»Ich bin zu Hause!«
Alex Worte hallten an den Wänden ihres Zimmers wieder. Ich - bin - zu - Hause. Vier Worte, die einzeln ausgesprochen nichts Besonderes waren, doch in Kombination für Alex plötzlich den Himmel auf Erden bedeuteten. Sie konnte es selbst kaum glauben. Doch was hatte sie erwartet? Dass alles verfallen und seltsam wirkte? Dass etwas anders sein würde oder gar alles fort? Hatte sie wirklich angenommen, dass Anders diesmal die Wahrheit gesagt hatte? Wieso hatte sie diesem finsteren Mann so viel Glauben geschenkt, wenn aus seinem Mund doch nichts Lügen kamen?
Sie riss sich von ihren Gedanken los, drehte sich um und hastete zur Tür. Sie war noch immer abgeschlossen. War hier weniger Zeit vergangen? Hatte möglicherweise niemand bemerkt, dass sie fort war?
Mit zitternden Fingern drehte sie den Schlüssel im Schloss und das vertraute Klicken ließ ihr Herz noch höher schlagen.
Ihr Blick fiel auf den Wecker neben ihrem Bett: 18:34. Am selben Tag? Waren hier nur 3 Stunden vergangen in der Anderswelt Tage?
Oder war es nicht mehr derselbe Tag? War hier vielleicht deutlich mehr Zeit vergangen?
Sie öffnete sie Tür, dann wartete sie. Kein Laut war zu hören. Kein Geräusch drang den Flur entlang und an ihr Gehör. Nichts, gar nichts.
»Mama?«, flüsterte sie leise, neigte sich vor und spähte den Flur hinunter. »Papa?«
Durch die drei bodentiefen Flurfenster fiel gleißendes Sonnenlicht in den schmalen Gang. Im Schein des Lichtes bewegte sich Staub durch das Zimmer. Alex hielt den Atem an. Alles wirkte friedlich.
Als wäre sie nie fort gewesen. Als hätte sich nichts verändert, außer ihr selbst.
Alex hielt den Atem an, wagte einen ersten Schritt aus dem Zimmer hinaus und trat auf den Flur. Die morschen Dielenbretter knarrten, genauso wie sie es gewohnt war. Sie ging weiter, Schritt um Schritt, hinüber zur Treppe, und spähte hinab in die offene Wohnküche. Es war hell. Sonnenstrahlen fielen durch die große Fensterfront ins Innere des Hauses. Kleine Staubpartikel glänzten plötzlich, während sie frei in der Luft schwebten.
Alles war still.
»Mama?«, rief sie, diesmal lauter.
Nur das Schweigen antwortete ihr. Allmählich begann sich ein flaues Gefühl im Magen des Mädchens auszubreiten. Wenn es halb sieben war, sollten ihre Eltern in jedem Falle zu Hause sein. Das waren sie immer. Weder ihre Mutter noch ihr Vater hatten Hobbys, die verlangten, dass sie abends das Haus verließen. Ihr Freundeskreis war unter der Woche länger arbeiten als sie, und wenn sie sich sahen, dann meist an den Wochenenden und auch sonst standen keine Veranstaltungen im Raum, die ihre Eltern vereinnahmten. Wenn sie nicht zu Hause waren, war irgendetwas nicht in Ordnung.
War sie doch länger fort gewesen, und ihre Eltern vielleicht längst draußen, um nach ihr zu suchen?
Mit einem Blick musterte das Mädchen das Telefon, das im Flur stand, huschte die letzten Meter hinunter und nahm den Hörer ab. Ihre Finger bebten, doch sie wählte mühelos die Handynummer ihrer Mutter. Es tutete, und Alex hielt den Atem an. Doch niemand meldete sich. Es tutete einfach weiter. Immer weiter. Sie legte auf, nahm den Hörer wieder ab und wählte die Nummer ihres Vaters. Doch das Spiel wiederholte sich. Niemand antwortete ihr. Niemand kam, um sie zu retten, und all ihre Fragen zu beantworten.
Weil niemand da war. Nur sie. Nur Joshua.
Auf leisen Sohlen stahl sich das Mädchen zur Treppe zurück. Kälte zog sich an ihren Beinen hinauf. Eine Diele knarrte.
»Mama?!«
Schnell drehte sie sich noch einmal um. Ihr Blick flog über die ordentlich aufgeräumten Regale, über den sauber geputzten Boden und die frisch gereinigten Fenster. Niemand war hier. Und nichts erinnerte daran, dass hier jemals irgendjemand gewesen war. Alles war zu sauber, zu ordentlich, fast schon steril. Hier lebten keine Menschen. Und schon gar nicht ihre unorganisierten, planlosen und oft unstrukturierten Eltern. Hier lebte keine Familie.
