Sanfte, helle Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster herein und berührten Alex, leblos auf der Tischplatte liegende, Finger. Sie bewegte sie langsam. Einen nach dem anderen. Die Geschehnisse der vergangenen Nacht hingen ihr nach, wie ein Schleier, der auf allem lag. Sie war müde und ihre Schläfen pochten unangenehm.
Irgendwann, lange nach Mitternacht, hatte sie sich eine Decke geholt und an den kleinen Tisch in ihrem Zimmer gesetzt. Sie hatte nachdenken wollen, aber ihre Gedanken hatten sich ihr gänzlich verschlossen. Alle Dinge schienen verschwommen und undeutlich. Es gab keinen roten Faden mehr und das erschwerte ihr das Sortieren ihrer Gedanken. Auf der einen Seite stand diese absurde Welt, die nicht ihre war, und in die sie dennoch zu gehören schien. Auf der anderen Seite ein apokalyptischer Krieg, ausgelöst durch einen Zauberspruch, den ein wütender Engel ausgesprochen hatte, um sich an der ganzen Welt zu rächen. Dem gegenüber stand Anders sehnlicher Wunsch, das Unrecht zu sühnen, das er dieser Welt angetan hatte und sein Bedürfnis, Eyndor in Sicherheit zu wissen. Doch wieso? Wieso all das? Wieso nahm er Eyndor nicht mit sich und verließ Andhera durch einen Spiegel? An der Welt selbst lag ihm nichts, das hatte er mehr als deutlich gezeigt.
Tatsächlich wusste Alex, dass hinter seinen Worten viel mehr steckte, als er zugeben wollte. Er schien sich auf eine Weise von der Welt gelöst zu haben, die, wie er sagte, eines sehr mächtigen Zaubers bedurfte, und diese Verbundenheit ein wenig auf sie selbst übertragen. Wenn ihm so wenig an dieser Welt lag, weshalb dann das Ganze?
Schlaftrunken hob sie den Kopf und verharrte einen Augenblick mit geradeaus gerichtetem Blick, ehe sie ein dumpfer Knall aus den Gedanken riss. Über ihrem Kopf schepperte es, als würden Stühle durch den Raum geworfen. Sie stand auf und reckte das Haupt nach oben, aber der Lärm brach nicht ab.
Mit einem Seufzen wischte sie sich mit beiden Händen durchs Gesicht. »Kann denn hier nicht ein einziges Mal Ruhe herrschen?« Mürrisch stapfte sie zu ihrem Schrank, schlüpfte in Lichtgeschwindigkeit in ein paar neue Kleider und huschte auf den Gang hinaus. Inzwischen war der Lärm ohrenbetäubend geworden. Etwas geschah, und Alex war sich noch nicht sicher, ob sie mittendrin sein wollte, wenn es passierte.
Dennoch begann sie mit gemischten Gefühlen, die Treppe hinaufzusteigen und einem verborgenen Gefühl zu folgen. Ihre Beine waren schwer und wollten ihr den Schlafmangel der letzten Nacht heimzahlen. Sie kämpfte sich Stufe für Stufe hinauf, bis sie über der Treppe hinweg den Gang sehen konnte, von dem aus ihr ein vertrautes Gesicht entgegenblickte. Der Ziegendämon, der sie gleich am ersten Tag zu Anders hinabgeführt hatte, stand mit einem geschulterten Sack auf dem Gang und spähte zu einem der Zimmer hinab, von dem der Lärm zu kommen schien.
»Hey«, murmelte das Mädchen und winkte ihm zu, als sie näherkam. »Was ist hier los?«
»Der Herr hat ein paar Kreaturen, die in seinen Diensten standen, freigegeben und fortgeschickt. Er sagt, dunkle Zeiten kommen auf uns zu.« Kopfschüttelnd blickte er zu dem Mädchen auf. »Viele sind mit den ersten Sonnenstrahlen aufgebrochen und verschwunden. Einige sind noch immer hier, manche werden bleiben.«
Wie ein Kloß schob sich die schlechte Nachricht die Kehle des Mädchens hinab. »Und wieso bist du noch hier?«
»Ich war immer hier.« Wehmütig deutete der Dämon eine Geste auf die Wände an. »Das ist mein Zuhause. Und auch das der anderen. Wir werden bleiben.«
Alex schüttelte den Kopf und rieb sich mit dem Zeigefinger die rechte Schläfe. »Warte hier. Es war eine schlimme Nacht. Vielleicht kann ich-«
Doch in diesem Moment kehrte Stille ein. Aus dem Zimmer ganz am Ende des Ganges huschte ein Schatten. Mit wehendem Mantel und vom schweren Widerhall seiner Pranken begleitet, stürzte Anders aus dem Raum, dicht gefolgt von Eyndor, der ebenso ratlos wie wütend erschien. Sein Haar war entsetzlich zerzaust und seine Augen dunkel gerändert. Er schien tatsächlich keinen Schlaf mehr gefunden zu haben.
