Das Erwachen war nicht sanft. Es kam mit aller Wucht und brachte sofort alle Erinnerungen und Bilder zurück. Sie sah die verschwommenen Konturen einer Hand, die sich langsam zurückzog.
„Schlaf noch etwas.“
Die Worte der Stimme glichen einem Zauber, der ihre Lider schloss und ihr Bewusstsein noch einmal in die Tiefe riss.
Der Schlaf kam abrupt und überwältigte sie, und während sie schlief, wurde es wiederholt hell und dunkel um sie herum. Alex bekam von alledem nichts mit. Sie schlief und erstarkte, spürte förmlich, wie ihr Körper neue Kraft gewann und dann und wann, wie jemand sie erneut berührte. Immer dann, kurz nach dieser sanften Berührung dieser fremden Hand, wurde es besser. Alles wurde besser. Ihr Kopf hörte auf, zu schmerzen, ihre Glieder fühlten sich augenblicklich entspannter an, ihre Gedanken sorgenfrei und erholt. Dieser Zustand hielt so lange an, bis eine eigenwillige Schwere ihr Erwachen ankündigte.
Nicht doch, dachte sie und wünschte sich die liebevolle Leichtigkeit ihrer Träume zurück. Jenseits der verschwommenen Traumwelt wartete die harte Realität auf sie und sie wusste genau, was das bedeuten würde: Sich der Wahrheit stellen, dass Anders nicht gelogen hatte. Ihre Eltern, ihre Familie, ihr Zuhause - alles war fort. Und wenn es einen Weg gab, das alles zu verarbeiten, dann hatte sie ihn bislang nicht gefunden.
Sie blinzelte. Das Erste, was sie sah, war die Decke hoch über ihr. Sie bestand aus Stein. Aus grauem Stein ohne Verzierungen und Schnickschnack. Es war die Decke eines Schlosses, einer Festung. Sie befand sich wieder im Schloss. Konnte das die Wirklichkeit sein? Waren all ihre Bemühungen, ihm und diesem Albtraum zu entkommen zu Nichte gemacht?
„Ich dachte schon, du willst nicht aufwachen.“
Die Stimme war sanft. Sie klang besorgt und dennoch warm. Alex erschrak nicht. Sie konnte fühlen, dass da jemand war. Sie blinzelte und wieder saß jemand am Fuße ihres Bettes.
Ihres Bettes, nur weil zweimal darin geschlafen hatte. Sie stemmte sich hoch. Es war ein anderer Raum. Nicht der, indem sie das letzte Mal zu sich gekommen war. Dieses war größer, heller. Ein größeres Zimmer aber mit demselben Bett darin, mit wunderschöner, weicher Bettwäsche. Ein Raum mit Fenstern, vor denen cremefarbene Vorhänge hingen und einem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand.
"Ich bin da", formten ihre Lippen, aber noch wollte ihre Stimme keine Worte bilden.
In ihrem Rücken lagen drei große, aufgeplusterte Kissen, die ihr dabei eine gute Hilfe waren. Und dann erkannte sie, dass es auch diesmal Eyndor war, der bei ihr saß.
Durch Fenster fielen gleißende Sonnenstrahlen herein und hüllten seine Gestalt in einen goldenen Schimmer. "Der grauen Göttin sei Dank", stieß er hervor und faltete die Hände vor den Lippen, als würde er ein Stoßgebet zum Himmel schicken. "Ich bin so froh, dass du endlich aufgewacht bist. Ich hatte wirklich Angst um dich."
"Was ist passiert?“, murmelte sie. Ihr Blick glitt hinab zu ihrer rechten Hand, die noch immer etwas fest umschlungen hielt, als wäre dies der einzige Halt in ihrem Leben. Vorsichtig zog sie ihre Finger unter der Decke hervor und betrachtete lange fassungslos die riesige dunkle Feder, die sie fest umschlossen hielt wie einen Schatz. "Was hat mich angegriffen? Wie bin ich hierher gekommen?"
