Der Eingang zur Feste des Dämons lag hinter einem wuchernden Ast, besetzt mit scharfen Dornen, die wie Klauen an Alex Kleidern zerrten. Sie betrat den Gang und fühlte augenblicklich die Präsenz etwas so unsagbar Finsteren nahen, dass ihr Worte fehlten, um zu erklären, wie kalt es plötzlich wurde. Nicht um sie herum. Aus der Höhle drang zwar ein leichter, kühler Hauch, doch die wahre Kälte, die durch ihren Körper rauschte, entsprang ihrem Inneren. Sie drehte sich um und sah im fahlen Mondlicht, das von draußen hereindrang, wie Anders ihr nachfolgte und es dann finster um sie wurde.
»Hier«, hörte sie seine Stimme und spürte kurz darauf eine Berührung an ihrer Handkante. Sofort packte sie zu, schlang ihre Finger um seine und spürte, dass er in der Dunkelheit schmunzelte. »Ich kann ihm Dunkeln besser sehen als du. Also lass mich vorgehen, und halt dich an mir fest. Bevor wir losgehen noch ein paar letzte Worte der Warnung. Der Krähenprinz ist gerissen und seine Magie ist groß. Er kann dir Dinge zeigen, die nicht real sind. Er könnte deine Eltern erscheinen lassen und versuchen, dich zu verführen. Wenn er mitbekommt, dass wir hier sind, wird er all seine Macht darauf verwenden, uns zu entzweien, um uns zu schwächen. Wenn wir getrennt werden, musst du das Schloss um jeden Preis verlassen und zu einem anderen Zeitpunkt wiederkehren.«
»Und du?«
»Um mich solltest du dir weniger Sorgen machen, als um deine eigene Haut. Er hat, soweit ich weiß, keine Botschaft bekommen, dass ich ihn vernichten will.« Selbst in tiefster Finsternis konnte Alex die besorgten Blicke des Kriegers auf sich spüren. Sei einfach vorsichtig. Lass mich nicht los, ganz gleich, was du siehst oder hörst und vertrau nur auf dich. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Vertraue niemandem. Nicht einmal mir.«
»Ich habe Angst«, gestand das Mädchen ein wenig schüchterner als sonst. Alex hatte sich immer für recht furchtlos gehalten. »Große sogar.«
»Halt dich an das, was ich dir sage, und ich verspreche dir, dir wird nichts geschehen. Lass nicht los.«
Sie nickte, erinnerte sich dann jedoch daran, dass Anders diese Geste unmöglich gesehen haben konnte und erwiderte leise: »Versprochen.«
Fast augenblicklich war ihr, als wäre sie mit der Last, die auf ihren Schultern ruhte, nicht mehr alleine. In ihrer Brust breitete sich Wärme aus und es dauerte nicht lange, bis sie begriff, dass dort tatsächlich etwas lag, das sie wärmte.
Gleich darauf verspürte sie sanften Druck an ihrer Hand und wusste, dass sich Anders in Bewegung gesetzt hatte. Langsam einen Fuß vor den anderen setzend, folgte sie ihm nach. Der Krieger schien mit der bedrängenden Finsternis offenbar weniger Schwierigkeiten zu haben, als sie selbst. Denn Alex war quasi blind. Die wenigen Umrisse, die sie in dieser Dunkelheit noch ausmachen konnte, reichten kaum zur Orientierung aus. Und so klammerte sie sich noch fester an die Finger des Kriegers. Hinter ihnen verschwand das letzte hereinfallende Licht und plötzlich war nur Schwärze um sie herum. Alex fand kein Maß, um die Entfernung zu bestimmen, die sie bislang zurückgelegt hatten.
Sie zählte Schritte. Zehn. Fünfzehn. Hundert. Einhundert Meter ins Reich des Dunklen Engels hinein. Und weitere fünfzig Schritte. Irgendwann schloss sie für eine Weile die Augen und versuchte irgendetwas auszumachen. Irgendeinen Laut, den weder sie noch Anders selbst verursachten, doch kein Geräusch drang an ihr empfindliches Gehör. Bis-
»Anders«, fiel es brüchig von ihren Lippen, als ihre Augen etwas registrierten. »Ich glaube, irgendetwas hat sich bewegt, dort vorne. Magst du nicht vor mir gehen mit deinem Schwert?«
Schmunzelnd nickte der Krieger und kurz darauf verkündete ein leise schleifender Laut, dass er tatsächlich sein Schwert gezückt hatte, und schwer in seiner freien Hand wiegte. Ein Schwert war nicht viel im Kampf gegen den Herren der Schatten, dachte Alex, doch besser als nichts. Und sie hatte gesehen, wie der Krieger damit umgegangen war.
