Anders. Anders.
»Anders!«
Beim letzten Mal war die Stimme real. Er schlug die Augen auf und eine neue Welle des Schmerzes ließ ihn den Boden unter den Füßen verlieren. Es wurde dunkel und kalt, und dann wieder warm und wirklich.
»Anders!« Alex Stimme.
Er schlug die Lider hoch und blinzelte. Um ihn herum tobte die Welt. Es geschah zu schnell, zu laut. Er war noch nicht wirklich hier. Wieso sah er Alex vor sich und nicht den Spiegel? Wieso saß er und kniete nicht mehr? Wohin war der Spiegel verschwunden? Wer hatte ihn vom Spiegel losgerissen und den Zauber so abrupt und unklug beendet?
Die dritte Schmerzwelle streckte ihn nieder und raubte ihm alles Licht vor den Augen. Er spürte, wie ihm das Kinn auf die Brust sackte und lauschte. Irgendwann drehten sich seine Gedanken nicht mehr und nach der vierten und letzten Schmerzwoge, kehrte die Pein nicht wieder. Er atmete durch, atmete auf und hob den Kopf, ließ ihn zurücksinken und lehnte ihn an. Aus seiner Kehle hoben sich zwei tiefe Atemzüge, einer besser als der andere. Dann startete er einen zweiten Anlauf.
Er hob den Blick und sah, dass Alex vor ihm kniete. Sie sah ihn an, mit einer seltsamen Mischung aus Sorge und Angst. In ihren Augen brannten Tränen und ihr Gesicht offenbarte ihm, dass sie sich fürchtete.
Er wollte die Hand ausstrecken und ihren Namen sagen, doch etwas hielt ihn zurück.
»Es tut mir so leid«, flüsterte das Mädchen.
Der Kerub verstand nicht, was sie sagte, nicht was sie ihm klarmachen wollte, bis er plötzlich sah, wie ein großer Mann in einem dunklen Gewand hinter ihr erschien, sie am Arm packte und auf die Füße stellte. Sofort spannte er seine Muskeln und schickte sich an, aufzuspringen, doch etwas hielt ihn unter seiner Schwäche abermals zurück.
Seine Erinnerungen setzten ein. Plötzlich wusste er, unter seinem schmerzgepeinigten Verstand wieder, was Darias ihm offenbart hatte. Er musste die Truhe schützen! Er-
Anders fuhr in die Höhe und wurde je zurückgerissen, noch ehe er verstand, wie ihm geschah. Er ließ den Blick schweifen und bemerkte erstmals, dass Krieger um ihn herum standen. Drei, vielleicht vier Mann in schwarzen Harnischen und Teilrüstungen, mit Schwertern und Waffen. Sein Bewusstsein flammte bröckelnd auf.
Er versuchte es wieder, warf sich vor, stemmte sich hoch, bäumte sich auf, aber er kam nicht los. Da waren Hände, die ihn hielten und Arme, die nach ihm griffen. Sein Gehirn arbeitete, seine Gedanken wanderten umher. Er senkte träge den Blick, schaute an sich hinab und gewahr.. Ketten, in denen er lag. Schwere, schwarze Ketten, die seine Hände und Füße fesselten und ihn zum Gefangenen machten. Ketten, in denen etwas Böses, Dunkles steckte, dessen er sich nicht einfach so entledigen konnte. Sein Verstand versuchte ein allerletztes Mal zu verdrängen, was um ihn herum geschah, als wollte es ihn vor dem Auseinanderbrechen schützen, aber diesmal ließ Anders alle Schutzmauern einstürzen, hob den Blick und sah Alex vor sich weinen. Sie schlug nach dem bewaffneten Mann, aber er zerrte sie unnachgiebig aus seiner Reichweite. Anders öffnete sein Bewusstsein und registrierte Eyndor am Boden. Er blutete, aber sein Herz schlug und seine Lider flackerten, als wollte er zu sich kommen.
»Nein!«, knurrte Anders und dann, ganz plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wurde es finster im Raum, obwohl das Licht bestehen blieb. Eine Präsenz, so finster wie der Tod und so kalt wie das Verderben, betrat das Zimmer und fing im Bruchteil einer Sekunde den Blick des Schwarzen Engels ein. Wie oft hatte er in diese kalten Augen gesehen und sich gefragt, wie er ihnen je hatte vertrauen können? In ihm stürzte eine Welt zusammen, als ihm dämmerte, wie sehr er diesmal in der Falle saß.
