Anders Bewusstsein erwachte in Finsternis. Konturenlos erschien ihm die Wirklichkeit, in die er eingetaucht war und die ihn festzuhalten beabsichtigte. Er versuchte sich zu bewegen, aber die Macht, die ihn hergebracht hatte, zerrte unnachgiebig an ihm. In einem Aufbäumen all seiner Kräfte, riss er den Bann, der ihn hielt, entzwei und wagte einen ersten Schritt.
Aus dem Nichts heraus bildete seine Umgebung Steine, Wände, Mauern und seltsam bläuliches Fackellicht. Seine Wahrnehmung auf dieser Seite des Spiegels war anders. Alles war vor seinen Augen weicher gezeichnet. Alle scharfen Kanten waren verschwommen, Konturen stellten sich unscharf und verworren dar. Aber er erkannte, dass sich ein Gang vor ihm erstreckte.
Mit einem letzten Blick zurück, auf sein eigenes Ich, das eng mit Spiegel verwachsen auf der anderen Seite der Glasscheibe saß, riss er sich los und folgte dem Gang. Weil er nicht wirklich in dieser Welt war, hinterließen seine Schritte keinen Laut. Das gewohnte Scharren seiner Krallen blieb aus und auch sein Atem bewegte sich geräuschlos. Er war der Geist, der sich unbemerkt bewegen aber nichts berühren, fühlen oder beeinflussen konnte. Nur eine innere Kälte folgte ihm und er fürchtete, sie würde ihn früher oder später an seine Sterblichkeit erinnern.
Er setzte einen Fuß vor den Anderen und folgte einem Gefühl, das er nicht erklären konnte. In der vergangenen Zeit, die er nun bereits in seinem Körper steckte und unter Sterblichen weilte, hatte er jedoch gelernt auf diese kleinen, im rechten Moment aufkommenden Emotionen zu lauschen. Sie waren es, die ihm den Weg zeigten und verhinderten, dass eine Aneinanderkettung von primitiven Instinkten sein Leben kontrollierte. Der Sprung vom Engel, der keine Gefühle kannte, bis hin zu einem Wesen, das sich von diesen leiten ließ, hatte ihn sinnlose Lebensjahre gekostet und die Stärke, die er einst aus seiner Gleichgültigkeit bezogen hatte. Heute waren es Kleinigkeiten, die seinen Tag in eine gute oder schlechte Richtung lenkten.
Anders kam an eine Kreuzung von Gängen, die miteinander verbunden waren. Seine Instinkte flammten auf. Er musste Darias finden. Schnell. Bevor der Zauber brach und sein geschwächter Körper ihn nicht mehr versorgen konnte. Er bog ab und folgte seinen geschärften Sinnen weiter ins Herz der dunklen Welt hinein, bis sich vor seinen Augen eine Tür öffnete und Fackelschein den Korridor in blaues Licht tauchte.
»Du«, sagte eine barsche Stimme, und erst jetzt gewahr Anders, dass ihm jemand den langen Weg hierher gefolgt war. Er trat aus dem Weg und ließ den Krieger, der hinter ihm hergekommen war, vorübergehen. Geradewegs zu - Darias. »Was schleichst du so herum?«, keifte der Darias und maß den unsicher wirkenden Jüngling im Kettenhemd mit misstrauischen Blicken. »Hast du keine Aufgabe?«
»Nein, Herr«, erwiderte der junge Mann erschüttert und senkte den Kopf, um Darias nicht ansehen zu müssen.
Er war jung, fast noch ein Kind und zu unsicher, um wirklich hilfreich zu sein. Anders konnte mühelos in sein Inneres blicken und seine Seele bist auf die Knochen ausziehen. Der Krieger war ein Kind, das man in ein das Gewand eines Kämpfers gesteckt hatte und das nicht wusste, was es tun sollte. Während Darias ihn angesprochen hatte, war sein Herzschlag schneller geworden, seine Atmung flacher und er schwitzte. Ein todsicheres Zeichen von Angst und Unsicherheit.
