Sie tauchten in die Finsternis ein. Alex hatte sich nicht die Mühe gemacht, Eyndor vorzuwarnen. So wenig, wie Anders sie auf seine Vorhaben aufmerksam gemacht hatte. Blitzschnell zerrte sie den Krieger ins Innere des Spiegels und schloss die Augen. Nie zuvor waren die Dämonen in der Welt zwischen den Spiegeln stärker gewesen. Niemals hatte das Dunkel so an ihr genagt, wie bei diesem Übergang. Dennoch gelang es ihr, auf die andere Seite zu fliehen und Eyndor mitzunehmen.
Sie sprang aus dem Spiegel heraus, drehte sich um und zog den Krieger nach. Er flutschte aus dem Spiegel heraus und fuhr augenblicklich herum.
»Nein!«, fuhr er auf, ballte die Hände zu Fäusten und presste sie auf das Glas. Seine Verzweiflung umgab ihn wie eine düstere Aura. »Schick mich zurück!«, befahl er und kratzte am Glas wie ein Verdurstender, der am Ufer eines gefrorenen Sees kauerte. »Alex, du musst mich sofort zurückschicken! Wir können ihn nicht dort lassen! Wir müssen-«
»Er wollte, dass wir gehen«, warf das Mädchen ein.
»Er wollte, dass wir-«
»Gehen.« Alex seufzte. »Eyndor, wir können gar nichts tun. Wenn du zurückgehst, töten sie dich oder sperren dich weg. Du bist Anders nur dann eine Hilfe, wenn du frei bist und Isay dich nicht gegen ihn verwenden kann. Du weißt, dass ich recht habe.« Und obwohl sie in Anders Augen diese Wahrheit erkannt hatte, schmerzte sie der Gedanke, dass es keinen Weg gegeben hatte, auf dem sie alle fliehen konnten. Er hatte sich geopfert, um sie zu retten. Nicht, weil er edelmütig war oder ein großes Herz besaß. Er hatte sie in Freiheit wissen müssen, um Hoffnung zu haben, dass sie irgendwann einen Weg finden würden, um ihn zu befreien. »Anders wusste, dass er in der Falle saß. Du hast doch seine Augen gesehen!«
»Das bedeutet nicht, dass ich es akzeptieren muss!«
Schnaubend verschränkte Alex die Arme vor der Brust. »Willst du getötet werden? Denn das passiert, wenn du-«
Hinter ihnen knarrte es. Alex wollte sich umwenden, doch etwas schob sich aus den Schatten und streifte liebkosend Eyndors Kehle. Es war eine Schwertklinge, auf die mattes Tageslicht fiel.
Sie schaute auf und sah, dass auch Eyndor erstarrt war. Ein Schwert lag an seiner Kehle, genau wie an ihrer, und eine mürrische tiefe Stimme sagte: »Niemand bewegt sich. Was wollt ihr hier?«
Zum ersten Mal ließ Alex den Blick schweifen und stellte fest, dass sie sich in einem Raum befand. Vier Wände, ein Holzboden und eine schiefe Decke umgaben sie. Das Zimmer war spärlich eingerichtet: ein Tisch, ein Kronleuchter, vier Stühle und ein Regal an der Wand, das aussah, als wollte es jeden Augenblick zusammenfallen. Hatte Anders ihr nicht gesagt, alle verblieben Spiegel befänden sich in seinem Besitz? Wieso hatte sie dieser Spiegel hierher gebracht und wo waren sie? Es gab nur eine logische Erklärung. Anders hatte gelogen. Da er die Anwesenheit eines Spiegels wahrnehmen konnte, war es unmöglich, dass ihm dieser unabsichtlich entgangen war. Hatte er ihn absichtlich hier deponiert und niemandem davon erzählt?