»Das kommt jetzt vielleicht überraschend«, sagte Isay und sank ganz langsam vor Anders in die Hocke, »aber ich freue mich sehr, dich wiederzusehen.«
Anders fletschte die Zähne. Eine Geste, die ihn schützen sollte, aber angesichts dessen, dass er völlig wehrlos war, ihren Nutzen verfehlte. »Ich warne dich..«
»Du brauchst niemanden von irgendetwas zu überzeugen. Ich weiß, was du fühlst. Es ist unnötig, den Helden zu spielen.« Isay lächelte, und Anders sah in diesem Lächeln das Spiegelbild seiner zerrissenen Seele. »Du kannst nicht gewinnen.« Er schmunzelte. »Diesmal nicht.« Seine Lippen zuckten, während seine Augen wieder und wieder über Anders Gestalt wanderten. »Du hast es mir zu einfach gemacht.«
Anders schwieg. Ihm lagen so viele Dinge auf der Zunge, die er dem Dämon entgegenspeien wollte, aber sein Entsetzen über all das, was geschehen war und er noch nicht verstand, raubte ihm den Atem. War er mehr als ein Jahrzehnt vor Isay fortgelaufen, um sich dann in einem kurzen Augenblick der Unaufmerksamkeit von ihm in Eisen legen zu lassen? Er begehrte auf. Sein Blick streifte Alex, die man zu Eyndor geschleift hatte, und die dort niedergesunken war und über die Stirn des Verwundeten strich. Ihre Augen zeugten von Furcht, von Schrecken und Hilflosigkeit. Sie verstand längst, dass sich das Blatt zu Isays Gunsten gewendet hatte. Sie wusste, dass Anders sie diesmal nicht retten konnte.
Aus seinen Schulterblättern schossen die großen, dunklen Flügel. Er faltete sie auf, schlug damit aus und warf sich mit aller Macht in den Griff der Krieger, die unnachgiebig an ihm und seinen Ketten zerrten.
Doch all seine Mühen entlockten dem Dämon vor ihm nur ein müdes Grinsen. »Tob dich aus«, sagte er beiläufig, klopfte sich auf die Hose und erhob sich. »Tu, was immer du willst! Schrei, wüte, töte meine Krieger, wenn du dich dann besser fühlst. Aber ich würde niemals den Fehler machen, dich zu unterschätzen. Ich weiß genau, über welche Macht du verfügst, und wo deine Grenzen liegen. Selbst wenn du zwanzig meiner Männer tötest, wir sind genug, um dich zu beschäftigen, bis du nicht weitermachen kannst. Deine Kräfte schwinden.« Sein Blick glitt fort. Er versuchte, sich abzulenken, aber es gelang ihm kaum zu verbergen, wie aufgeregt er war. Sein Inneres jubelte und schrie zur selben Zeit. »Erst der Kampf mit dem Dämon, dann ein so mächtiger Zauber - du kannst es versuchen, aber an mir beißt du dir die Zähne aus.«
»Was willst du?«, fauchte der Kerub. In seiner Seele erwachten Wut und Erschütterung. Er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen und seine mühsam aufrechterhaltene Beherrschung langsam bröckelte. Isay war ein Scharlatan, ein Lügner und ein Mörder, aber niemals dumm gewesen.
Er bemerkte, dass Eyndor zu sich kam. Seine Augen öffneten sich und schlossen direkt wieder. Der Schlag eines Kriegers musste ihn niedergestreckt haben, und nun dauerte es, bis sein Bewusstsein vollends zurückkehren konnte. Alex hielt ihn in ihren Armen und immer wieder hob sie den Kopf und suchte die Aufmerksamkeit des Engels, als würde sie ihn in stiller Hoffnung um Vergebung bitten wollen. Aber es spielte keine Rolle, was sie dachte oder fühlte. Alles was zählte war, dass Isay sie überlistet hatte und zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt einen Trumpf ausspielen konnte, den er nie zuvor besessen hatte.
