»Danke«, sagte Alex, während sie über den Rand ihrer dampfenden Suppenschale hinweg das Gesicht des Kriegers musterte, der ihr gegenübersaß. »Für die Kleider.«
Nach einem erholsamen Bad hatte Eyndor dafür gesorgt, dass man ihr frische Kleider gebracht hatte. Ihre eigenen Kleider. Zusammen mit ein paar persönlichen Dingen, die Anders nach ihrer Rückkehr nach Andhera aus ihrem Zimmer mitgebracht haben musste.
Sie saßen im Speisesaal; einem der vielen Zimmer, die ihr bislang verborgen geblieben waren. Anders als in den letzten Tagen verzichtete der Kerub nun darauf, zu veranlassen, dass sie ihr Zimmer nicht verließ. Eyndor behauptete sogar, der Anders erlaubte ihr nun, überallhin zu gehen, wohin sie wollte. Außer in den Turm mit den Spiegeln. Diesen, so ließ er ausrichten, sollte sie in Zukunft nur noch in Eyndor Begleitung betreten. Zu ihrer eigenen Sicherheit. Doch Alex glaubte fest daran, dass mehr dahinter steckte.
Mit einem Lächeln ließ der junge Mann den Löffel in seine Suppe zurückgleiten, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte. »Gern«, sagte er schlicht und heftete seinen Blick auf das Gesicht des Mädchens.
Alex konnte fühlen, wie sein Blick in die Tiefe drang. Er sah alles von ihr. Ihre Angst, ihre Unsicherheit, ihre Furcht, all ihre Zweifel und die Sorgen, als bildeten ihre Haut und ihre Knochen keine Barriere zwischen ihm und ihrem Bewusstsein. Nun, da er sauber, gewaschen und ordentlich war, ruhig vor ihr saß und ihr ins Gesicht blickte, entblößte das durch die Fenster einfallende Tageslicht seine seltsame, wilde Schönheit. Nun sah sie, dass in seinen Augen das gleiche entschlossene Funkeln zu sehen war, das sie schon in Anders Augen gesehen und bewundert hatte. Sie waren sich ähnlich, und doch nicht gleich. Alles, was Eyndor an Licht und Freundlichkeit in sich trug, hatte Anders in Finsternis erstickt. Sie waren beide nicht Mensch und nicht Monster, aber mit beidem verwurzelt. Auf ihre Weise.
»Ich will mein Leben zurück«, platzte Alex schließlich hervor. »Alles davon. Ich will wieder zu Hause sein und glücklich, mit Menschen, die mich lieben und geplagt von unverständlichen, nichtig kleinen Sorgen. Und ich weiß, dass Anders mir diesen Wunsch erfüllen kann. Er kann mich irgendwo anders in Sicherheit bringen, ohne, dass ich davon weiß. Er kann meine Gedanken aus meinem Kopf ziehen und mir Glauben machen, dass alles wirklich ist. Ich weiß, er kann all das tun.«
»Nein, Alex. Das kann er nicht.«
»Er kann zwischen den Welten umhergehen, Zaubersprüche sprechen, Menschen heilen, die dem Tode nahe sind. Er geht durch Spiegel! Wieso nicht das?«
»Er kann es deinetwegen nicht tun. Du denkst vielleicht, mit einem neuen Leben würde dein Schmerz ein Ende finden und alles wieder werden, wie es einmal war. Aber dem ist nicht so. Nur durch deine Erinnerungen bist du der Mensch geworden, der du heute bist. Ohne sie bist du nur eine Hülle.«
»Und dieser Mensch muss ich sein, um für euch die verdammte Kiste aufsperren zu können?«
Auf dem Gesicht des jungen Mannes erschien ein Lächeln. Er hob die Hand und fuhr wortlos damit fort, seine Suppe zu essen. Auf seinen Lippen stand das Lächeln, als wollte es niemals mehr verschwinden.
»Antworte mir!«, herrschte Alex ihn an, doch sein Lächeln blieb bestehen.