»Alex«, rief er ihr über den Gang hinweg zu und hob resignierend die Hände, um ihr zuzuwinken. »Geh sofort du auf dein Zimmer! Ich muss da noch etwas regeln und dann-«
Wie vom Donner gerührt blieb Alex stehen und versuchte aus dem Weg zu treten, als der zornige Kerub näherkam. Schon von weitem war ihm anzusehen, dass etwas nicht stimmte. Sein langes, dunkles Haar trug er offen und die Enden flatterten bei jedem Schritt hinter ihm her. Er bewegte sich wie eine Maschine. Schritt für Schritt für Schritt. Nur sein Blick, alles, was von seinen feurigen Bernsteinaugen noch übrig war, brannte sich fest in den des Mädchens. In Alex stieg ein seltsames Gefühl der Bedrohung auf.
»Eyndor..«, murmelte sie, doch es war zu spät.
Aus dem Nichts schoss Anders Hand hervor, packte sie am Arm und wirbelte sie herum. Er nagelte sie mit einer Hand an der Wand fest, kam entsetzlich nahe und knurrte: »Ich werde dir kein Haar krümmen, aber du wirst etwas für mich tun.«
Das Herz des Mädchens stockte. Jetzt, dachte sie, war sie in Gefahr.
Prompt wirbelte er sie herum, umklammerte ihren Oberarm mit festem Griff und zerrte das Mädchen mit sich. Er stapfte den Korridor hinab, bis er die Treppe erreichte. Alex wandte sich in seinem Griff, aber einem Engel zu entkommen, schien völlig unmöglich.
»Anders!«, stieß sie hervor und versuchte abermals, ihm ihren Arm zu entwinden. »Lass mich los! Bitte. Du tust mir weh!«
Aber der Kerub reagierte nicht auf ihre Worte. Zornig und von so dunklen Gefühlen getrieben, dass sie sich um ihn herum wie feiner, schwarzer Nebel manifestierten, zerrte er das Mädchen mühelos die ersten Stufen hinauf. Es gab kein Entkommen.
»Lass sie los!«, vernahm sie plötzlich Eyndors Stimme hinter ihnen. Eine Hand ergriff ihren zweiten Arm und zog daran. Nicht so fest, dass es sie verletzte, aber stark genug, um sie dem Schwarzen Engel für einen Augenblick zu entreißen und an sich zu ziehen. Wütend fuhr Anders herum und strafte den jungen Krieger mit einem hasserfüllten Blick. Dieser schob Alex rasch hinter sich, sodass Anders keine Möglichkeit bekam, sich ihr zu nähern. »Verdammt, beruhige dich! Lass sie gehen, oder du wirst sie verletzen! Ich weiß, dass du das nicht willst.«
»Und von allen Dingen dieser Welt, die ich tun könnte«, blaffte Anders zurück, »ist das deine größte Sorge? Dass ich sie verletzen könnte?«
Eyndors Miene verfinsterte sich. »Die letzten Tage waren für uns alle nicht einfach, aber du darfst nicht den Kopf verlieren. Wir brauchen dich hier, mit klarem Verstand!«
»Wirke ich auf dich«, begehrte Anders auf und hob dem Krieger drohend die Hand entgegen, »als könnte ich damit noch aufwarten?« Er bewegte sich kurz darauf schneller, als Alex je irgendetwas gesehen hatte. Kaum, dass er seinen Satz beendet hatte, stand er unmittelbar vor Eyndor und seine Hand war fest um dessen Kehle geschlossen. Mit einem drohenden Knurren brachte er sein Gesicht so dicht vor das des jungen Kriegers, dass sein Atem dessen Wange streifte. Seine Augen färbten sich dunkel. Wie eine Krankheit breitete sich Schwärze in ihnen aus. »Geh mir aus dem Weg!« Dann packte er den Krieger mühelos und schleuderte ihn die wenigen Stufen herab, die sie bereits hinaufgestiegen waren.