Wieder knarrte es. Das Mädchen fuhr herum und erblickte einen Schemen, der sich an der Wand entlang hangelte, bis er in das Zimmer fiel, in dem sie stand. Rasch folgte das Mädchen dem Ende des Schattens, doch dort, wo der Mensch dazu hätte stehen sollen, stieg feuchter, schwarzer Nebel aus dem Boden auf und verdichtete sich auf den Fliesen der Wohnküche zu einem großen Klumpen, rabenschwarzen Morastes. Schlamm stieg brodelnd zwischen den Dielenbrettern auf und kochte hoch, wie ein Gebräu aus teuflischer Boshaftigkeit. Wie ein Vorbote der Hölle.
Ein Zischen ertönte aus einem Ball finsterer Energie. Alex wich zurück, hinauf auf die erste Treppenstufe, während das Gewirr aus Schemen, Schatten und Finsternis einen Schritt auf sie zukam.
»Alex«, drangen hunderte leise Flüsterstimmen aus dem Inneren des schwarzen Ballens.
Alex hielt den Atem an. Etwas in ihr fühlte sich wie gelähmt. Etwas ließ sie innehalten und zusehen, wie der Ballen aus Finsternis langsam näher kam.
Aus dem Klumpen Dunkelheit stob etwas hervor, das die Konturen einer menschlichen Hand besaß. Wie ein Pfeil schoss es aus dem Gedränge der anderen heraus und berührte zart, fast liebkosend Alex Gesicht. Doch diese eiskalte, tödlich ruhige Berührung war es, die das Eis brach.
Wie vom Donner gerührt fuhr das Mädchen herum und rannte die Treppe hinauf. Sie spürte, dass etwas Böses im Inneren dieses Wesens vor sich ging. Etwas, das sie einsaugen, umschlingen und auffressen konnte, wenn sie zuließ, dass es ihr zu nahe kam. Etwas, das sie entfernt an das Gefühl erinnerte, das sie im Angesicht der Truhe des Kerubs wahrgenommen hatte. Das Böse. Dunkle, schwarze Energie, die ihre Wurzeln in einer anderen Welt hatte.
Das wilde Pochen in ihrer Brust verwandelte sich in den Rhythmus einer schnell geschlagenen Trommel. Zitternd, bebend und blind vor Furcht hastete das Mädchen weiter. Alex zwang sich, auszublenden, dass dies das Haus war, in dem sie aufgewachsen war. Sie erstickte alle Emotionen, die an Bildern, Gedanken und Einzelheiten hängen blieben, die sie all die Jahre über zu Lieben gelernt hatte und rannte über den Korridor zurück.
Am Ende des Ganges war sie einen Blick zurück. Das finstere Wesen hatte das obere Ende der Treppe erreicht. Aus seinem Inneren stoben Hände hervor, krallten sich an Fensterrahmen fest, packten Wände und zogen sich schleifend weiter. Dort, wo das Wesen irgendetwas berührte, geschah etwas mit dem Haus. Es alterte. Tapeten rollten sich herunter, Wände bekamen Risse, der Boden knirschte und brach. Eine unheilvolle Veränderung ging in diesem Haus vonstatten. Was das Wesen berührte, hauchte sein Leben aus und zerbrach. Waren auch ihre Eltern diesem Fluch zum Opfer gefallen? Hatte sie dieses Wesen angelockt?
»Lauf nicht weg!«, flüsterte es über den Gang hinunter. »Isay schickt uns, um dich zu beschützen.«
Mit letzter Kraft warf sich Alex in ihr Zimmer, schloss die Tür und drehte den Schlüssel. Ihre Finger bebten so stark, dass sie kaum nach dem winzigen Silberschlüssel greifen konnte. Dann wich sie zurück. Schritt um Schritt. Er war nicht da. Der Schlüssel, an dem sie sich in den letzten zehn Jahren immer dann festgeklammert hatte, wenn sie insgeheim um Beistand gebeten hatte, war fort.
Sie hatte ihn Eyndor zugeworfen, als besäße er keinerlei Bedeutung für sie. Als sei er nur Ballast, und nicht mehr. Aber insgeheim hatte er Alex Mut gemacht und stets das Gefühl vermittelt, dass alles gut werden würde, weil irgendjemand sie brauchte und über sie wachte. Nun war dieses Gefühl dahin, denn sie wusste, niemand, nicht einmal Anders selbst, interessierte sich für sie. Und wieso auch? Nun, da er seine Truhe, sein Schwert, seinen Freund und seinen Schlüssel zurückhatte, bedeutete Alex nichts mehr für ihn. Sie war nur ein Kind, das sich selbst verdammt hatte.