"Ein Schattenwesen hat dich verwundet", sagte der Krieger daraufhin. "Ein Dämon, der in deiner Welt auf dich gewartet hat. Er hätte dort eigentlich gar nicht sein dürfen. Das passiert, wenn Dämonen durch Pforten gehen, die ihnen nicht offenstehen sollten."
Und aus diesem Grund hatte Anders die Spiegel zerstört, durch die Isay seine Schergen schicken konnte. Jetzt langsam ergab es Sinn. Und plötzlich wusste sie, dass er es für sie getan hatte. Damit es keinem Dämon je gelingen konnte, sie und Anders mysteriösen Schlüssel zu finden. Er hatte all diese Spiegel zerstört, damit sie in einer Illusion in Sicherheit leben konnte. Damit sie ein Leben frei von Angst führen durfte.
Sie atmete tief.
Mit seinen Augen betrachtet war diese Geste tatsächlich eine Gnade.
"Es war wie unzählig viele Schatten auf einem Haufen", erinnerte sie sich. Ein Schauer strich über ihre Haut. "Ich habe Isays Stimme gehört, bevor ich ohnmächtig geworden bin. Wie ist das möglich?"
"Der Dämon hat dich nur mit deinen Ängsten konfrontiert." Er seufzte, neigte sich ein wenig vor und setzte sich gerade auf. "Du hast großes Glück gehabt, dass er dich nicht umgebracht hat. Ein Augenblick später, und keine Macht der Welt hätte dich noch retten können. Dieses Wesen hat dir dein Leben weggenommen. Du hättest sterben können."
Sie verstand seine Worte, denn immerhin hatte es sich bereits so angefühlt, als würde sie sterben.
"Und jetzt möchtest du, dass ich dir verspreche, dass ich niemals dorthin zurückgehen werde?"
Eyndor hob eine Augenbraue. „Nicht einmal du wärst verrückt genug, es noch einmal zu versuchen.“
„Unterschätze nie eine wütende Frau.“
„Niemals.“ Eyndor lächelte. Er schien nicht amüsiert, aber Alex kleiner Scherz zeigte dennoch Wirkung. Er lockerte die starre Miene des Kriegers. "Ich verstehe, dass du Zeit brauchen wirst, um darüber nachzudenken, aber Anders möchte, dass du bleibst. Er bietet dir an, das Schloss zu deinem Zuhause zu machen. Einen Ort, an dem du sicher bist. Er bietet dir Schutz, nachdem er dich in diese schwierige Lage gebracht hat. Du solltest sein Angebot überdenken. Egal, was du über ihn denkst, er meint es gut mit dir. Auf seine eigene, seltsame Art. Mit ihm an deiner Seite ist dies der sicherste Ort in ganz Andhera für dich. Isay wird dich hier nicht angreifen können."
"Und im Gegenzug soll ich wieder sein kleines Schlüsselmädchen sein", vermutete sie. "Seinen Schatz bewachen.“ Sie schürzte die Lippen. „Ich habe die Truhe gesehen, und das Schwert. Ich habe den Schlüssel nicht mehr. Was will er noch von mir?"
Eyndor schüttelte rasch den Kopf. "Er will deinen Schlüssel nicht, und er will deine Hilfe nicht. Wenn es nach ihm ginge, wärst du nicht einmal hier. Aber das Schicksal interessiert sich nicht für unsere Pläne. Und es hat dich auserwählt, an seiner Seite zu stehen. Ich habe mich vorgestern sehr lange mit ihm unterhalten. Ich weiß, zwischen euch ist sehr viel vorgefallen, aber er wird dir nichts tun und nichts von dir verlangen. Er würde dich niemals verletzen."
"Und wieso kann er mir das nicht selber sagen?"
Plötzlich huschte ein ernster Ausdruck über sein Gesicht und ließ ihn alt erscheinen. Zu alt. "Er schläft. Es geht ihm nicht sonderlich gut."