Unverletzt und dennoch schwer beeindruckt, stürzte der Krieger rücklings zu Boden und versuchte trotz seines schmerzverzerrten Gesichtes sofort, sich wieder aufzusetzen. Aber Anders hob drohend die Hand und legte einen Zauber auf ihn, der ihn mühelos am Boden hielt. Eyndor biss die Zähne zusammen, aber der unsichtbare Bann hielt ihn an Ort und Stelle fest.
Verzweifelt schaute Alex zu Anders auf, während er zielstrebig zu ihr zurückkehrte. In seinen Augen lag keine Gnade, kein Verständnis, keine Moral. Er hatte sich unter der Schwäche der Zauber, die er ausgesprochen hatte, auf sein primitivstes Sein zurückdrängen lassen.
Das Böse in ihm brodelte. Ihn jetzt zu verärgern, war gefährlich. Nein, tödlich. Und niemand wusste, gegen wen sich sein Zorn richten würde. Gegen sie, Eyndor oder gar sich selbst?
Hilflos musterte sie ihn, die blitzenden Augen, die angespannten Muskeln, die Magie, die in ihm aufwallte. Ein Kampf mit ihm, nützte nichts. Er bekam, was er wollte. Die einzige Frage war, ob sein Wutanfall Folgen haben würde.
Langsam hob sie ihm ihre zitternde Hand entgegen. »Lass uns gehen«, murmelte sie. »Bitte hör auf. Ich komme mit dir.«
Anders Blick senkte sich. Wie ein neugieriger Hund musterte er aufmerksam, die ihm entgegengestreckte, bebende Mädchenhand, ehe er die Finger herunternahm und Eyndor sichtlich erleichtert aufatmen konnte. Kurz darauf schlangen sich die eiskalten Finger des Kerubs um die des Mädchens, er nickte ihm zu und setzte seinen Weg fort. Unbeirrt, als wäre nichts geschehen.
Alex folgte ihm. Sie hatte keine Wahl. Seine Hand saß wie ein Schraubstock an ihrem Handgelenk.Und ihr Wort band sie noch fester. Irgendwo, dachte sie, verbarg sich in ihm das verletzliche, beinahe gebrochene Wesen der letzten Nacht. Unter all dieser chaotischen Magie und dem wilden Herzen in seiner Brust, lag ein Mann verborgen, der das Richtige tun wollte.
Sie folgte dem Krähenprinzen hinauf in sein dunkles Spiegelkabinett. In sein eigenes kleines Höllenreich, gesäumt mit Pfaden ins Nirgendwo. Aus Hunderten von Spiegeln blickte sie ihr eigenes Gesicht an.
Alex spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Nicht nur, dass sie nun mit ihm allein war, nein, er zerrte sie auch noch ins Zentrum seiner Macht. In ein Reich, in dem es kein Entkommen vor ihm gab, und wohin Eyndor ihnen nicht folgen konnte.
Die letzten Stufen zogen sich für sie, wie eine Ewigkeit. Die Zeit schien sie zu verspotten. Und niemand half ihr. Obwohl sie fest damit gerechnet hatte, dass Eyndor Widerstand leisten würde, konnte sie keine Schritte hören. Er kam also nicht. Gut so. Er würde nur verletzt werden.
Am oberen Treppenabsatz ließ Anders sie los, doch er drängte sie mit weit ausgebreiteten Schwingen, die ihr den Rückweg versperrten, zu dem großen Spiegel hin, den Alex bereits zu fürchten gelernt hatte.
»Los«, blaffte er sie an, hob die Hand und wies auf den Spiegel. »Zeig es mir!«
»Es dir.. was?« Verwirrt wagte Alex nicht, ihm den Rücken zu kehren und wich rückwärts vor ihm zurück, bis sie beinahe gegen den Spiegel stieß. »Ich kann dir nicht folgen.«
»Du sollst mir zeigen, was du letzte Nacht gesehen hast.«
Gnadenlos schoss die Hand des Kerubs hervor. Er berührte, sie an der Schulter, drehte sie herum und zwang sie unmittelbar vor dem Spiegel in die Hocke. Mit Nachdruck packte er Alex rechte Hand und presste sie auf das eiskalte Glas, während dem Mädchen Tränen in die Augen stiegen und sie sich angsterfüllt unter ihm wegducken musste.