Geschwind ließ Anders den Blick an dem Krieger vorüberschweifen. Er musterte Darias. Es bestand kein Zweifel. Der Krieger, der nun schwarze Lederhosen, schwere Stiefel und darüber einen Surcot aus dunkelgrauem Leinen trug, war der Mann, den er damals seinem Schicksal überlassen hatte. Es waren die gleichen eiskalten, berechnenden, aber klugen Augen, das gleiche überhebliche Grinsen und identischen schlaksigen Bewegungen, die ihn immer ausgezeichnet hatten. Darias war zurückgelehrt, in Fleisch und Blut.
Für einen Moment glaubte Anders, nicht atmen zu können. Ein Gefühl von Schuld wollte in ihm aufwallen und erstickte augenblicklich. Er hob die Hand an seine Brust und wartete, auf das gleichmäßige Pochen in seinem Torso, aber dort herrschte Stille. Stille, die ihn nachts nicht schlafen hielt und am Tag daran erinnerte, was er doch für ein Monster geworden war. Früher war es nur das stetige Pochen seines eigenen Herzens gewesen, das ihn dann und wann daran erinnert hatte, dass er nun sterblich, mitfühlend und emotional war.
Obwohl ihn sich die Geräuschlosigkeit einverleiben wollte, senkte er die Hand und konzentrierte sich. Er musste klar bleiben, durchhalten, stark sein. Stolz und frei. In diesen Worten hatte ihm Eyndor einst seinen Traum vom Leben beschrieben. Stolz und frei. Genau das erwartete man von ihm.
Er atmete tief durch und besann sich auf das, was ihm immer zur Seite gestanden hatte, wenn er einzubrechen drohte: auf den Dämon in seiner Seele, der im rechten Augenblick immer wusste, was zu tun war. Und auch diesmal besiegte er seine Schwäche mit Stärke und kompensierte all das, wozu er selbst nicht im Stande war.
»Hast du keine Aufgabe? Verschwinde, Kleiner!« Mit diesen Worten und einer wegwerfenden Geste entließ Darias den jungen Mann in die Freiheit. Sein Blick schweifte noch einmal über den Gang, dann zog er sich in das Zimmer zurück, aus dem er gekommen war, und Anders tat es ihm gleich.
Hinter der Tür verbarg sich ein großes Zimmer. Aber es wirkte nicht wohnlich, nicht sympathisch, mehr wie ein Kerker mit Fenstern. Ein Tisch stand darin, mit drei Stühlen, ein Stapel achtlos zu Boden geworfener Bücher und ein karges Bett mit einer rauen, braunen Decke. Die Laken waren zerwühlt. Der Mann, der normalerweise darin schlief, fand keine Ruhe. Er wälzte sich Nacht für Nacht unruhig umher.
Schwer seufzend ließ sich Darias auf einen der Stühle sinken, lehnte sich zurück und warf den Kopf in den Nacken. Kurz darauf fuhr er sich mit beiden Händen ins Gesicht und anschließend durch die Haare. Er machte einen angespannten, leicht reizbaren Eindruck. Wie ein eingesperrter Tiger, der in seinem Verlies auf und ab lief und nur darauf wartete, dass irgendwo eine Tür aufging und er sich losreißen und angreifen konnte. Anders beherrschte diesen Tiger, wie kein anderer. Wann immer er musste, hatte er gelernt, die Bestie zu bezwingen und auch, wenn sie nie verschwinden würde, ihr ein wenig Einhalt zu gebieten.
Er ließ den Blick schweifen und suchte nach irgendetwas, das ihm verraten würde, weshalb der Krieger hier war, was er bezweckte, und ob er mit Isay zusammenarbeitete. Nichts. Es gab keine persönlichen Dinge innerhalb dieser Mauern, keine verräterischen Kleinigkeiten, nichts.
Als er zurücksah, hatte Darias sich aufgerichtet. »Ich kann dich nicht sehen«, rief er in das Zimmer aus, bevor ein breites Grinsen sein sonst so herbes Gesicht teilte. »Aber ich spüre, dass du da bist, weißt du?«
Anders sagte nichts. Dieser Zauber war verworren und er würde früher oder später damit beginnen, sich selbst aufzulösen. Für einen Augenblick lang wog er seine Möglichkeiten ab. Wenn Darias wirklich spürte, dass er anwesend war, dann machte es keinen Sinn, sich hinauszuschleichen, um nach Hinweisen zu suchen. Er war klug und ließ gewiss nichts herumliegen.
