Die Ebene bot ein Bild des Jammers. Das Gras war fahl geworden, als hätte eine bösartige Präsenz jedem Grashalm zu wachsen verboten. Dunkelgraue Wolken hingen schwer vor der Sonne und sorgten dafür, dass nur dann und wann ein Lichtstrahl bis zum Boden vordringen konnte. Alle Blumen waren verdörrt, umgeknickt und zu schwarzen Häufchen verkümmert. Der Boden war trocken, als wäre seit Jahren kein Tropfen Regen mehr auf die Erde gefallen, um sie zu nähren. Jeder Quadratzentimeter erzählte eine Geschichte von einem einst blühenden Land, das nach Ankunft des Dunklen Prinzen wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war. Und hoch über dem Tal ragte, wie ein mächtiger, rabenschwarzer Schatten das gewaltige, dunkle Schloss auf. Es war noch zu weit weg, um es näher betrachten zu können, doch die Wolken über ihnen warfen Schatten auf die finstere Fassade, und so wirkte das gewaltige Hauptportal wie ein Maul, das man nach Belieben öffnen und schließen konnte.Eine allumfassende, von Dunkelheit geprägte Aura überschattete die Konturen des massiven Bauwerks. Je näher sie dem Koloss kamen, desto sicherer war sich das Mädchen, dass es kälter und liebloser wurde. Dass das Land um sie herum allen Mut verloren hatte, und die bloße Anwesenheit dieses finsteren Wesens genügte, um alle Neuerungen zu verhindern.
Zweifel machten sich in Alex breit. Wenn das Wesen, in dessen Reich sie schon bald eindringen würden, über all die Macht verfügte, die Anders und Nuin ihm zuschrieben, dann wusste er bereits, wie nahe sie waren. Weshalb unternahm er nichts, um ihnen das Eindringen zu erschweren? Belächelte er sie insgeheim?
Wusste er, dass die große Gefahr, vor der Isay ihn hatte warnen lassen, ein kleines Mädchen, ein Greif und ein verwundeter Krieger waren? Plötzlich klang der Gedanke selbst in ihren Ohren eigenartig. War das die Armee, mit der sie ein Schloss stürmen wollte, in dem dunkle Mächte zu Gange waren?Und wenn es ihnen tatsächlich gelingen sollte, den finsteren Kerub zu überwinden, wie genau wollte sie in einem so gewaltigen Schloss einen einzelnen Spiegel ausfindig machen? Und wohin würde er sie bringen? Nach Hause? Oder in eine andere, vielleicht noch verrücktere Welt?
Sie waren den ganzen Tag gelaufen. Wieder und wieder hatte sich das Mädchen gefühlt, als würden sie im Kreis gehen. Wiesen lösten karge, zerklüftete Landschaften ab, um sich wieder in grüne Wiesen zu verwandeln. Alles, was sich verändert hatte, war der Fernblick. Irgendwann waren die letzten Echos gewaltiger Rauchsäulen verstummt. Die graue Wolkendecke war aufgerissen und gestattete einzelnen, goldenen Sonnenstrahlen den Weg zur Erde hinab. Die Ruhe, die sie umgab, heuchelte ihnen ein Bild von Frieden und Einklang vor. Die Sonnen schimmerten hoch über ihnen und eine von ihnen wurde bereits blasser und drängte nach vorn, als es Alex endlich gelang, den Blick von der Festung abzuwenden, die das größte Hindernis darstellen sollte.
»Hast du Angst?«, hörte sie Nuins Stimme und nickte, ohne ihn anzusehen.
»Diese Festung erscheint mir unüberwindbar.«
»Nun«, sagte dieser, »überwinden wollen wir sie auch nicht. Kannst du dich erinnern, dass ich dir sagte, der Krähenprinz sei verrückt geworden und habe sich in die Katakomben ganz tief unter seinem Schloss zurückgezogen?«
Alex nickte wieder und nun kam Nuin näher, setzte sich auf die Hinterbeine und lauschte dem Krieger mit leicht zusammengekniffenen Augen.