In diesem Moment streckte Joshua seinen Kopf aus Alex Kragen hervor und lugte aufgeregt ins Dunkel. Leise quiekend reckte er die Nase mit den feinen Tasthärchen in die Höhe, als läge etwas in der Luft, das nur er wahrnehmen konnte.
Vor ihnen begann sich in der Dunkelheit etwas zu bewegen. Es war wie ein Schatten und doch von fester Gestalt. Langgezogen, dunkel und schlaksig, wie ein Gespenst, mit rabenschwarzer Haut und völlig gesichterlos.
»Bleib bei mir«, sagte der Krieger. »Der tut uns nichts. Hier unten ist gar nichts, wie es scheint.«
»Was ist das für ein Wesen?«
»Ein Dämon. Irgendein niederes Schattenwesen, wie sie dem finsteren Kerub angeblich in Scharen folgen. Unheimlich, aber nicht gefährlich. Sie leben in den Schatten und verbergen sich in Höhlen und Löchern. Wahrscheinlich hat er kein Interesse an uns. Aber er wirkt abschreckend. Und das reicht oftmals aus. Er soll uns Angst machen.«
»Es funktioniert wunderbar«, murmelte das Mädchen.
Und tatsächlich. Als sie näher kamen, riss es ganz erschrocken die klauenbesetzten Hände vor die Augen, stieß einen Schrei aus, der einem knarrenden Türgelenk glich, und presste sich so fest an die Wand zurück, dass die beiden problemlos passieren konnten. Alex sah zurück. Das Wesen hielt noch immer sein kaum vorhandenes Gesicht vor ihnen verborgen, als würde ihre Nähe ihm Schmerzen bereiten und machte keinerlei Anstalten, sie zu verfolgen.
›Weil er dich gar nicht sehen kann‹, wisperte da die Dunkelheit zum ersten Mal mit Alex eigener Stimme. ›Weil ihr es aus eigener Kraft nie ins Innere des Schlosses schaffen könnt.‹
Und gerade als die Stimme verebbt war, begann eine Macht in der Höhle aufzubegehren. Etwas, das wie ein Sturm an Alex Hand zerrte und sie beinahe dazu veranlasst hätte, Anders loszulassen. Sie drängte sich näher an den Krieger heran, schloss ihre Finger fester um seine und spürte bald, wie Angst in ihr aufkeimte. Das Gefühl, das die Wand mit tausenden von blinden Augen gesäumt war, die ihnen entgegen blinzelten und ihnen folgten, hielt das Mädchen gefangen und zwang sie kurzerhand, die Augen erneut zu schließen. Das Herz in ihrer Brust wummerte nun wild und drohte, sie zu verraten.
»Es ist alles nicht real«, murmelte sie vor sich hin. »Gar nichts hier ist real.«
›Oh doch‹, erklang Anders Stimme. ›Es ist alles real. Und wir werden vermutlich sterben. Du und ich. Wir sterben hier unten.‹
Erschrocken riss Alex die Augen auf. »Bitte?!«, stieß sie hervor.
Sofort blieb Anders stehen, drehte sich um und musterte sie stirnrunzelnd. »Alles in Ordnung mit dir? Hast du etwas gesagt?«
»Du glaubst, dass wir sterben werden?«, fragte das Mädchen entsetzt.