Er tat ihr nicht weh, obwohl er grob war. Was schmerzte, war ihre Seele. Ihn so zu sehen, brannte in ihr. Zu wissen, dass er sich fürchterlich hassen musste, sobald dieser Anflug von Wut endete, ließ sie beinahe ersticken. Anders war ein Opfer seiner eigenen Dunkelheit geworden. Heute, morgen, und auch in der Vergangenheit. Der Dämon in ihm kämpfte um das bisschen Leben, das ihm geblieben war.
»Zeig es mir!«, wiederholte er. Seine Finger pressten ihre so fest an das Glas, dass sie nur auf das Knirschen der Oberfläche und den heißen Schmerz wartete, mit dem ihr Scherben die Haut zerschnitten.
Hitze stieg in Alex Gedanken auf. Heiße Tränen füllten ihre Augen und eine Einzelne löste sich und fiel vor ihr auf den Steinboden. Umringt von nichts als Schatten und einem bedrohlichen, ausgeflippten Diener der Finsternis, wusste sie, dass es keinen Ausweg gab. Alle Gefühle, alle Sorgen und Ängste, die sie die Nacht über beherrscht hatten, fielen von ihr ab und wichen einem noch größeren Gefühl: Todesangst.
Hier, eingepfercht zwischen Spiegeln und Flüchen, zwischen Magie und Wahn, gab es keinen Ort, an den sie sich flüchten konnte. Es gab niemanden, der ihr beistehen würde und keine Macht, die sie beschützte. Es gab nur sie und Anders; nur sie und den Dämon in seiner Seele.
Hilflos sah sie zum Spiegel auf. Hinter ihr hatte Anders die Arme vor der Brust verschränkt, seine facettenreichen Flügel aufgefächert und jede Brücke zu seiner Sterblichkeit zerschlagen. In diesem Moment erlosch das Licht in seinem Blick und er war nur mehr gehorsamer Schattendiener. Nicht anders, als Isay. Nicht mehr als ein Verlorener.
Ihre Hand rutschte zitternd vom Glas hinab in ihren Schoß. Es war ihr nicht möglich, sie zu halten.
Gefühle drückten auf ihr Bewusstsein. Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Sie senkte das Haupt und sah, wie sich vor ihr am Boden einzelne Tränen zu einer Pfütze sammelten. All ihre Ängste wurden wieder real und niemand stand ihr bei. Es spielte keine Rolle, wo Eyndor war.
Sie war in diesem Moment mit einem Dämon allein.
In seinem Reich.
»Alexandra«, schnaubte er. »Zeig mir, was du gesehen hast.«
»Ich weiß nicht, wie!«, stieß sie hervor. Ihre Stimme war zu einem Gemisch aus Furcht und Hysterie mutiert. »Ich will es ja, aber ich weiß nicht, wie!«
»Leg deine Hände auf den Spiegel. Beide.«
Alex schaute auf. Seine letzten Worte klangen besonnener. Schleppend schien die Vernunft wieder Einzug in sein Bewusstsein zu halten. Der Dämon kämpfte um die Oberhand, aber der Krieger siegte. Er beobachtete sie und ihr Schmerz schien ihn den Kampf mit seinen finsteren Gedanken abermals aufnehmen zu lassen. Er trat zwei Schritte auf sie zu, ehe er sich dicht hinter ihr in die Hocke sinken ließ.
Alex fiepte und duckte sich unter ihm fort. Sofort erstarrte der Kerub. Es war dieser kurze Moment, der ihn so tief berührte, dass er die Kraft fand, das Dunkel noch einmal von sich zu stoßen. Träge streckte er die Hand aus und berührte das Mädchen am Arm. »Hier«, fuhr er fort und legte ihre Hand an das Glas, dann die Zweite. »Schließ die Augen.«
Seine Stimme hatte wieder die gewohnte, bedrohliche Ruhe angenommen. Doch diesmal lag noch etwas anderes darin. Ein Anflug von Gefühl und Schuldbewusstsein. Etwas ganz und gar Menschliches. Emotionen. Zögerlich schloss Alex die Augen und atmete automatisch tiefer. Sie versuchte, sich von ihren Sorgen und der Angst zu lösen. Wieso hatte sie diese Macht über Anders und die Finsternis, die in ihm wohnte? Wieso besaß sie die Kraft, ihn in seiner Wut zu bändigen, wenn selbst Eyndor daran scheiterte?