»Ich kam nur, um mir zu holen, was du mir gestohlen hast. Eine Truhe und ein Schwert, und um dich ein kleines bisschen zu ärgern, hätte ich mir vielleicht auch Eyndor zurückgeholt. Aber dann kam ich herein, sah dich hier sitzen und wusste, das Schicksal hat mir diesen Augenblick zum Geschenk gemacht. Tausendmal habe ich in meinen Träumen den Moment herbeigesehnt, da mir dein Leben in die Hände fallen würde und auch wenn ich es nicht haben wollte, ich konnte nicht vorbeigehen.«
Schmunzelnd wandte sich Isay ab. »Deinen Schutzbefohlenen wird nichts geschehen. Ich bin schließlich kein Ungeheuer.«
»Wenn du es wagst, sie anzufassen..« Anders rang flach atmend mit der Fassung. Was geschah hier nur? Wieso taten ihm die Götter all das an? Wieso quälten sie ihn auf diese Weise? »Ich schwöre dir, bei allem, was mir heilig ist, wenn ich die Möglichkeit bekomme-« Demonstrativ wandte er sich ein letztes Mal im Griff seiner Wächter und funkelte Isay mit allem Hass an, der in seiner Seele lag.
»Und genau die wirst du nicht bekommen.« Rasch war der Dämon bei ihm und legte seine Hand um die Kette, die Anders Handfesseln miteinander verbanden. »Magisches Silber, geprägt auf einen Blutsbann, der nur für dich von meinem besten Mann gesponnen wurde. Kein magisches Wesen würde es fertigbringen, diese Fesseln zu zerreißen. Nicht einmal du. Und ob es dir gefällt oder nicht, du bist mein! Und du bleibst mein, bis ich dich freilasse, oder von deinem Leiden erlöse!«
»Ich würde lieber sterben, als dich zu begleiten.«
»Und ich würde dir diesen Wunsch gewähren.« Isays Lächeln verschwand und tödlicher Ernst mischte sich in seine Miene. »Aber ich weiß, was als Nächstes geschehen wird.« Mit einer Hand an der Kette zog er Anders mit einem Ruck zu sich, brachte seine Lippen neben dessen Ohr in Stellung und flüsterte: »Dein Schloss, deine Truhe, dein Schwert und dein Leben gehören mir. Es spielt keine Rolle für mich, ob es dir gefällt oder ob du vorziehst, dich jeden Tag aufs Neue zu verausgaben. Es ist mir gleich, ob du bis zum letzten Atemzug kämpfen willst oder dich schweigend fügst. Ich habe Zeit, ich habe die Mittel und niemanden, der mir in die Quere kommen wird. Niemand wird erfahren, ob du mir widerstehst, oder nicht. Niemand wird dich sehen oder von dir hören. Deine Heldentaten interessieren niemanden. Und keiner wird kommen, um dich zu befreien. Du wirst diese Mauern nicht mehr verlassen! Deine Glückssträhne endet heute.« Er zog den Kopf zurück und musterte Anders eisig, ehe er die Hand zu einer anmutenden Geste hob und den Kriegern, die mit im Raum standen, ein Zeichen gab. »Schafft das Mädchen und den Krieger fort!«
»Isay!«, stieß Anders aus und kam endlich auf die Füße hoch. »Was willst du von mir?«
»Was ich von dir will?« Isay machte kehrt und schaute Anders mit einer Mischung aus Verwunderung und Unverständnis an. »Mehr als zehn Jahre lang habe ich immer wieder und wieder versucht, dir zu sagen, was ich will! Aber du hast nicht ein einziges Mal zugehört. Und jetzt, da ich all das in Händen halte, was du so erbittert liebst, fragst du mich, was ich von dir will?«
»Wenn ich es bin, den du wolltest, dann lass sie..«
»Ich verhandle nicht mit dir!«, brauste der Dämon auf und schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. Von einer auf die andere Sekunde explodierte sein hitziges Gemüt. Die Flammen, die in seinem inneren loderten, schaufelten sich frei und drohten alles niederzubrennen, was ihnen im Weg stand. »Diesmal nicht! Du hast sie hier hergeholt und ihr Leben damit an die Wand gestellt! Du hast dich gegen mich gewendet und mir den Krieg erklärt, obwohl ich nichts weiter wollte, als deinen Respekt und dein Wort, dass du mich verschonst! Es ist deine Schuld, wenn deine Liebsten diese Mauern nicht lebend verlassen. Du hast ihr Schicksal besiegelt und dein eigenes mit dazu. Diesmal wirst du mir nicht dazwischen funken!«
Seine Stimme bebte und Erregung färbte seine Augen noch dunkler. Er rang mit sich, aber Anders sah unentwegt seine Beherrschung schwinden. Zu jeder Zeit war Isay ungestüm und wild gewesen, beseelt von etwas Bösem, das ihm keinen Freiraum ließ, um klar zu denken. Aber er gewann. Sein Wille und seine Sturheit brachten ihn ans Ziel und Anders ans Ende seiner Kraft.