Der Krieger blinzelte ungläubig in ihre Richtung. »Nein, ich sagte, dass hier nichts ist, wie es scheint und dass du mich nicht loslassen sollst.« Plötzlich wirkte er besorgt und drohte, den Griff um ihre Hand zu lockern. »Alex, vielleicht waren die letzten Stunden etwas viel für dich und wir sollten zurückgehen und es morgen nochmal versuchen? Das Schloss läuft dir nicht davon. Du scheinst mir angeschlagen. Vielleicht sollten wir-«
»Nein!«, entgegnete das Mädchen schnell. »Ich dachte nur, du hättest etwas gesagt.«
»Das habe ich nicht«, meinte Anders daraufhin. »Hier unten ist eben nichts, wie es scheint. Halt dich fest. Der Schlossherr wird versuchen, uns zu trennen. Hör nicht auf das, was die Stimmen sagen. Solange du meine Hand hältst, wird alles gut. Ich gebe dir bescheid, wenn du Angst haben musst.«
Nickend setzte sich das Mädchen wieder in Bewegung. Doch diesmal war sie vorsichtiger. Einmal hatte der Krähenprinz sie bereits ausgetrickst. Ein zweites Mal sollte es ihm nicht gelingen. Sie hielt den Atem an und versuchte, das Trommeln ihres Herzens zu missachten. Steine knirschten unter ihren Sohlen. Sie senkte den Blick hinab und bemerkte, dass sie auf etwas Erhabenes getreten war. Etwas, das hart wie Fels war und weiß wie.. Knochen.
Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen und ließ kurzerhand die Finger des Kriegers beinahe los. Im letzten Augenblick jedoch gelang es ihr, den Kontakt zu seinen Fingerspitzen zu wahren, schnell zu ihm aufzuschließen und wieder fest zuzupacken. Der Boden zu ihren Füßen war mit Knochen gesäumt. Lange, kurze, Knochen, die von Menschen stammten und kleine, die sicher zu irgendeinem Tier gehörten. Knochen, Knochen und nochmals Knochen. Sie hatten eine Kathedrale aus Tod und Überresten aufgetan. Den letzten Ort, an dem das Mädchen wirklich sein wollte.
»Alles gut«, sagte Anders plötzlich. »Komm einfach weiter.« Dann erstarrte er und fuhr herum. »Alex?«
Sie schloss ihre Hand, so fest sie konnte, um seine eiskalten Finger und da bemerkte sie plötzlich, dass es gar nicht seine Finger waren. Es war eine eiskalte, schmale Knochenhand, die sie zu fassen bekam. Eine, die schon lange tot war und gewiss nicht zu Anders gehörte.
Plötzlich setzte ihr Herzschlag aus. Sie hob den Blick und schaute in jene Richtung, in der der Krieger stehen musste. Entsetzt sah dieser auf seine Hand hinab, die nun leer war, schaute zu ihr hinüber und streckte blitzschnell den Arm aus, um nach ihren Fingern zu greifen. Doch der Sturm kehrte mit unbändiger Kraft zurück. Sand und Knochenstaub wurden aufgewirbelt. Alex hob die Hand um ihre Augen abzuschirmen, und als es vorüber war, war der Fleck, an dem Anders gestanden hatte, plötzlich leer.
Eine eisige Kälte, wie der Hauch des Todes, legte sich um Alex schmalen Leib. Die Furcht kroch auf Spinnenbeinen ihre Haut hinauf. Tausend winzige Beinchen kribbelten auf ihrem Körper. Gehetzt flog ihr Blick umher, doch Anders war verschwunden.
»Alex!«
Aus dem Nichts drang, wie aus großer Ferne seine Stimme an ihre Ohren. Ein knirschendes Geräusch ertönte, etwas, das nach berstenden Knochen klang, gefolgt von einem animalischen, schmerzgepeinigten Schrei und dem unerträglich lauten Kreischen einer unbeschreiblichen Stille. Nur ihr Herzschlag brach das Schweigen der steinernen Wände, dem eine unnachgiebige Wahrheit folgte: Sie war alleine.
Am Grunde ihres Herzens wusste Alex plötzlich, dass sie und Anders getrennt worden waren. Dass der Kerub für diesen Augenblick einen Sieg errungen hatte und sie in der Dunkelheit verloren sein würde, wenn sie vor Angst versteinerte. Doch der Gedanke, auch nur einen Schritt weiterzugehen, erschien ihr unerträglich.
Wenn sie stehenblieb, gewann der Feind.
Die Furcht lähmte all ihre Glieder und tastete mit Geisterfingern nach ihrem wild pochenden Herzen. Ihr Innerstes schien sich in Stein zu verwandeln oder bereits versteinert zu sein.