Joshua, der von der Gefahr nichts ahnte, und offenbar auch nichts spüren konnte, musterte sie aus unwissenden kleinen Augen. Insgeheim beneidete Alex den Rattenmann in diesem Moment. Hatte er denn keine Angst? Spürte er nicht, dass der Tod vor dieser Tür lauerte?
»Lauf nicht weg, Alex. Es macht keinen Sinn. Wir waren lange vor dir hier.«
Von der anderen Seite der Tür näherte sich das Wesen mit einem Scharren. Wie tausende zusammengeraffte Kreaturen, die in Andhera nicht leben und nicht wirklich sein konnten, schob sich dieses Wesen vor, drängte sich vor der Tür zusammen und tastete mit einzelnen Fingern unter der Tür hindurch. »Wir waren immer da.«
»Geh einfach weg!«, schrie das Mädchen. Sie riss beide Hände nach oben, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und drehte sich fort. Es war nicht wirklich. Es war nicht real. Doch so sehr sie auch wollte, diesmal wollte ihr dieser Trick nicht gelingen.
Und langsam verstand sie, dass das Wesen nicht gelogen hatte. Wenn Anders recht hatte, dann war sie immerfort von Isays Schergen, der Gefahr und der Finsternis umgeben. Dann hatte allein sein Schutz und sein Banner dafür gesorgt, dass niemand gewagt hatte, sie anzurühren. Und nun war dieses unsichtbare Schutzsymbol nichtig. Verloren. Und sie mit ihm.
Denn nachdem sie Anders, Isay, Eyndor und die Anderen kennengelernt hatte, wusste sie, dass dort draußen Dinge existierten, die gefährlich waren. Dinge, die sie töten und bedrohen konnten und die ihr niemand glauben würde.
»Mach die Tür auf, Kind«, drang mit einem Mal die Stimme ihrer Mutter aus dem Ballen schwarzer Energie. »Dein Vater und ich wollen dich in die Arme schließen. Du hast uns gefehlt.«
Nein, dachte Alex. Das waren nicht ihre Eltern. Anders hatte nicht gelogen. Um sie zu schützen hatte er eine ganze Welt aus Lügen errichtet, die nun wie ein Kartenhaus in sich eingestürzt war. Nachdem er seine Dämonenwächter aus dieser Welt abgezogen hatte, war es Isay gelungen, seine eigenen Diener hier einzuschleusen. Dieses Wesen war einer davon. Das wusste sie, als die täuschend echte Stimme ihres Vaters unter der Tür hindurch wisperte. Anders hatte sie sich selbst überlassen, genauso, wie sie gewollt hatte. Und nun stand sie allein und wehrlos einem Feind gegenüber, der eine Nummer zu groß für sie war.
»Du musst keine Angst mehr haben. Wir passen von nun an auf dich auf.«
Doch das musste sie. Von außen warf sich etwas mit solcher Wucht gegen die Tür, dass im Inneren ihres Zimmers Putz von der Wand rieselte. Das Scharnier der Tür quietschte und bog sich leicht nach innen durch. Nicht lange und dieses Höllenwesen fand einen Weg zu ihr hinein. Und dann war das Ende gekommen. Das endgültige, unausweichliche, eiskalte Ende.
Eyndor hatte recht gehabt. Nach alledem, was sie wusste, wäre Anders in diesem Augenblick das kleinste aller Übel gewesen.
Ein zweites Mal warf sich das Geschöpf gegen die Tür. Das obere Scharnier der Tür brach knirschend aus den Angeln und nur das untere hielt die Tür zusammen. Doch die obere, deutlich zerbeulte Hälfte der Tür, brach wie ein Streichholz dahin. Ein kaum fünf Zentimeter breiter Spalt zwischen Türplatte und Rahmen reichten aus, damit sich das Wesen in Form dünner Nebel einen Weg ins Innere des Kinderzimmers bahnen konnte. Dort, wo der dunkle Rauch die Tür berührte, faulte das Holz und ein moderiger Geruch erfüllte den angrenzenden Raum. Die Wände begannen, sich zu verändern. In dicken Brocken und in Form feinen Staubs rieselten ihre Erinnerung mit dem Putz von den Wänden und der Decke. Das Wesen kam herein und fraß all ihre bildlichen Erinnerungen an ihre Kindheit.
Ein Quieken ertönte und Alex sah, wie Joshua in ihren Ärmel huschte und sich dort zusammenkauerte. Was sollte er auch anderes tun?
Dann brach für das Mädchen eine Welt zusammen. Wie zähflüssiger Teer tropfte das Wesen vom freigelegten Türrahmen hinein und bildete eine Lache aus rabenschwarzem Morast direkt auf dem Teppich ihres Zimmers. Alex Herz setzte einen Augenblick lang aus, dann berührte sie etwas, so kalt wie der Hauch des Todes.