"Ist er krank?“
Hellhörig geworden zog Alex die Brauen zusammen. Konnte jemand wie er überhaupt auf herkömmliche Weise erkranken? Nicht auszudenken, was es für diese Welt bedeuten könnte, würde ihr Wächter wegen einer Grippe den Kampf gegen Isay verlieren.
"Er ist dir nachgelaufen, Alex. Gleich, nachdem ich dich habe gehen lassen, beschlich mich dieses Gefühl, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben. Ich ging zu ihm und erzählte ihm, wohin du gehen wolltest. Anders hat keinen Moment gezögert, sondern ist dir durch den Spiegel nachgesprungen. Er hat dich gerettet."
Wie ein Stein breitete sich die Wahrheit in ihrem Magen aus. Das Licht, das sie gesehen hatte. Das war er gewesen? Es war ihr so warm und vertraut erschienen. Beinahe heilig. Nichts davon wollte zu dem grausamen Krähenprinzen passen, den sie kennengelernt hatte. Und doch erinnerte sie sich an die Feder. An eine einzelne, schwarze Feder in ihrer Hand.
Sie drehte den Kopf. Und da war sie. Sie musste ihr aus den Fingern gefallen sein. Neben ihr lag auf einem kleinen, hölzernen Nachttisch die große, dunkle Feder.
Er hatte sie gerettet. Und sein Leben dabei aufs Spiel gesetzt.
Verwirrung nagte an Alex Verstand. Wieso sollte er..? Ihr stockte der Atem. Am dunkelsten Punkt seines Lebens war er zu ihr gekommen. Und hatte ihr ein Geschenk machen wollen. Damit sie nicht leiden musste, wie er. Er hatte gewollt, dass sie alles bekam. Alles Glück, nach dem sie sich sehnte.
Alex Finger krallten sich in die Laken, auf denen sie hockte.
"Ist er verletzt worden?"
Der Zweifel machte ihre Stimme klein. Sie klang ein wenig hohl. Sorgte sie sich etwa? Um das Monster, das sie Isay zum Fraß vorgeworfen hatte? Um den Mann, der aus ihrem Leben eine Lüge gemacht hatte? Nur, weil er ihr einmal das Leben gerettet hatte?
"Anders hat den Dämon getötet. Glücklicherweise, noch ehe er dir das letzte bisschen Leben aus dem Leib saugen konnte. Er hat dich hergebracht und geheilt. Seine Magie ist stärker, als du dir vorstellen magst. Aber auch die hat Grenzen. Er hat das Schwert benutzt und dessen Magie fordert immer einen Tribut."
"Wird er sich erholen?"
"Ja. Aber du solltest ihm ein paar Tage Zeit geben, bevor du anschreist."
Er zwinkerte Alex zu. Sie mochte seine Art, die Welt zu sehen. Sein Wesen entsprach so gar nicht der rauen Welt des Krieges. Eyndor besaß ein gutes Herz und einen wachen, klugen Verstand. Er war die gute Seele in einem Morast aus Dunkelheit.
Und auch jetzt wirkte seine Leichtigkeit beschwichtigend auf Alex.
Sie nickte und löste die verkrampften Finger vom Stoff des Lakens.
„Er ist erst vor einer Stunde gegangen“, fuhr er fort. „Drei Tage lang ist er dir nicht von der Seite gewichen und ich hatte vorhin meine Mühe damit, ihn rauszuwerfen. Er wollte gern mit dir sprechen, wenn du aufwachst. Aber er war müde und brauchte Ruhe.“
Anders hatte an ihrem Bett gesessen. Drei Tage lang. Genau wie damals, als sie klein war, und er drei Nächte lang zu ihr gekommen war. Im Nachhinein waren Alex ein paar Dinge klar geworden. Es stimmte. Die Erinnerung an den Mann, der an ihrem Bett saß, war die früheste Erinnerung aus ihrer Kindheit, die sie besaß. Alles andere, alles, was danach kam, war ein Geschenk gewesen. Eine Wiedergutmachung. Weil sie zuvor keine Familie gehabt hatte, und kein Leben, an das sie sich erinnern wollte.