»Ruf deine Vision zurück«, flüsterte er ihr zu, ohne ihre Hände auf dem Glas loszulassen. »Konzentrier dich auf das, was du im Traum gesehen hast. Ruf dir in Erinnerung, was du gefühlt, gerochen, was du geatmet und empfunden hast. Lass es deinen Geist durchqueren. Und dann zeig es mir.«
Alex kämpfte. Auf der einen Seite war alles, was sie wollte, diese Bilder heraufbeschwören zu können, damit Anders nicht wieder in Raserei verfiel, doch andererseits war sie nicht fähig dazu, die beiden Krieger noch einmal sterben zu sehen. Wusste Anders, was er da von ihr verlangte?
»Lass alle Gefühle frei«, leitete er sie an. »Die Bilder sind in deinem Kopf. Lass sie raus und zeig sie mir. Ich muss wissen, was du weißt, sehen, was du gesehen hast.«
Und da geschah es. Mit dem dritten und vierten Atemzug brachte Alex ihre Gedanken auf eine Ebene, auf der sie plötzlich Töne sehen und Gefühle schmecken konnte. Sie rief all ihre Erinnerungen wach und beschwor den Traum vor ihrem inneren Auge herauf. Die Schlucht, der Abgrund, der seltsame Krieger mit dem gehörnten Helm und schließlich den Tod von Eyndor und Anders selbst. Sie fühlte, wie Bilder und Gedanken ihr Bewusstsein weiteten, wie Gefühle und Sorgen von ihr abprallten und sich ihr Geist mit dem des Kerubs einte. Und ganz anders, als sie erwartet hatte, war das Bewusstsein, auf das sie traf warm, und voller Schönheit. Dort, unter all dem Zorn, hinter der gewaltigsten Mauer aus Hass, loderte das Herz der Welt in ihm auf. Hell, gleißend, machtvoll - wie eine Kerze. Sein Licht drängte an die Grenzen seines Verstandes und war doch nicht im Stande dazu, diese Mauer aus Angst zu überwinden.
Langsam öffnete sie die Augen und gewahr, wie der Spiegel, vor dem sie saß, all das zeigte, was sie vergangene Nacht schon einmal gesehen hatte. Wie im Kino taten sich Bilder und Fetzen ihrer eigenen Gedanken auf. Farben, Formen und Gesichter erschienen. Sie sah Eyndor sterben. Doch diesmal spürte sie, wie hinter ihr ein Sturm aufbrauste und seinen Tod fortwischte, ehe es geschehen konnte. Anders Macht reichte weit, bis unendlich tief in ihr Bewusstsein hinein und vernichtete dort jedes Gefühl von Schmerz, das sie im Angesicht des Todes empfinden sollte. Jeden Ort der Leere füllte er in ihr mit Wärme und Zuversicht, bis vor ihnen der Krieger mit dem Hornhelm erschien und sein Inneres auf einen Schlag finster wurde.
Die Tränen auf Alex Gesicht waren eingetrocknet. Sie blinzelte und die Haut um ihre Augen herum spannte. Der Krieger im Spiegel schaute sie an. Seine Lippen formten Worte, aber keine Töne. Dennoch wusste sie genau, was er sagte.
»Kennst du seinen Namen?«, wisperte sie in die Leere des Raums.
In ihrem Rücken regte sich Anders leicht. Ein Knistern und Rascheln ertönte, dann schlossen sich seine Schwingen plötzlich von hinten um das Mädchen wie ein Mantel und ein Sog aus Licht brach aus dem Leib des Engels hervor. Alles verschwand. Der Raum, das Schloss, der Spiegel, und ein Sog zogen sie fort. Unendlich weit ins Nichts hinab. Sie spürte kurzzeitig, dass sie sich im Inneren des Spiegels befanden, doch das Gefühl war vorüber, ehe es tatsächlich Besitz von ihr ergreifen konnte. Dann vergingen das Licht und die Wärme, und mit einem Ruck löste sich Anders von ihr.
Alex wollte zu ihm herumfahren, aber der Boden unter ihren Füßen brach fort. Sie riss den Blick hinunter und sah, dass sie nicht länger auf kaltem Stein stand, sondern auf den Klippen aus ihrem Traum. Sie verlor den Halt. Das Gleichgewicht zog sie hinab, und im letzten Augenblick schoss Anders Hand hervor und packte ihre. Langsam, behutsam und mit festem Blick zog er sie von der Klippe fort und blickte selbst in den Abgrund hinab. Rauchschwaden stiegen über der Schlucht auf. Alles war so, wie Alex es gesehen hatte.
Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. Die Grenzen ihres Traums waren verschwommen. Die Natur war nicht klar abgegrenzt und von etwas, das einem hellen Schein glich, umgeben. Und doch sah sie klar und deutlich, dass es ihr eigener Traum war, in den Anders sie hinabgetrieben hatte.
»Was..?«
Entsetzt fuhr Alex herum - und stürzte geradewegs in die Hände des maskierten Kriegers, der noch vor einem Augenblick unten bei Eyndor gewesen war. Sie versuchte, sich loszureißen, doch seine Hände packten sie so fest wie vergangene Nacht und hielten sie. Doch diesmal war etwas anders. Sie war nicht allein. Hinter dem Krieger sah sie, wie die verschwommene Gestalt des Kerubs das Schwert aus der Lederscheide zog und schon war sie von dem fremden Krieger befreit.
Er wandte sich von ihr ab, als das schleifende Geräusch an sein Gehör drang, und riss sein Schwert in die Höhe, gerade noch rechtzeitig, um Anders Waffe abzuwähren. Es folgte Schlag auf Schlag. Funken stoben auf, wenn die Klingen kreuzten und mit voller Wucht aufeinanderprallten. Eine Welle aus Klang und Wut und Krieg rollte heran und überschwemmte die beiden kämpfenden Krieger mit Dunkelheit. Die Schläge ihrer Waffen trieben Alex zurück, fort aus dem Kampfbereich. Sie konnte nicht anders, als hinzusehen. Anders kämpfte wie ein Tiger. Seine Bewegungen waren das Grazilste, das sie jemals gesehen hatte. Gegen ihn wirkte der Mann in der Rüstung tölpelhaft, schwerfällig und grob. In seinen Hieben steckte Kraft, aber er besaß weder die Geschmeidigkeit eines guten Kämpfers, noch die nötige Kontrolle. Und so dauerte es sieben weitere Hiebe, bis es Anders gelang, ihm das Schwert mit dem Griff seiner eigenen Waffe aus der Hand zu schlagen.
»Du«, spie ihm der Krieger entgegen. Unter seinem Helm funkelten seine zornigen Augen hervor. »Dann hast du meine Botschaft erhalten?«
»Dein Dämon ist tot und dein Fluch zerschlagen.« Anders hielt das Schwert in seiner Hand ausgestreckt und auf den Torso des Kriegers gerichtet, doch er stieß nicht zu, und Alex wusste sofort, dass er es auch nicht tun würde. In einem Traum hätte sein Handeln möglicherweise Konsequenzen, auch wenn der Krieger Anderenorts unverletzt zu sich kommen würde. »Nun, zeig mir dein Gesicht.«
»Mein Gesicht?«
»Setz den Helm ab«, verlangte Anders drohend.
»Sonst tötest du mich mit deiner Zauberwaffe?«
Der Krieger wies auf das Engelsschwert in den Fingern des Kerubs. Es ließ Anders Hand zittern.
»Zwing mich dazu, und ich wüsste keinen Grund, der dagegen spricht.«
Obwohl es unter seinem Helm nicht sichtbar war, konnte Alex spüren, dass der Krieger ein diabolisches Lächeln auf den Lippen hatte. Er wusste, dass er in diesem Traum sicher war. Dass sie zwar einander gegenüberstanden, aber Anders ihn weder verletzen, noch töten konnte. Dennoch hob er die Hand und setzte den Helm mit den Teufelshörnern ab. Unter dem Stahl schoben sich halblange, strohblonde Haare hervor, die ein ovales, kantiges Gesicht umrahmten. Stahlgraue Augen blitzten in einem bleichen Gesicht hervor. Um seine Augen herum war es dunkel. Ruß und Schweiß verklebten seine Haut und ließen sie verräterisch glänzen. »Und?«, warf er Anders bitter entgegen. »Gib mir einen Namen. Das schuldest du mir nach all der langen Zeit.«
Geräuschvoll atmete Anders ein und aus. Wie erstarrt, stand er da, mit dem Schwert in der Hand und fand die Kraft nicht, den Blick abzuwenden. Alex jedoch offenbarte er mit dieser allzu menschlichen Geste die Wahrheit: Er hatte diesen jungen, vielversprechenden Krieger erkannt und er wusste nun, mit welchem Feind er es zu tun hatte.