Sie hielt den Atem an. Ihr Blick floh in die Finsternis. »Anders..?«, wisperte sie. »Anders..?«
Doch er antwortete ihr nicht und eine angstvolle Vorahnung sagte ihr, dass er es nie mehr tun würde. Was auch immer sie binnen eines Sekundenbruchteils voneinander losgerissen und getrennt hatte, hatte mit gnadenloser Härte dafür gesorgt, dass Anders sie nicht mehr hören konnte. Weil er zu weit fort war. Weg von ihr. Weg von diesem Ort und vielleicht längst tot.
Es war dieser Augenblick, die undurchdringbare Stille und der Schrecken, der sie erfüllte, der Alex urplötzlich vor Augen hielt, was sie längst gewusst hatte. Sie waren mit dem Eintritt in diese Schattenwelt verloren gewesen. Und Anders hatte seinen Preis bereits gezahlt. Er hatte ihr nichts abverlangt. Nur eine winzige Aufgabe aufgetragen. Lass nicht los. Und dennoch hatte sie beim ersten Hindernis, beim ersten Trick des Engels augenblicklich losgelassen. In diesem Moment wusste sie es. Dass die Macht des Dunklen Prinzen so gewaltig war, dass sie nicht einmal mitbekommen hatte, wie er sie gegeneinander ausgespielt hatte.
Alex schloss die Augen, als das Gefühl in ihr einer Gewissheit glich, dass Anders nicht mehr am Leben war. Eine einzelne Träne schob sich unter ihrem geschlossenen Augenlid hervor und lief über ihre Wange hinab.
›Willst du nicht weitergehen?‹ Die Stimme kehrte schleichend zurück und wisperte leise in die Gedanken des Mädchens. Die Angst wollte nicht verebben und doch zwang sich Alex, die Augen aufzuschlagen, nach dem Schlüssel zu tasten, der ihr um den Hals hing, und den Blick nach vorne zu richten. Dieser Augenblick entschied über ihr ganzes Leben. Obwohl sie nie einem Kampf wie diesem gegenübergestanden hatte, war es Wut, die sich unter ihre Angst mischte. Sie mochte Anders. Er war ein Freund, der ihr vertraut, und dem sie ein Fleckchen in ihrem Herzen freigemacht hatte. Der Kerub stand zwischen ihnen, aber das hieß nicht, dass es keinen Ausweg gab. Lediglich, dass es schwierig war. Und sie wusste nicht mit absoluter Sicherheit, dass Anders tot war. Nein, entschied Alex, solange es Hoffnung gab, würde sie weitergehen. Denn nun stand nicht nur ihre Heimkehr auf dem Spiel, sondern das Leben eines Freundes.
Wieso hatte der Schlossherr ihn geholt und sie zurückgelassen? Weil sie seiner nicht würdig war? Weil sie keine Gefahr für ihn darstellen konnte? Spürte er, wie hilflos und verängstigt sie war, und hatte einfach beschlossen, dass sie kein Gegner für ihn war?
Sie schluchzte. Musste Anders den Preis dafür tragen, dass sie die wichtigste Regel gebrochen hatte?
Ein Schluchzen schob sich aus der Kehle des Mädchens hervor, als sie den ersten Schritt wagte. Unter ihren Sohlen knirschten zerborstene Knochensplitter. Sie zwang sich, den Blick zu heben und nicht mehr hinab zu sehen. Sie zwang sich dazu, stark zu sein und dem Ende des Ganges entgegen zu sehen. Und tatsächlich konnte sie, an dessen Ende bereits ein schwaches Licht erkennen.
Gnadenlos drängte sich ihr die Gewissheit auf, dass sie nur wenige Meter hätten durchhalten müssen und Anders wäre nichts geschehen. Sie hob den Blick, zwang sich, ein- und auszuatmen und ging weiter. Einfach weiter, Schritt für Schritt. Ihr Körper agierte wie eine Maschine. Schritt folgte auf Schritt, ein Atemzug auf den Nächsten und dann sah sie plötzlich das Ende vor sich.