Wo waren diese Erinnerungen hin gewichen? Hatte Anders sie verschwinden lassen?
Angesichts ihres verwirrten Gesichtsausdrucks wurde Eyndors Lächeln breiter. "Du glaubst mir nicht, oder?"
"Es fällt mir wirklich schwer, zu glauben, dass der Mann, der mich Isay zum Fraß vorwerfen wollte, in Sorge um mein Wohlbefinden ist."
"Aber so ist es. Du hast seinen Blick nicht gesehen, als ich ihm sagte, dir könnte etwas zugestoßen sein. Es war das erste Mal seit meiner Rückkehr, dass ich in ihn wiedererkannt habe. Der Mann, der ohne Grund die Bürde eines fremden Jungen auf seine Schultern geladen hat. Und der für ein fremdes Mädchen eine mächtige Illusion erschafft. Du solltest mir ihm reden."
Das Unbehagen kehrte langsam zurück.
Selbst wenn sie gewusst hätte, was sie sagen sollte, wie sollte sie dem Mann in die Augen sehen, der all diese schrecklichen Dinge gesagt und getan hatte und vergessen, dass es je geschehen war? Es schien unmöglich.
"Eine gute Idee. Ihr solltet euch aussprechen. Es gibt viele ungesagte Dinge, die zwischen euch stehen. Gib ihm eine Chance und er wird dich nicht abweisen."
"Du weißt nicht, was du da von mir verlangst."
"Doch, das weiß ich. Er hat dir vorgespielt, jemand anderes zu sein. Er hat dein Vertrauen missbraucht, dich manipuliert, er hat dir einen Freund genommen, und du denkst, er hat dich wissentlich Isay ausgeliefert und dein Leben riskiert."
"Genau das hat er getan."
„Du weißt, was er getan hat. Er hat Isay wissen lassen, wie wertvoll du bist. Selbst wenn ihm gelänge, dich zu holen, er würde dir kein Haar krümmen. Er wollte dich behalten und mich gehenlassen. Als Anders dich schickte, hat er dich vor Isay damit zur wichtigsten Person in ganz Andhera erklärt. Er hat dich beschützt, Alex. Auf seine verdrehte Denkweise hat er dir damit das Leben gerettet."
Alex Gehirn ratterte. Ihre Schläfen schmerzten. "Er hat mich gebranntmarkt.."
"Isay wird alles dafür tun, damit ihm kein potentielles Druckmittel verloren geht. Deshalb lebe ich noch, und aus diesem Grund wird er auch dich nicht mehr anfassen. Nie wieder."
"Und du glaubst ihm?"
"Er war zur Stelle, als du ihn gebraucht hast. Was immer du ihm vorwerfen willst, diesmal hat er alles richtig gemacht."
Das stimmte. Vor Alex innerem Auge erschien noch einmal ein Echo des Lichtes, das sie vor ihrer Ohnmacht wahrgenommen hatte. Das Licht und die Feder, der letzte Gegenstand, den sie zu fassen bekommen hatte. Sie senkte den Blick und betrachtete ihre Finger, die noch immer fest darum geschlossen waren, als handle es sich dabei um das Kostbarste, das sie besaß. Und genau genommen war es das auch. Nachdem sie alles verloren hatte, symbolisierte diese Feder das Leben, das sie gewonnen hatte.
"Ja", murmelte sie schließlich. "Du hast sicher Recht. Was soll ich tun?"
"Ruh dich aus. Ich sorge dafür, dass dir ein Bad eingelassen wird und du frische Kleider bekommst. Wenn du fertig bist, und dich gut genug fühlst, warte ich unten mit dem Essen auf dich. Einverstanden?"
Alex nickte, sicher war sie jedoch nicht wirklich. Dennoch waren die Karten neu gemischt worden und sie hatte schmerzlich erkennen müssen, dass sie nicht in der Lage war, mit dem besten Blatt zu glänzen. Im Augenblick, so schien es jedenfalls, waren Anders und sein Schloss ihre einzige Chance.