Verwirrt kniff Eyndor die Augen zusammen und murmelte: »Reyndra?«
Sofort zog sich das Schwert zurück. Ein großer schlanker Mann mit größtenteils ergrautem Haar schob sich hinter dem Krieger ins Licht. »Eyndor?« Eisblaue Augen, unendlich tief und weit wie der stille Ozean blickten Alex plötzlich entgegen, ehe sie zu ihrem Begleiter hin wanderten und ihn lange musterten.
Der Mann, dem sie gehörten, überragte den Krieger um eine Handlänge. Er war schlaksig und seine Haut war fahl. Sein scharf geschnittenes, kantiges Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen. Er war kein junger Mann mehr und seine Gestalt zeugte von den Jahren, die er auf dem Buckel hatte. Und obwohl ihn das Leben mit einer gewissen Härte und Gerechtigkeit gezeichnet hatte, flatterte ein Lächeln über sein Gesicht, als er Eyndor erkannte.
Reyndra? Alex atmete erleichtert aus. Offenbar waren der Fremde und Eyndor miteinander bekannt. Die Situation schien sich zu entspannen und ihr dämmerte, dass sie seinen Namen irgendwo schon einmal gehört hatte.
»Um Himmels Willen!«, stieß Eyndor hervor, hob die Arme und schloss den Fremden in seine Arme, wie einen verloren gegangenen Bruder. »Alex«, sagte er dann, »das ist Reyndra. Ein Freund.«
Das Mädchen lächelte sich die Anspannung von der Seele und streckte dem Fremden die Hand entgegen. »Du musst ein Freund von Anders sein«, vermutete sie und betrachtete ihn genau, während er ihre Hand schüttelte.
»Das bin ich«, antwortete dieser. »Und du musst das Mädchen sein, das Isay in Aufruhr versetzt hat.« Sein Blick wich zu Eyndor. »Ich habe gehört, dass ihr entkommen seid. Mein Gott, was bin ich froh, euch zu sehen. Wo ist er? Wo ist der Schwarze Engel?« Er wandte sich dem Spiegel zu und runzelte die Stirn. »Was..?«
Alex, der es nun nicht mehr möglich war, Ruhe zu bewahren, schluchzte tief. Alle Anspannung war von ihr abgefallen und plötzlich war sie mit nichts anderem als ihrem Kummer allein. »Anders ist fort«, erklärte sie ihm. »Er ist zurückgeblieben.«
»Zurückgeblieben? Im Schloss? Dann holen wir ihn. Er sollte-«
Kopfschüttelnd sah das Mädchen zu Reyndra auf, senkte den Blick und rieb sich über die Oberarme. Eine Kältewelle schlug über ihr zusammen und schien sie ersticken zu wollen. Wie hatten sie Anders nur seinem Schicksal überlassen und fliehen können? »Das wird nicht gehen«, setzte sie erneut an und suchte nach den richtigen Worten. Doch wie erklärte man jemandem, dass man feige geflohen war und einen Freund zurückgelassen hatte, selbst wenn dieser nichts anderes gewollt hatte? Sie biss sich auf die Unterlippe. »Er ist bei Isay.«
»Er ist bei..« Reyndras Kinnlade klappte herunter. »Erzählt mir alles.«
»Isay hat uns in einen Hinterhalt gelockt«, begann Eyndor zu erzählen. »Anders befand sich mitten in einem Zauber, als Isays Männer uns angegriffen haben. Er hatte keine Chance.«
»Aber ihr konntet entkommen.« Reyndra seufzte. Seine Hände hoben sich, er strich sich durchs Haar und sah dabei beinahe so hilflos aus, wie Alex sich fühlte. »Das sind furchtbare Neuigkeiten.«
Plötzlich fiel es dem Mädchen wie Schuppen von den Augen. »Ich weiß, wer du bist!«, rief es aus. »Dein Name stand auf dem Brief, den ich in Anders Sachen gefunden habe. Du hast ihm seine Truhe gebracht, und sein Schwert, und auch diese Dinge befinden sich nun wieder in Isays Besitz.« Alex schwindelte. »Wie konnte das nur passieren?«
»Ist die Truhe verschlossen?«, fragte Reyndra.