Das Wesen begann, sich zu verdichten. Eine Hand stob aus dem Gewirr aus Dämonenseelen und Leibern hervor und packte sie so hart am Knöchel, dass das Mädchen den Halt verlor und zu Boden ging. Es begann an ihr zu reißen, und zu zerren. Ein schmerzerfüllter Angstschrei entwich ihrer Kehle und dann geschah alles plötzlich viel zu schnell.
»Dummes, kleines Ding. Dich aus dem Schutz der sicheren Festung wagen.« Aus den Stimmen erhob sich ein Lachen, das Alex trotz der sonoren Mehrstimmigkeit überall wiedererkannt hätte. Es war Isay. Isays Stimme. Sein Gelächter. Er selbst steckte irgendwo in diesem Wesen. Irgendwo in diesem Ungeheuer. »Bist du gekommen, um den Tod zu finden?«
Ein Sturm, der dem Herzen der Kreatur entsprang, packte sie und riss sie mit einem Schlag ins Innere der nebelhaften Kreatur. Sofort wurde es kalt um Alex herum. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, ihre Gedanken wurden ruhiger und etwas in ihr hatte begriffen, dass es keinen Ausweg geben würde. Das, was sie da gepackt und eingesaugt hatte, war ein Klumpen bloßgelegter Boshaftigkeit. Ein Wesen, das nur dazu da war, um sie zu vernichten. Es hielt sie gepackt und drohte sie mit all seinem Zorn, seiner Wut und allem Schrecken unter sich zu begraben. Etwas ganz und gar Böses schwemmte wie eine Welle über ihr zusammen.
»Und eines Tages«, drang eine sanfte, eindeutig weibliche Stimme aus dem Monsterball, »wird ein Kind der Anderswelt mit seinem Erscheinen den Kampf für sich entscheiden. Durch seine Hand siegt oder fällt der Gesandte der Götter. Durch sein Licht wird das Dunkel zerteilt.«
»Das bin ich nicht«, würgte das Mädchen hervor. »Das war ich nie! Ihr irrt euch! Ihr alle!«
»So wie es geschrieben steht, so soll es geschehen. Ein einfaches Kind, kein Krieger, kein Dichter, kein Zauberer - nur ein Kind mit einer besonderen Gabe.«
Ein totes Kind.
Dies war der Augenblick, in dem Alex zum allerersten Mal ihren eigenen Tod fühlen konnte. Wie ein Schleier spannte sich der Abschied um ihre Glieder. Es fühlte sich kühl an und doch schwerelos, fast befreiend. Wie eine Last, die aus ihren Gliedern gespült wurde und von der sie sich endlich befreien konnte. Anders trieb von ihr weg, Eyndor, Nuin, der Verlust ihrer Familie und ihrer Kindheit. Alle Lügen wurden von ihr abgewaschen, wie der Schmutz der Wirklichkeit und eine nie gekannte Freiheit machte sich in ihr breit. Aus dem Zentrum der emporsteigenden Kälte, wandelte sich jedes ihrer Gefühle in Wärme. Die Gefahr zog immer weiter von ihr fort - bis sie mit einem Schlag zurückkehrte.
Alex schlug die Augen auf und sah zwischen den Schemen hindurch ein gleißend helles Licht näher rücken. Eine von weißem Schein eingehüllte Kreatur, die mit gezücktem Schwert Schritt um Schritt näher rückte. Fauchend zog sich das Schattenwesen zurück. Die Kälte kehrte zurück und sog mit einem Schlag all die Wärme und vorherrschenden Glücksgefühle aus der Brust des Mädchens.
Durch einen milchigen Schleier aus Benommenheit hindurch sah Alex, wie das leuchtend helle Wesen das Schwert ein letztes Mal hob und die Klinge ins Innere des Schattenwesens grub, woraufhin dieses mit einem unmenschlich gluteralen Schrei auseinanderstob und in einzelne, rabenschwarze Schattenfragmente zerfiel, die verblassten, noch ehe sie den Grund berührten.
Sofort wurde das Mädchen von zwei starken Händen gepackt.
»Alex«, flüsterte eine Stimme, der es kaum gelingen wollte, ihre Geistesdämmerung zu durchdringen. »Alex, komm zu dir..«
Doch der Geist des Mädchens driftete unaufhörlich ab, in eine andere, friedliche Welt, in der es keinen Krieg, keine Dämonen, und keine Schattenwesen gab.
»Halte durch.«
Etwas schloss sich um sie, wie ein schützender Mantel. Die Wärme kehrte nur langsam, Stück für Stück zurück in ihre Glieder. Sie streckte die Hand aus, um ihren Retter zu fassen und bekam nichts weiter zu greifen, als eine einzelne, pechschwarze Feder, die sie mit aller Macht umklammert hielt, als ihr Bewusstsein in Schwärze ertrank.