Wie aus dem Nichts bildete sich um sie herum eine ganz neue Welt. Schwarze Mauern hüllten sie ein. Sie fand sich in einem Raum wieder, der nur entfernt an eine Kathedrale oder Kapelle erinnerte. Gewaltige, hohe, rabenschwarze Mauern aus naturbelassenem Stein säumten den Saal, der von riesigen Säulen gestützt wurde. Das Dach lag so weit oben, dass sie es kaum erkennen konnte. Lichtfetzen fielen durch Risse in der Decke und kleideten den Saal in ein erhabenes, majestätisches Gewand. Sie hatte sich in eine Kirche oder etwas Ähnliches gerettet, das tief unterhalb des Schlosses lag - eine Gedenkstätte tief in den Katakomben dieser schwarzen Welt. Und dennoch drang von irgendwo hoch oben in diesen Saal Licht hinein. Licht, das es möglich machte, dass Alex die Pracht der Finsternis hier unten erstmals wirklich bestaunen konnte.
Und dann vernahm sie das schlurfende Geräusch, mit dem Schattenwesen auf sie zugestoben kamen. Rings um sie herum krochen Kreaturen aus den Wänden, stiegen aus dem Boden hervor oder hangelten sich von der Decke hinab. Körperlose Geschöpfe, die albtraumhafter nicht sein konnte, schlichen aus allen Ecken der Halle auf sie zu und dann gewahr sie Anders, der umringt von ihnen in einer Ecke des Raumes stand und den Kopf gesenkt hielt, als befände er sich in Trance.
»Anders!«, schrie sie ihm entgegen, spannte alle Muskeln an und wollte auf ihn zuhetzen, doch die Schatten schlossen die Reihen und bildeten eine halbtransparente Mauer zwischen ihnen beiden, die das Mädchen unmöglich überwinden konnte. »Anders, bitte sag etwas!«
Sag, dass du lebst, dachte sie. Dass es dir gutgeht, und ich nicht Schuld an deinem Tod bin! Sag mir, dass ich dich retten kann und wir gemeinsam weitergehen werden, bis wir unser Ziel erreicht haben. Doch ihre Umgebung zeichnete ein anderes Bild. Unaufhörlich lösten sich durchscheinende Kreaturen aus den Felsen und drängten näher auf sie ein. Sie waren schon lange umzingelt und eingekreist. Anders Schwert lag zwischen ihnen auf dem Boden. Bei Sinnen wäre es ihm möglich gewesen, mit zwei Schritten dort zu sein, und sich danach zu bücken, doch in seinem Zustand erschien der Plan waghalsig. Aussichtslos.
Todesmutig wagte Alex den Schritt nach vorn, packte mit beiden Händen die Waffe und hob sie an, so weit es ihr möglich war. Das Schwert wog so viel schwerer, als es den Anschein machte. Schwingen und irgendjemanden damit verletzen, schien ihr nahezu unmöglich. Aber es halten, und sei es nur, um eine einzelne dieser Kreaturen abzuwenden, schenkte ihr einen blassen Hauch von Sicherheit.
In ihrer Brust fühlte sich ihr Herz an, als ob es zerspringen wollte. Sie und ihre Unachtsamkeit, sie und ihre Angst waren schuld daran, dass sie beide hier waren, umkreist von finsteren Wesen, die nach ihrem Leben trachteten.
Mit einem Ruck wurde das Haupt des Kriegers marionettengleich in die Höhe gezogen. Seine Augen öffneten sich und seine Iris brannte wie flüssiger Bernstein. In seiner Pupille gingen unheilvolle Nebel umher, gleich denen, die die Höhle durchzogen.
»Alex«, sagte er leise, doch seine Worte drangen durch das Fundament des Schlosses und brachen sich sanft an den Wänden. »Du hast es geschafft. Du bist sehr weit gekommen. Viel weiter, als ich es je für möglich gehalten hätte.«
Ein Lächeln zog seine Mundwinkel nach oben und in jenem Augenblick schien alle Farbe von seiner Gestalt abzublättern. Schwärze schlich sich in sein Haar, zog sich über seine Kleider und die Pranken, die seine Füße waren. Lebende Schatten bemächtigten sich seiner Seele. Eine befremdliche Form der Finsternis siedelte sich um ihn herum an, bis sich in seinem Rücken etwas Gewaltiges, Finsteres bewegte, das wie.. Flügel aussah. Um Anders herum ballte sich Dunkelheit zusammen, als würde sie ihn verschlingen und vernichten wollen, obwohl er in tiefer Trance lag. Flügel. Kerubsflügel. Krähenschwingen.