Alex nickte. »Ich glaube schon.«
»Hast du den Schlüssel bei dir?«
»Nein, ich..« Ihre Erinnerung kehrte schleppend zurück. Sie hatte ihn weggeworfen, weil sie die Verantwortung nicht tragen wollte, und war dann in ihre Welt zurückgekehrt. Seither war ihr der Schlüssel nicht mehr begegnet. »Ich denke, Anders hat ihn.« Während sie sprach, zitterte jedes Wort bis zur Unverständlichkeit.
»Er hat ihn nicht«, warf Eyndor ein. Er griff in sein Hemd und zog die schmale Kette heraus, die Alex unmittelbar ein Gefühl von Vertrautheit vermittelte. »Er hatte ihn nie. Er wollte ihn nicht. Nachdem du gegangen warst, habe ich ihn an mich genommen.«
»Dann ist noch nicht alles verloren«, sagte Reyndra. »Solange Isay keinen Weg findet, um an das zu gelangen, was Anders in der Truhe versteckt hat, wird ihm sein Wissen um ihren Inhalt das Leben retten.« Mit einer Geste wies er auf den Raum, in dem sie sich befanden. »Und ihr seid hier in Sicherheit. Niemand weiß, dass ich den letzten Spiegel verwahre, und Anders würde euch nie verraten. Er hat geschworen, den Inhalt dieser Truhe vor jedem bösen Geist zu schützen, auch vor seinem eigenen.«
Alex glaubte ihm. Selbst wenn sie inzwischen um Isays aufbrausendes Temperament wusste, glaubte sie nicht daran, dass er den Schwarzen Engel tatsächlich tot sehen wollte. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihn zu überlisten, aus dem Zentrum der Schlacht zu ziehen und in Ketten zu legen, um ihn dann still und heimlich loswerden zu können. In den wenigen Augenblicken, die Alex Zeuge der seltsamen Verbindung zwischen Anders und Isay geworden war, hatte sie spüren können, dass mehr zwischen ihnen lag, als jahrelange Feindschaft. Anders hatte oftmals angedeutet, dass er und Isay eine gemeinsame Vergangenheit besaßen. Dass sie einst Verbündete, oder gar Freunde gewesen waren. Niemand, nicht einmal ein verrücktes Dämonenwesen, warf eine solche Bindung leichtfertig über den Haufen. Und solange Isay nicht sicher sein konnte, dass Anders für ihn verloren war, war er gezwungen, sich an ihm die Zähne auszubeißen.
»Weshalb hast du den Spiegel verwahrt?«, fragte Eyndor. »Ich dachte, Anders hat jeden Einzelnen in Sicherheit gebracht.«
»Und genau das sollte jedermann denken. Ich verwahre diesen Spiegel schon mein ganzes Leben lang, und nie kam jemand hindurch. Vor allem nicht er. Ihr seid die Ersten, die ihn benutzen.« Seine Lippen zuckten, als wollte er lächeln, aber sein Gesicht wurde von Trauer überschwemmt. »Ich hatte gehofft, mein Ruhestand würde länger andauern. Anders hat mir geschworen, mich von allen Pflichten zu entbinden, und er hat Wort gehalten. Aber wenn er euch geradewegs zu mir schickte, dann wusste er sich keinen Ausweg mehr, und es steht schlecht um ihn. Ich hätte euch gerne mehr geboten, aber dies ist alles, was ich habe. Ich lebe hier in diesem kleinen Haus mit meiner Frau und einer Tochter. Wir haben wenig, aber was immer wir besitzen, teilen wir gern. Und jeder von uns ist Anders gegenüber stets loyal gewesen. Ich werde euch helfen.«
»Und wobei helfen?«, hakte Eyndor bissig nach. »Ich weiß nicht, was Anders von uns erwartet.«
»Aber ich.« Reyndra zuckte die Achseln. »Wartet hier. Ich bin gleich zurück.«
Er verschwand durch die Tür auf den Flur hinaus und Alex und Eyndor blieben verwirrt zurück.
