich zurück. Für ein sehr viel höheres Ziel. Er bekam Frieden und die Welt besaß einen schlechten Menschen weniger. Anders ist schon sehr, sehr lange fort. Aber ich werde weder ihn, noch sein Opfer, jemals vergessen. Und so wurde aus einem schlechten, nutzlosen Menschen doch noch ein Held Andheras.«
»Ein Held«, wiederholte Alex seine Worte, die offenbar auf ihn bezogen waren, und musste vor Wut die Hände zu Fäusten ballen. Das Blut pochte unangenehm in ihren Ohren. »Also hast du damals an meinem Bett gesessen und mich in Sicherheit gewiegt? Nicht Anders, und auch kein Sterblicher. Du hast mich beschützt? Nächte lang. Du warst mein Freund und ich habe dir vertraut. Wieso bist du jetzt so grausam und herzlos zu mir und der Welt, die du retten wolltest? Was hat dir Andhera angetan, um diese Art des Vertrauensbruches zu verdienen? Was haben dir Nuin und die Anderen getan? Die Krieger, die du im Namen eines Dämons getötet hast? Waren sie auch schlechte Menschen?«
»Wer sie waren, und was sie getan haben, verliert durch ihren Tod an Bedeutung. Sie sind fort, und kommen nicht zurück. Ich habe dir eine Frage gestattet«, entgegnete Anders mit einem überlegenen Grinsen und hielt ihr mit Nachdruck die Hand entgegen. »Also?«
Alex schlug ein, ohne den Blick abzuwenden. Niemals mehr würde sie ihm gegenüber ein Zeichen der Schwäche zulassen. Nicht, nachdem er sie offenkundig bedroht, belogen und in Angst und Schrecken versetzt hatte. Niemals mehr würde sie vor seinem Anblick zittern oder eines der Worte glauben, die über seine Lippen kamen. Der dunkle Kerub hatte, ohne es zu wissen, alles Vertrauen zerstört, das in ihr übrig geblieben war.