Ganz langsam begann Alex zu verstehen, dass ihn die Schatten nicht vertilgen wollten, sondern umrundeten, wie ein Schutzschild. All anwesenden Schattenwesen zogen einen Schutzwall zwischen ihnen. Ihre Leiber schirmten den Krieger ab. Sie waren keine Armee, sie waren Wächter. Ein Schutz, der zwischen ihr uns Anders aus nur einem einzigen Grund sinnvoll war: Weil er gar nicht der war, der er zu sein vorgegeben hatte.
Weil er jemand anders war.
Jemand, den man schützen musste.
Wie Schuppen fiel es dem Mädchen von den Augen, und all die Furcht um ihren Freund war wie weggeblasen. »Du bist der Krähenprinz«, keuchte sie atemlos.
Es machte Sinn, dachte sie, und verachtete sich instinktiv für ihre Naivität. All die Dinge, die Anders wusste, die Verschwiegenheit, zu der er sie verpflichtet hatte, und die Angriffe auf ihn, die er immerzu fast unbeschadet überstanden hatte - er selbst war für all diese Überfälle und Tricks verantwortlich. Ein geschickter Spieler, der jeden Spielzug vorhersehen konnte und immer wusste, wo sich seine Figuren auf dem Feld befanden. Er hatte sie dazu überredet, hierher zu kommen. Und mit seiner sympathischen Art und ihrer gemeinsamen Vergangenheit war es ihm gelungen, sich einen Platz in ihrem Herzen zu erschleichen.
Es war so leicht gewesen, sie zu überzeugen. Ein paar nette Worte, eine Erinnerung an damals und ein paar kleine Geschichten über seine fungierte Vergangenheit, und schon war sie ihm verfallen.
Hatte es irgendwer dem Bösen jemals so leicht gemacht, wie sie?
Aus dem Schrecken formten sich Wut und Entrüstung. Sie war ihm auf den Leim gegangen und nun hatte er sie genau dort, wo er sie haben wollte. Von Anfang an.
Der Dämon nickte, während sich die geballte Schwärze in seinem Rücken zu realen, riesigen Schwingen formte. So gewaltig, dass sie beinahe rechts und links die Wände streiften. »Ich habe dir gesagt, dass ich in Wahrheit anders heiße«, erwiderte er ruhig, mit weicher Stimme und ohne jeglichen Akzent. Er sprach mit Gelassenheit, fast ein wenig spottend. Und Alex konnte es verstehen. Denn sie hatte es ihm unsagbar einfach gemacht, sich ihr Vertrauen zu erschleichen. »Du hast es nur nicht verstanden.« Sein Blick fuhr durch die Reihen von Schatten und eine Hölle aus Dunkelheit brach über dem Mädchen zusammen. »Und was auch immer dir gerade durch den Kopf geht, gelogen habe ich nie. Ich habe dich davor gewarnt, hierher zu kommen und gebeten, diesem Ort fernzubleiben. Ich wollte nicht, dass du dich in mein Reich begibst. Ich habe dich sogar vor dem Drachen gerettet. Es wäre besser gewesen, du hättest auf mich gehört.«
»Du hast mit meiner Angst und meinem Vertrauen gespielt«, fluchte das Mädchen, während sich ihre Hände zu Fäusten ballten. »Du hast genau gewusst, wie es in meinem Inneren aussieht.«
»Und nur deshalb«, erwiderte er, »bist du noch am Leben. Weil ich weiß, wie einfach es ist, dein kleines Herz zu zerbrechen, wenn du dich als Gefahr entpuppst.«
Dann wurde es dunkel. Unfassbar finster. Alle Schatten, die zwischen ihnen standen, schienen sich gleichzeitig zu bewegen. Kein Licht drang von oben mehr herab. Es wurde kalt, viel kälter als zuvor und alles Leben und alle Liebe schienen Alex verloren zu gehen. Sie schloss die Augen und obwohl die Wut mächtiger war, als die Angst, konnte sie nur noch nachgeben und sich fallen lassen.