»Und kannst du mich auch hören?«, fragte er dann und bemerkte, dass der Krieger die Augen geschlossen hatte und wie ein Betrunkener vor sich hin grinste.
»Wenn du es willst«, lautete seine Antwort. »Lass mich raten.. Du hast einen Zauber verwendet, der dem meinen weit überlegen ist. Das wundert mich nicht, denn für meinen kleinen Trick habe ich zwei Hellseher und jede Menge Glück gebraucht und auch dann konnte ich dem Mädchen nur die Hälfte von alledem sagen, was ich ihr eigentlich mitteilen wollte. Aber wie ich sehe, bekommen wir nun einen zweiten Versuch. Bist du wirklich hier?«
»Nein«, sagte Anders leise und kam näher. Es war das erste Mal, dass er einem Feind gegenüberstand, der ihn nicht sehen konnte. Der Zauber wirkte also auf genau die Weise, wie er es sich erhofft hatte. »Ich habe mein Schloss nicht verlassen.«
»Seit wann bist du ein Feigling?« Aus Darias Kehle löste sich ein kleines Lachen. »Hast du vergessen, dass du es warst, der mich lehrte, nie einem Kampf auszuweichen? Ich bin dir kein würdiger Gegner, das wissen wir beide. Du hast mich mit drei Handgriffen entwaffnet und bist dabei noch nicht einmal ins Schwitzen gekommen. Wieso bist du hier?«
»Ich habe jede Berechtigung, hier zu sein«, erwiderte Anders duster. »Aber du bist tot. Ich habe deine Wunden gesehen, und ich weiß, man hat deinen Körper geborgen.«
»Ich habe dich weglaufen sehen. Damals, in der Schlacht. Ich sah dich fortrennen und habe nicht verstanden, was in dir vorging. Ich dachte, du kommst wieder und rettest mich. Die Macht dazu hast du zweifelsohne besessen. Erst, als es dunkel um mich wurde, habe ich verstanden, dass du mich im Stich gelassen hast und ich deinetwegen sterben würde. Und weißt du, was ich fühlte, als mir bewusst wurde, dass der Mann, der mich alles gelehrt hatte, selbst nicht in der Lage dazu ist, seine Dämonen zu bändigen?« Für einen Augenblick kehrte Stille ein. Es wurde ruhig und Darias nahm sich die Zeit, die Lider zu heben und stur der Wand entgegen zu blicken. In seinen Augen nistete sich Finsternis ein. Es waren nicht länger die Augen eines Lebenden. »Ich fühlte gar nichts. Keinen Schmerz, keine Trauer, keine Wut. Ich wollte nur verstehen, weshalb mein Leben auf einmal so bedeutungslos für dich war, wo du doch meinem Vater geschworen hast, du würdest nie zulassen, dass mir etwas zustößt. Da ich nun offensichtlich wieder hier bin, und du jede Anstrengung unternommen hast, um mich aufzuspüren, lass uns die Förmlichkeiten ablegen. Du schuldest mir eine Antwort!« Die letzten Worte hatte er ausgespien. In seinem Inneren loderte Zorn auf und drängte an die Oberfläche. »Du warst mein Held. Du warst mehr Vater für mich, als mein Vater es jemals war. Wieso, hast du mich sterben lassen?«
Mit der Wucht eines ihm entgegen geschmetterten Hammers, trafen Anders seine Worte. Er wollte sich krümmen, um den Schmerz zu bekämpfen, aber er konnte nicht. »Ich wusste damals nicht, dass ich mich geirrt habe«, entgegnete er stattdessen wahrheitsgemäß. »Ich dachte, als ich Isay verließ, wären all meine Dämonen bei ihm zurückgeblieben. Ich glaubte mich befreit und in Sicherheit. Ich dachte, nichts und niemand kann mir etwas anhaben. Und ich ließ dich in dem Glauben, dass es auch dich zutrifft. Auf dem Schlachtfeld begegnete ich Isay und wusste, kaum dass ich ihn sah, dass ich einem Kampf mit ihm nicht gewachsen war. Die Selbstsicherheit, die ich dich lehren wollte, war fort und plötzlich gab es nur einen Ausweg. Ich musste dieses Schlachtfeld auf der Stelle verlassen, oder ich wäre zu Isay gegangen und ihm erneut gefolgt.«