»Reyndra ist ein Freund«, sagte der Krieger in erklärendem Tonfall, als ihm das fragende Stirnrunzeln des Mädchens auffiel. »Anders hat ihn vor langer Zeit in Isays Festung eingeschleust. Viele Jahre lang hat er Isays Vertrauen genossen und Anders auf der anderen Seite mit wichtigen Informationen versorgt. Ohne seine Hilfe wären wir heute nicht dort, wo wir sind. Du kannst ihm vertrauen.«
Das tat sie. Obgleich sie einander nur flüchtig kannten, spürte Alex ein ähnliches Gefühl in der Nähe des Mannes, wie damals schon bei Anders und kurz darauf in Eyndors Nähe. Offenbar besaß sie ein Gespür für die Aufrichtigkeit ihrer Mitmenschen. Mehr vielleicht, als sie sich selbst zugetraut hätte.
»Hier.« Nach nur wenigen Augenblicken kehrte Reyndra mit einem in ein rotes Tuch gewickelten Gegenstand in seiner Hand zurück. »Anders ist ein sehr kluges Wesen, dem es leider nie gelungen ist, seine eigenen Dämonen zu bezwingen. Er hat es versucht, ist bisher aber immer gescheitert und fürchtete stets, irgendwann die Kontrolle zu verlieren. Das hier gab er mir damals, als er mich fortschickte.« Geschwind wickelte er das Ding in seinen Händen aus, ließ das Tuch achtlos zu Boden fallen und hielt plötzlich einen großen, rabenschwarzen Stein in der Hand, der im Licht glänzte. »Mit Hilfe dieses Steins weiß ich immer, wenn Anders Leben in Gefahr sind. Bleibt er dunkel, ist er möglicherweise nicht in bester Verfassung, aber wohlauf. Verfärbt er sich, beginnt zu glühen oder zu leuchten, braucht er meine Hilfe, weil sein Leben in Gefahr ist.«
»Wie funktioniert er?«
»Er ist mittels eines Zauberspruchs mit seinem Herzen verbunden. Anders wollte ihn nicht bei sich haben, um nicht immerzu an den dunkelsten Tag in seinem Leben erinnert zu werden. Er hat zu mir gesagt, ich solle ihn aufbewahren, damit ich immer weiß, wenn es zu Ende geht und vielleicht einschreiten kann, um das Schlimmste zu verhindern.« Ein Lächeln flammte in seinem Gesicht auf, während er den Kopf drehte und zu Eyndor sah. »Das war der Tag, an dem er dich verloren hat.« Kurz darauf wurde er wieder ernst, hielt dem Krieger den Stein entgegen und fragte: »Was wisst ihr über das, was Anders in dieser Truhe versteckt hat?«
»Nur, dass es eine Waffe ist«, äußerte Alex und zuckte verschämt mit den Achseln. »Er hat mir lediglich gesagt, dass sich eine Waffe darin befindet, die entscheidend für seinen Kampf und seinen Sieg über Isay ist. Nur mit ihr kann er Isay bezwingen und Andhera vor dem Untergang bewahren. Aber er ist noch nicht bereit für sie. Mehr wollte er mir nicht verraten.«
»Welch machtvolle Waffe würde wohl in eine kleine Kiste passen?« Reyndra schüttelte schmunzelnd den Kopf. Was war so lustig an ihrer ernsten Lage? »Ihr wisst es wirklich nicht?«
»Nein«, entgegnete Alex. Sie warf einen Blick auf den Stein in Eyndors Hand und hatte plötzlich das Gefühl, dem Kerub ganz nahe zu sein. Ein warmer Schauer zog durch ihre Brust und erinnerte sie an das Gefühl, durch einen Spiegel zu gehen.