Aber das durfte nicht sein! Das geschah nicht. Nicht wirklich. Er bäumte sich auf, zerrte und schrie seine Verzweiflung in die stummen Ohren des schwarzen Schlosses. Er kämpfte bis seine Kräfte versiegten und die Dunkelheit zurückkehrte. All das, wovon er sich lossagen und befreien wollte, kehrte mit solcher Wucht zurück, dass ihm Schwarz vor Augen wurde. Das durfte nicht geschehen. Nicht jetzt. Nicht, nachdem er seinem Ziel so nahe und seiner verborgenen Natur so weit entflohen war.
So durfte es nicht zu Ende gehen.
»Wo ist die Truhe? Du weißt, ich finde sie, und wenn ich Stein um Stein auseinandernehmen muss, was du dein Zuhause nennst. Wenn du mir hilfst, gebe ich dir die Chance, einen deiner Freunde zu retten.«
Anders horchte in sich hinein. Da war Kraft in ihm, wenig zwar, aber sie war da und bereit, ihm einen letzten Dienst zu erweisen. Ein tiefer Atemzug passierte die Lippen des Kerubs. Er ließ die Zeit verstreichen, besann sich darauf, zuzusehen, wie sich Krieger aus den Schatten zwängten und langsam aber sicher auf Eyndor und Alex zugingen. Tief in seinem Inneren fühlte er die Last der einzigen Entscheidung, die er noch treffen musste. Zwischen dem, was richtig war und dem, was sein Herz wollte. Er hatte sich entschieden. Nicht jetzt. Schon viel, viel früher. Schon damals, als Alex Eyndor zurückgebracht hatte, hatte er sich selbst geschworen, dass er niemals mehr zulassen würde, dass den jungen Krieger erneut ein solches Schicksal ereilte. Und an dieser Entscheidung hielt er fest. Jetzt und für immer. Der Preis für diese Wahl jedoch, und das wusste er zweifelsohne, kostete ihn alles. Alles, was von ihm geblieben war, alles was er besaß und je besitzen würde, und unter Umständen auch seine Zukunft. Aber Anders wusste längst, dass seine Entscheidung unumstößlich war. Er war kein Mann der Kompromisse. Er wollte alles und bekam nichts. Aber diesen letzten Funken Magie, der noch ihm ruhte, gehörte ihm nicht. Es war die Rettungsleine, die er sich stets beibehalten wollte, um im letzten Augenblick in der Lage zu sein, das Richtige zu tun. Und was er tat, war gerecht.
Anders schaute auf. Er streifte Isay mit einem kurzen Blick und zwang im Anschluss seine gesamte Aufmerksamkeit in jene Ecke, in der Alex und Eyndor kauerten. Ja, was er tat, war richtig.
»Ich wollte nie verhandeln«, flüsterte er daraufhin in das Zimmer und schloss die Augen. »Ihr müsst mir verzeihen.« Er hob die Hand und trotz der magischen Fesseln gelang es ihm, Alex und Eyndor mit seiner Magie zu packen, zu umschlingen und mittels seines Willens durch den Raum zu schleudern. Nicht weit, nur ein paar Meter, aber so unmittelbar vor den Spiegel, dass Alex nur eine Handbreite vom Glas entfernt saß und sofort reagieren konnte.
Mit einem Ruck packte sie Eyndor, zerrte ihn auf die Füße und hinter sich her durch das kurzzeitig aufwallende Spiegelglas. Es geschah schnell, hektisch und geräuschlos. Und es spielte sich direkt vor Isays Augen ab, der gar nicht schnell genug reagieren konnte, als seine Geiseln bereits verschwunden waren.