»Alex«, sagte er sanft und hielt ihr seine freie Hand entgegen. Flink und doch voller Furcht, huschte das Mädchen hinter ihn und legte die Hand in seine langen Finger. »Denk an Zuhause. Verbanne diese Erinnerung aus deinen Gedanken. Bring uns heim.«
Wieder schloss das Mädchen die Augen und gestattete es Anders, ihr Bewusstsein heimzusuchen. Und auch diesmal war das Licht wieder da und die Wärme und die Zauberei, die sie aus dieser fremden Umgebung riss und zurück in den Turm und den Spiegelsaal zerrte. Instinktiv trennte sie sich sofort von Anders, kaum dass sie wieder festen Grund unter den Füßen spürte und wich, so weit sie konnte, vor ihm zurück.
Die Wirklichkeit des Schlosses holte sie ein und auch ihr wildes Herzklopfen kehrte zurück. »Du kennst ihn«, warf sie ihm entgegen. »Du weißt, wer er ist.«
Anders nickte und wandte sich ab. »Sein Name ist Darias.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte er auf dem Absatz kehrt und stieg die Treppe hinab.
»Warte!« Alex stürzte ihm nach, doch es fiel ihr schwer, mit ihm mitzuhalten. »Ist das alles? Willst du mir nicht sagen, wer er ist? Was-«
»Nein«, entgegnete Anders kühl.
Dann war er verschwunden und Alex blieb allein zurück. Verwirrt. Und einsam. Sie drehte den Kopf und sah sich um, aber Anders hatte sich genau dort, wo er eben noch gestanden hatte, in Luft aufgelöst. Sie machte zwei Schritte weiter, und stieg dann langsam die vielen Stufen hinab, bis sie unten am Ende der Treppe ein vertrautes Gesicht erblickte. Eyndor.
»Alex!«, fuhr er auf, schnellte vor und schloss sie in die Arme. »Um Himmels Willen, was hat er dir-«
»Er hat mir gar nichts angetan«, erwiderte das Mädchen ernst. Es wischte sich die letzten Tränen vom Gesicht. »Er ist mit mir in meinen Traum gestiegen und hat den Krieger dazu gezwungen, sich zu offenbaren.«
Mit den Händen an ihren Schultern löste sich der Krieger von ihr und senkte den Blick in ihr Gesicht hinab. »Ich dachte, er würde dir-«
»Etwas antun.« Alex seufzte. »Das hat er aber nicht. Er hätte nur wirklich etwas freundlicher um meine Hilfe bitten können. Aber ich bin hier, und es geht mir gut. Um Anders mache ich mir mehr Sorgen. Und um dieses furchtbare Schwert. Ich wünschte, er könnte es weglegen, für immer.«
Und mit ihm seine Schattenseite abstreifen und frei sein. Aber das war leider nicht möglich.
Eyndor hielt sie fest, als wollte er sie niemals mehr loslassen. Und obwohl Alex nie ein Mensch gewesen war, dem Berührungen viel bedeuteten, lag in dieser so viel Sorge und Wärme, dass sie froh war, an diesem Punkt zu sein. Ohne, dass sie es wollte, waren soeben zwei Dinge geschehen: Eyndor hatte ihr bewiesen, dass ihm viel an ihr lag. Dass er sie mochte und dass er sich, um sie zu schützen, sogar einem Engel in den Weg stellen würde. Und Anders hatte ihr offenbart, wie viel Macht sie tatsächlich über ihn hatte. Eyndor war es nicht gelungen, den Kerub aus seiner Finsternis zu reißen.
Ihr aber schon. Irgendwie hatte Alex sein Herz erreicht. Und sie wusste plötzlich, dass sie es, sollte sie dazu gezwungen sein, wieder tun konnte. Und wieder. So lange, bis Anders sie nicht mehr brauchte, würde sie irgendwie einen Weg finden, ihn ins Licht zurückzuzwingen, ganz gleich, wie sehr er sich aufgeben wollte.
»Und wo ist Anders hingegangen?«
»Fort. Hat sich in Luft aufgelöst, einfach so. Aber ich weiß, dass er den Krieger erkannt hat. Er hat mir einen Namen genannt, bevor er verschwunden ist. Vielleicht weißt du, von wem er spricht?«
»Einen Namen?«
Sie nickte. »Darias.«