»Nun, in dieser Kiste liegt tatsächlich etwas Gefährliches. Ein launisches, böses Ding, das Anders weggesperrt hat, um es nie wieder ertragen zu müssen. Er fürchtete seine Macht, weil kein anderer seine Geheimnisse so gut kennt, wie er selbst. Aber eine Waffe ist es nicht. Zumindest nicht im üblichen Sinne. In der Truhe liegt das Herz der Welt. Das einzige seiner Art, das den Schmerz dieser schwindenden Welt spüren kann. Die einzige Waffe, vor deren Gebrauch er sich selbst schützen muss, weil es weder gut noch schlecht ist und er mit ihm vereint, den Schmerz Andheras erdulden muss. Ihr mögt glauben, dass man lernen kann, damit umzugehen. Aber Anders wusste, es zieht ihn ins Dunkel, wann immer er es versuchen würde. Und er ist der Vergangenheit bereits zu weit auf die falsche Seite gerutscht. Er konnte fühlen, dass sich etwas in ihm veränderte, und hat sich von all seinen Gefühlen losgesagt, als Eyndor verschwand und er gezwungen war, unter Isays Banner zu kämpfen. Alles, was ihm die letzten Jahre über die Kraft gegeben hat, stark zu sein, war seine Entscheidung, aller Gefühle abzuschwören und sie mitsamt seiner Dämonen zu verschließen. Das mag euch ungerecht und hart erscheinen, aber so konnte er sich retten. Diese Waffe, von der Anders sprach, ist sein eigenes Herz.«
Alex und Eyndor sahen sich an und wieder erschien vor Alex innerem Auge das Bild des Schwarzen Engels vor seinem Spiegel, der als einziger Gegenstand sein grausiges Schicksal offenbarte. Sie hatte sich nicht geirrt. Sie hatte sein Herz nicht sehen können, weil es nicht da gewesen war. Weil er es weggeschlossen hatte. Weil er schwach geworden war.
»Ihr dürft ihm keine Vorhaltungen machen!«, fuhr Reyndra hastig fort. »Ich habe Anders niemals so gesehen, wie an jenem Tag. Er hatte keine Wahl. Isay verlangte von ihm, am Leben zu bleiben und gegen alles zu handeln, was ihm heilig war. Auf diesem Weg konnte er tun, was er tun musste, ohne für seinen Kampf nutzlos zu werden und abzustumpfen. Er hat sich selbst davor bewahrt, auseinanderzubrechen. Seine Gefühle hätten ihn davon abgehalten und langsam zerfressen. Glaubt mir, er hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Aber er musste es tun, um Andhera langfristig nicht im Stich zu lassen. Ich war bei ihm. Ich sah, wie er immer weniger wurde, wie es ihn verzehrt und ausgesaugt hat. Ich fühlte, wie er dem Dämon seiner Seele verfiel und sich nicht mehr zu helfen wusste. Es war egoistisch, und vielleicht war es falsch, aber nur so konnte er dafür sorgen, dass wir alle heute da stehen, wo wir stehen. Nur so konnte er einen Krieg hinauszögern und seine Unabhängigkeit behalten. Er tat es, weil Andhera ihn brauchte.«
Alex war fassungslos. Nicht nur, dass sie vor wenigen Augenblicken einen Freund verloren hatte, überrumpelt und befreit worden war, nein, nun stand sie auch vor einer großen, allumfassenden Wahrheit. Anders hatte kein Herz. Er war unfähig gewesen, ihre Angst zu spüren, als sie ihm erstmals gegenüberstand. Er hatte ihre Sorgen nicht erkennen können und ihr Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit nicht verstanden. Und doch war er ihr ein Freund geworden. Etwas hatte sich zwischen ihnen verändert. Ganz langsam, aber stetig.