»Nun«, sagte er dann, »wenn du das wirklich willst. Aber ohne diese Stärke würdest du zerbrechen wie ein Grashalm und einen Teil deiner Seele verlieren. Wir sind nur die Summe all unserer Stärken und Schwächen und unserer Erinnerungen. Du wärst ein anderer Mensch und sicher nicht glücklicher. Es wäre, als hättest du nie gelebt, nie geliebt und nie auch nur einen Freund besessen. Alles, was dich ausmacht, würde verschwinden.«
»Es ist meine Entscheidung, welcher Mensch ich sein will.«
»Es ist niemandes Entscheidung. Wir sind, was wir sind.«
»Und was bin ich? Eine Gefangene?«
»Ein Gast.«
»Ein Gast, der nicht gehen darf, wohin er will?« Alex senkte den Blick.
»Mehr ein Gast, auf den man ein Auge werfen sollte, weil er dazu neigt, sich in Schwierigkeiten zu bringen.«
Alex hob den Kopf und obwohl sie obgleich seiner Dreistigkeit wütend werden sollte, spürte sie, wie sich ihre Mundwinkel nach oben bogen. »Und du wirst derjenige sein, der ein Auge auf mich werfen wird?«
»Lieber ich«, erwiderte dieser, »als er. Bitte iss. Die Köchin hat sich viel Mühe gegeben, und du musst wieder zu Kräften kommen.«
Alex nickte und gab sich vorerst mit seinen Antworten zufrieden. Doch sie wusste, in Kürze würde sie dem Krähenprinzen gegenüberstehen und die gleichen Fragen stellen müssen. Und er würde ihr andere Antworten geben.
Die Suppe war dick und salzig. Sie wärmte ihr den Magen und gab ihr Kraft zurück, die sie an die Ohnmacht verloren hatte.
»Wie viele Wesen leben in diesem Schloss?«
»Mehr als ein Dutzend«, gab der Krieger zurück. »Hauptsächlich Wachen und Krieger. Die Verliese und unterirdischen Gewölbe werden von Schattengängern und formlosen Dämonen bewacht. Sie sind effektiv, gnadenlos und sehr leicht zu kontrollieren. Sie dienen Anders bedingungslos, weil sie ihn als ihren Herrn angenommen haben. Ferner gibt es zwei Frauen hier. Sie kochen, waschen und halten die Korridore und Zimmer sauber. Sie sind die guten Seelen der schwarzen Festung.«
»Und welche Aufgabe bekomme ich, wenn man mich schon zum Bleiben zwingt?«
»Ich bin sicher, du wirst etwas finden.« Plötzlich versiegte sein Lächeln und mit einem Schlag wurde Eyndor ernst. »Alex, früher oder später wirst du mit Anders konfrontiert werden. Ihr könnt euch aus dem Weg gehen, und vielleicht geht es eine Weile gut. Aber irgendwann werdet ihr aufeinandertreffen. Und ihr entscheidet beide, wie diese Begegnung aussehen wird. Ich kenne deine Vorurteile, und ich weiß, du hast Angst vor ihm. Aber er wird dir nie etwas antun. Und es wäre einfacher für uns alle, wenn du versuchst, den Hass ein wenig zu ersticken.«
»Hat er ein Herz?«
»Ob er ein-?« Verständnislos blickte der Krieger sie an. »Selbstverständlich hat er ein Herz.«
»Und eine Seele? Besitzt er ein Gewissen?«
»Er ist menschlicher, als du denkst. Meistens jedenfalls. Er scheint lediglich im Augenblick nicht ganz er selbst zu sein.«
»Und ich hätte die Möglichkeit, wirklich mit ihm zu sprechen.«
»Ja.« Belassen blickte der Krieger zu ihr hinüber. Seine rehbraunen Augen funkelten. »Er hat noch nicht gegessen. Wenn du glaubst, du bist stark genug, bin ich sicher, er würde dich nicht fortschicken, wenn du ihm etwas Suppe bringen würdest.«
»Ich kann doch nicht einfach in sein Gemach stürzen!«
»Natürlich nicht.« Ein Funkeln trat in Eyndors Blick. »Aber du kannst dorthin gehen und anklopfen. Und ich bin sicher, er wird öffnen.« Sein Lächeln verwandelte sich in ein spitzbübisches Grinsen.
Und irgendwie glaubte sie ihm diesmal.