»Also warst du selbst zu schwach, um deinen eigenen Regeln zu folgen.« Darias neigte sich vor. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bettete sein Kinn auf seine Hände. »Und weil du schwach und feige warst, musste ich damals sterben.«
»Ich sage dir, was du wissen willst, wenn du mir den Zauber verrätst, der dich zurückgebracht hat.«
»Oh«, machte der Krieger zufrieden. »Das ist leicht, denn ich kenne ihn nicht. Ich bin vor einiger Zeit in einem mit Erde zugeschütteten Loch zu mir gekommen, und wusste selbst nicht, was geschehen war. Ich erinnerte mich an dich, an die Schlacht und das große dunkle Nichts. Kurz darauf gruben mich Krieger aus, schleiften mich in dieses Schloss und setzten mich einem Mann vor, der mir eine einzige Frage stellte. Die, ob ich wütend auf dich sei. Und in diesem Augenblick wurde ich es. Er schenkte mir das Leben, das ich hätte führen können. Bedauerlicherweise ist mein Vater tot, und es gibt niemanden, mit dem ich es teilen, oder dem ich von meiner Vergangenheit erzählen kann. Niemand hat auf mich gewartet und sich die Augen ausgeheult, als ich gefallen bin. Ich habe keine Ahnung von Zaubersprüchen. Als meine kleine Zaubereinlage mit dem Mädchen geglückt ist, war ich selbst überrascht.«
»War der Mann, der dich aufnahm, Isay?«
In Darias Augen blitzte es plötzlich auf. »Ich mache dir einen Vorschlag. Auf jede Antwort folgt eine neue Frage. Ich habe deine beantwortet. Jetzt bin ich an der Reihe.«
Wie ein Klumpen lag seine Seele plötzlich tief in ihm. Anders wusste, dass ihm dieses Gefühl nichts anhaben konnte, aber das machte es nicht erträglicher. »Ich höre.«
»Hast du es je bereut?«
»Ich habe nie bereut, das Schlachtfeld verlassen zu haben. Damals war ich in Isays Gegenwart nicht fähig, zu denken. Er hat mich so viele Jahre lang mit seiner Dunkelheit vergiftet, dass alles zurückkehrte, als ich ihn sah. Aber ich habe bereut, dich ausgebildet und in Kampf geschickt zu haben. Und dass ich dir nicht helfen konnte, bereue ich noch heute.«
»Schön!«, rief Darias aus und schlug sich erwartungsvoll eine Hand vor den Mund. »Es tut gut, das aus deinem Mund zu hören. Wirklich! Ich bin froh darüber und bete, dass dich deine Schuldgefühle bis ins Grab hinein verfolgen werden, denn dort wirst du zweifelsohne landen. Wusstest du, dass Isay ein wahrlich kluger Mann ist?«
»Ja. Aber ist er auch der Mann, der dich zurückgeholt hat? Ich bin dran. Beantworte meine Frage.«
Aufgeregt nickend antwortete der Krieger: »Ja, das war er. Ich bin erstaunt, dass es dir so leicht gefallen ist, es herauszufinden. Wie man mir sagte, mangelt es Andhera, nicht an Gründen, dich zu hassen. Es gäbe also viele Kreaturen, die mich zurückholen würden, nur um dir zu schaden. Man erzählt sich, du bist schwach geworden. Hast du wirklich in Isays Namen Unschuldige eingekerkert und Krieger getötet, die auf deiner Seite standen?«
»Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin«, antwortete Anders. »Aber ich habe nie so ehrlos gemordet und empfunden, wie damals gemeinsam mit Isay.«
»Er hat mir von eurer gemeinsamen Zeit erzählt. Ein großartiger Mann, dieser Isay!«
Vor den Augen des Engels verwandelte sich Darias wieder in ein Kind - in einen stürmischen, aufgeweckten Dickkopf, der nur das hören konnte, was er auch hören wollte. Sein hitziges Temperament, in dem Anders damals großen Kampfgeist hatte sehen wollen, loderte auf und verwandelte ihn in einen unglaublich gefährlichen Mann. Er hatte nichts zu verlieren, kannte keine Grenzen und er fürchtete weder Tod noch Teufel. Darias war die perfekte Waffe. Durch sein aufbrausendes Temperament war es nahezu unmöglich, ihn zu zügeln.