»Wie kann man denn sein Herz verlieren?«, hörte sich Alex murmeln und erinnerte sich plötzlich an die Kälte, die zwischen zwei Spiegeln herrschte und die große Leere, die sie wieder und wieder im Gesicht des Kerubs angetroffen hatte. »Wie kann man ohne Gefühle überleben?«
»Anders konnte es. Ohne sein Herz war er dem andauernden Flüstern der Finsternis nicht ausgeliefert und konnte unbeeinflusst von Isays Herrschaft und seiner Trauer seinen Kampf in der Stille fortführen. Er konnte Jahr um Jahr auf den Tag hin arbeiten, an dem du mit seinem Schlüssel nach Andhera kommen und das Blatt zu seinen Gunsten wenden würdest. Nur dafür hat er in den letzten Jahren gelebt.«
Auch, wenn Alex verstehen konnte, worauf der Krieger hinauswollte, spürte sie dennoch, wie sehr diese Nachricht Eyndor betroffen machte. Sie fühle das Gleiche. Anders Entscheidung war falsch und feige gewesen. Sie hatte ihn nicht nur seine ehrliche Trauer um Eyndors Verlust, sondern auch seine Moral und seinen Gerechtigkeitssinn gekostet. Und dennoch verstand sie es irgendwie. Das einzige Wesen auf der ganzen Welt zu verlieren, das man liebte, konnte Menschen zu grausamen Entscheidungen zwingen und Anders erschien ihr plötzlich menschlicher denn je. Er hatte für sich entschieden, dass er nicht bereit dazu war, dieses Elend zu ertragen und Alex wusste, dass es ungerecht von ihnen wäre, seinen Entschluss anzuzweifeln.
»Schön«, sagte Eyndor tonlos, aber Reyndras Geschichte stimmte ihn düster. Sein Gesicht schien bleicher als zuvor und sein harter Blick verriet, dass er Anders, würde er ihn noch einmal zu Gesicht bekommen, auf dieses empfindliche Thema festnageln würde. Schließlich ging es dabei auch um ihn. »Dann ist in dieser Truhe also das einzige Herz Andheras, das Isay gefährlich werden kann? Wenn du recht hast, wieso war Isay dann hinter der Truhe her? Er kann doch mit einem Herz gar nichts anfangen. Und er glaubt fest daran, dass in der Truhe eine Waffe versteckt ist, die ihn das Leben kosten kann. Was will er damit?«
»So? Weiß er das? Ich habe gehört, dass Isay nicht nur Seher und ein paar zweitklassige Zauberer zur Verfügung stehen. Angeblich besitzt er einen Magier mit großer Macht. Es wäre vermessen zu glauben, dass er nicht wüsste, was Anders getan hat. Isay ist besser informiert, als wir denken. Und er verfügt über Mittel und Wege, Anders sehr gefährlich zu werden. Magie kann viel bewirken«, offenbarte Reyndra mit dunkler Stimme. »Ich denke, Isay weiß sehr wohl, was Anders vor ihm versteckt. Und ein unentschlossenes Herz ist leicht zu beeinflussen. Er hat über ein Jahrzehnt Zeit gehabt, einen Plan zu entwickeln, und so gut Anders Absichten auch sein mögen, er ist und bleibt ein Wesen der Finsternis. Wenn Isay das Herz will, dann nicht, weil er Gutes damit im Schilde führt. Und wenn wir nicht handeln, werden wir Anders verlieren. Er hätte euch nicht zu mir gesandt, wenn es nicht ernst wäre.«
Er deutete ein Nicken auf den Stein an, den Eyndor noch immer auf der Handfläche trug. »Du solltest ihn haben, damit du weißt, dass es deinem Freund gutgeht und dir keine Vorwürfe machen brauchst. Und in der Zwischenzeit überlegen wir uns, wie wir einen sturen, alten, gefühllosen Engel aus den Klauen eines Dämons befreien.«