»Er war sich übrigens sehr sicher, dass du mich früher oder später aufsuchen würdest.«
»Wir haben viel Zeit miteinander verbracht«, sagte Anders. »Er kennt mich gut.«
»Ja, das stimmt wohl. Hast du je nach mir gesucht?«
»Nein. Was vergangen ist«, fuhr Anders fort, »muss auch vergangen bleiben. Es tut mir leid, dass du gelitten hast. Stünde ich noch einmal an diesem Punkt, würde ich dich auslachen und zu deinem Vater in die Schmiede zurückschicken. Dann wärst du nicht der glücklichste junge Mann gewesen, aber du hättest dein Leben behalten können und vielleicht irgendwann erfahren, was Liebe und Gerechtigkeit sind.«
»Ja, ich erinnere mich. Der große, Krähenprinz und seine Lehren von der Liebe.« Darias lachte laut auf. »Auch davon hat er mir erzählt. Von der Frau, die du geliebt hast und die dir genommen wurde. Mir hast du nie von ihr erzählt. Wie war sie?«
Eine Welle aus Wut und Trauer stieg Anders die Beine hinauf und manifestierte sich im Zentrum seines Körpers. Er vergaß nie. Nicht einen Tag gab es, an dem er nicht der einzigen Person nach trauerte, die je seine Dämonen in die Schranken gewiesen hatte. Dass Isay ihre Geschichte ausgekramt hatte, um Darias Gedanken mit noch mehr Wut und Zorn zu füllen, überraschte ihn nicht. Viel mehr erstaunte ihn, dass er mit dieser Art der Gegenwehr nicht gerechnet hatte.
Für gewöhnlich kannte er die Methoden, die Isay bevorzugte. Diese war neu und warf ihn kurzzeitig aus der Bahn. Wie konnte Darias es wagen, über sie zu sprechen, als wäre nichts weiter als irgendeine Tote?
»Hättest du aufmerksamer zugehört, wüsstest du, dass ich über dieses Thema nicht spreche.«
»Er sagt, ihre Familie wollte deinen Tod und du hättest sie aus Liebe gehen lassen. Du hättest auf sie verzichtet, um ihretwillen.« Wieder lachte er. »Genau das hast du auch zu mir gesagt. Wer klug ist, der verzichtet. Und auch sie hast du auf dem Gewissen. Denn du hast sie nicht gehenlassen. Leugne es nicht, ich kenne die Geschichte.«
»Nein«, stimmte Anders ihm zu. »Das habe ich nicht. Und hätte ich es, wäre sie vielleicht noch am Leben.«
»Dann sind wir schon zwei. Was, wenn Isay sie an meiner Stelle zurückgeholt hätte? Wärst du dann auch mit einem Herzen voller Zorn hergekommen?«
Nein. Dann wäre alles anders. Dann wäre Alex im Traum nicht mit seinem Tod, sondern dem vollkommenen Aufblühen seiner Macht konfrontiert worden und hätte nie eine Warnung erhalten. Dann wäre ihm nicht der Dämon erschienen und all die kleinen Spielchen hätten Anders nicht so unglaublich viel Kraft gekostet. Wäre sie hier, wäre alles genauso, wie es sein sollte.
»Nein«, antwortete Anders leise. Er hörte es, aber er konnte das Brechen seiner Stimme nicht verhindern. Sie war alles, was er je gewollt hatte. Die Einzige, der sein Herz je gehört hatte, und je gehören würde.
»Und wenn er sie dir wiederbrächte, wie willig wärst du dann, Isay bei seinem Vorhaben zu unterstützen?«
Wie vom Donner gerührt, hörte Anders Herz seinen Augenblick lang auf zu schlagen. Vor dieser Frage hatte er sich, seit er sie das erste Mal aus seinen Gedanken verbannt hatte, gefürchtet. Direkt nach ihrem tragischen Tod hatte er gewütet und getobt, und wäre bereit gewesen, alles zu tun, um wieder bei ihr zu sein. Was hatte ihn abgehalten, einen so tückischen Zauber zu sprechen, um sein egoistisches Glück über alles andere zu stellen? Sie selbst. Ihr blütenreines Wesen hatte ihn nie dazu verleitet, etwas zu tun, das gegen irgendein Verbot verstoßen hätte. Und dieses sinnlich liebe Wesen, diese würdevolle Art und ihr ungebrochener Stolz hatten ihn nie in Versuchung geführt, sie zurückzuholen.
»Ich.. würde ablehnen«, sagte Anders, doch diese Antwort kostete ihn Kraftreserven, die er nie zuvor angebrochen hatte. Leugnete er hiermit nicht auch seinen sehnlichsten Wunsch und seine Liebe? Und würde er ablehnen können? Besaß er nach all den Jahren unerfüllter Gefühle und Einsamkeit tatsächlich die Macht, nein zu sagen?
»Würdest du?«, begierig fieberte Darias mit, ehe sich seine Miene verfinsterte und sein Lächeln etwas Böses annahm. »Bisher hast du mir gegenüber nie deine große Willensstärke bewiesen.« Er stand auf und drehte sich. Sein Blick schweifte durch den Raum, als versuchte er zu erfühlen, wo der Kerub stand. Doch sein Blick streifte Anders nur und suchte weiter. »Ich weiß, du lässt andere gerne glauben, mit dir in der Hinterhand ist alles möglich und niemand braucht etwas zu befürchten, aber meine Erfahrung spricht dagegen.«
»Ich bin nicht hier, um Spielchen mit dir zu spielen.« Seufzend suchte Anders nach Worten. Es fiel ihm schwer, denn all die Dinge, die Darias gesagt hatte, trafen zu und wühlten alte Gefühle auf. Als er hergekommen war, war er sich durchaus darüber im Klaren gewesen, dass es nicht einfach werden würde, aber dass er seine verstorbene Geliebte ins Spiel bringen würde, damit hatte er nicht gerechnet.
»Weshalb bist du dann gekommen? Ich kann dich nicht sehen, also folglich hast du nicht geplant, sich ausführlich mit mir zu unterhalten. Du hast dich nicht zu erkennen gegeben, also sollte ich wohl auch nicht wissen, dass du hier bist. Also? Weshalb dann?«
»Arbeitest du für Isay«, erwiderte Anders hart, »dann bist du mein Feind und ich rate dir, halte dich fern von Alex und allen, die ich liebe. Wenn du es noch einmal wagst, Hand an einen Menschen zu legen, der meinem Schutz untersteht, dann töte ich dich. Wieder und wieder, solange bis Isay die Lust daran verliert, dich aus dem Dreck zu graben.« In seinem Inneren wallte Zorn auf, viel mächtiger als sein Bemühen, ruhig und sachlich zu sein. Die Bestie, die in ihm hauste, rumorte, grollte und bäumte sich in ihren Fesseln auf. Sie zurückzuhalten schien Anders unmöglich und dennoch kämpfte er diese Schlacht. »Arbeitest du für Isay?«
Darias Lippen zuckten. Sein Gesicht war eingefroren und zeigte irgendetwas zwischen Verzückung und Entrüstung. Eine Mischung aus ungesunden Gefühlen in einem kranken Geist. »Ja. Aber er wusste, du würdest mich danach fragen. Und er sagt, es ist in Ordnung, wenn du davon weißt. Keine Spiele mehr.« Mit den letzten Worten blätterte das Lächeln von seinen Lippen, etwas Finsteres fiel über ihn herein und alles Glück und alle Empathie entschwand aus seinem Gesicht. »Ich habe nur noch eine Frage. Wer bewacht das Schloss an deiner Stelle, während du hier bist?«
In diesem Moment spürte Anders ein Reißen in sich aus der Welt hinter dem Spiegel, durch den sein Bewusstsein gegangen war. Etwas zog und nagte an ihm, rüttelte ihn und kämpfte darum, ihn aus dieser Welt zu vertreiben.
»Du hast mich hingehalten«, vermutete er und nun huschte auch über seine Lippen ein Lächeln. »Das ganze Gerede über dich und mich und die Liebe war nur Teil eines Gesprächs, um Zeit herauszuschlagen. Was geschieht dort drüben? Ich bin sicher, du weißt es.«
»Da du hier bist, und es nichts gibt, was du tun oder sagen kannst, um mir zu schaden«, stellte Darias fest, »werde ich es dir erzählen. Isay hat ein kleines Stück für dich inszeniert. Du hast die Hauptrolle gespielt und du warst mehr als überzeugend. Aber ich war der noch bessere Spieler. Isay wusste, wenn ich das Mädchen bedrohe, richtet sich deine Aufmerksamkeit auf mich. Und so war es. Ich habe dir den Dämon geschickt, obwohl ich wusste, du würdest ihn problemlos besiegen. Aber er erfüllte seinen Zweck. Er zwang dich dazu, einen Zauber zu sprechen, um mich ausfindig zu machen. Einen Zauber, der dich zwingt, deine Hülle abzulegen, dich verwundbar zu machen.«
In Anders kochte heiße Wut nach oben. Vor seinen Augen drohte alles zu verschwimmen, was er in dieser Welt sehen konnte. Spürte er einen Hilferuf aus seiner Welt? Waren seine Freunde in ernsthafter Gefahr?
Er ballte die Hände zu Fäusten, als würden sie ihn davon abhalten können, den Verstand zu verlieren.
»Isay wusste, du würdest den Mond für deinen kleinen Zaubertrick nutzen und hat sich und seine Krieger längst in Stellung gebracht. Erinnerst du dich an den Jungen auf dem Gang? Ein Lockvogel. Gleich, nachdem ich ihn fortgeschickt habe, ist er zum höchsten Punkt der Festung gelaufen und hat ein Leuchtfeuer entzündet. Das war das Zeichen zum Angriff. Und während du und ich uns so nett unterhalten haben, sind Isays Männer in Scharen über deine Freunde hergefallen und du warst wieder einmal nicht da, um einzugreifen. Du..«, er grinste diabolisch, während sein Blick vergebens nach dem Engel suchte, »kommst zu spät.«
Anders..
»Selbst wenn du rennst und fliegst und alles versuchst«, fuhr Darias fort, »bist du nicht rechtzeitig vor Ort, um zu verhindern, dass Isay die Kontrolle übernimmt. Er sagt, du hast ihm etwas weggenommen, das er schmerzlich vermisst. Und er will es wiederhaben.«
Die Truhe. Das Schwert.
Es war so offensichtlich, so einfach, und doch hatte er sich täuschen lassen. Seine Sorge um das Mädchen, um Eyndor und letztendlich auch um ihren Schutz, hatten Isay die Möglichkeit geboten, ihn hinters Licht zu führen. Er selbst hatte die Vorlage zu seinem eigenen Scheitern geboten.
Anders.. Wispernd drängte sich eine gestaltlose Präsenz in sein Bewusstsein. Seine Umwelt schwirrte.
Mit aller Wucht drängte sich ein seltsamer Schmerz in seine Seele und weiter hinauf, bis in seine Gedanken. Er hob eine Hand an die Schläfen und massierte sie, doch aus dem Drängen wurde ein Drücken, ein Hämmern, ein Schmerz, der ihn besiegte. Die Welt um ihn herum begann zu flackern. Jemand oder etwas zerrte an ihm, riss ihn aus der Traumwelt fort.
»Mh«, machte Darias und rieb sich zufrieden die Hände aneinander. »Zeit, Abschied zu nehmen. Ich für meinen Teil habe unsere Unterhaltung sehr genossen. Es war schön, dich wiederzusehen. Auch, wenn uns nicht viel Zeit gegeben war.«
Anders krampfte. Er streckte Hand aus und bekam die Wand zu fassen, musste sich daran lehnen und abstützen. Sein Innerstes wollte sich nach außen kehren. Qual wollte ihn zerfressen und wieder flackerte seine Welt. Er schloss die Augen, denn sie nützten ihm nichts mehr und ließ sich fallen.