»Es gibt ein geheimes Tunnelsystem, das sich über viele Kilometer erstreckt. Es gibt Gänge, Wasserpfade, Tunnel und Höhlen, dort unten. Ein ideales Versteck, vor allem, wenn man alles, was sich dort befindet, kontrollieren kann. Eine Welt ohne Tageslicht, die alle Eindringlinge schon verrückt macht, ehe sie das Schloss betreten haben. Die Legende besagt, wen er dorthin verbannt, der wünscht sich binnen kürzester Zeit den Tod. Allein, nur mit den Schatten und den eigenen Ängsten erwartet die Opfer der Katakomben ein grausamer, zäher Tod. Aber das sind Geschichten. Die Tunnel jedenfalls, gibt es wirklich.«
Alex horchte auf. »Du kennst einen anderen Weg hinein?«
»So könnte man es nennen. Als Eyndor damals begegnete«, fuhr er fort, und warf Nuin einen Seitenblick zu, denn er sollte nach wie vor nur das erfahren, was er unbedingt wissen musste, »kam er scheinbar aus dem Nichts. Heute weiß ich, es war ein geheimer Gang, durch den ich ihn kommen sah. Und wo ein Eingang ist-«
»Gibt es einen Weg hinein.«
Anders nickte »Ich kenne die Gänge. Als ich den Schlüssel an mich nahm, habe ich einen Eingang entdeckt. Hier kommst du ins Spiel.« Er drehte sich zu Nuin um und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Du wirst nicht mit uns kommen, und es war gut, dass du bis hierher mit uns gegangen bist. Aber wenn du uns vor Eintritt in das Schloss verlassen wirst, wüsste ich, was du tun könntest, um dafür zu sorgen, dass der Krähenprinz eine Weile beschäftigt ist.« Er zwinkerte und Nuin neigte fragend den Kopf zur Seite. »Er wird mit einem Angriff oberhalb der Erde rechnen. Von den geheimen Tunneln weiß kaum jemand. Du kannst ihn ablenken, wenn du dich in der Nähe des Schlosses aufhältst. Du weißt schon - über den Turm hinwegfliegen, in der Nähe kreisen - so etwas. Er wird dich für einen Späher halten, und wenn wir Glück haben, bemerkt er uns so lange nicht. Auch seine Macht ist begrenzt. Er kann nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein.«
»Und wenn wir drinnen sind«, sagte Alex, »wie finden wir dann den Spiegel?«
Achselzuckend sah Anders sie an. »Das überlegen wir uns, wenn wir es geschafft haben. Bisher war der Weg ein wenig zu einfach. Ich fürchte, der beschwerliche Teil liegt noch vor uns. Und was kommt, wird unschön.«
»Wie lange werden wir bis zu den Tunneln brauchen?«
»Zwei, vielleicht drei Stunden.« Anders lächelte. »Wir werden sie im Dunkeln erreichen. Niemand wird uns kommen sehen.«
Es sei denn, man erwartete sie bereits, dachte Alex, sprach es jedoch nicht aus. Wenn sie Anders nun verunsicherte, und er den Entschluss fasste, sie nicht zu begleiten, stand sie der Höllenmacht des Dunklen völlig allein gegenüber.
»Ich habe kein Problem damit, ein wenig für Ablenkung zu sorgen«, erwiderte Nuin schließlich. »Aber ich nähere mich dem Schloss nicht weiter, als ein paar Meter an. Und ich werde es nicht betreten. Wenn euch etwas zustößt, seid ihr auf euch gestellt und-«
Alex legte ihm lächelnd eine Hand auf den Kopf und streichelte seinen Nacken hinab. »Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich bin dir schon dankbar, dass du bis hierhin mit uns gegangen bist. Du bist wundervoll, Nuin. Ich würde dir nie einen Strick daraus drehen, dass du dich fürchtest.«
Er sagte nichts, doch sein Blick offenbarte Betroffenheit.Offenbar gefiel es ihm nicht, dass Alex seine Schwäche so mühelos enttarnt hatte. Doch Alex hatte jedes Wort ernst gemeint. Nuin hatte keinen Grund, sich ihretwegen in Gefahr zu begeben und dennoch war er diesen Weg mit ihr gegangen. Ganz gleich, was nun geschehen würde, er hatte ihr einen Dienst erwiesen, der nicht nötig gewesen wäre. Und selbst wenn der Greif wortkarg und manchmal mürrisch wirkte, hatte das Mädchen in ihm einen treuen Freund erkannt, den sie nicht mehr missen wollte.
»Ehrlich«, fügte sie hinzu. »Du-«
In diesem Augenblick hallte ein Schrei über das Tal hinweg. Ein Grollen ließ die Erde beben und kurz darauf, warf sich ein mächtiger, dunkler Schatten über die Drei. Alex riss das Gesicht in die Höhe, doch noch ehe sie einen Blick auf den Ursprung des Geräusches erhaschen konnte, hatte Anders sie gepackt und zu Boden geworfen. Eine Brunst aus Feuer rauschte über sie hinweg. Alex schrie, riss die Hände vors Gesicht und fühlte das Gewicht des Kriegers auf ihren Gliedern, als die Hitze über sie hinwegfegte.
Anders sprang auf, packte sie am Arm und riss sie in die Höhe. »Lauf!«, hörte sie ihn schreien und rannte los.
Ihr Herz raste, als wollte es aus ihrer Brust springen. Dort, wo eben noch Gedanken ihr Bewusstsein passiert hatten, herrschte nun blanke Angst. Etwas war dort. Etwas hatte sich auf sie gestürzt. Etwas -
Sie riss im Laufen den Kopf herum und erspähte das Wesen, das mit weit aufgespreizten, durchscheinend rostroten Flügeln über ihnen kreiste. Ihr Geist resignierte mit einem Schlag. War es möglich, dass sie sah, was sie sah? Spielten ihr ihre Augen einen Streich oder hing dort über ihnen am Himmel tatsächlich ein echter Drache?
Sein schlangengleicher Leib räkelte sich mühelos durch die Luft. Der Widerstand des Windes brach sich an seinen Flügeln und ließ ihn segeln. Er sah anders aus, als sich Alex einen Drachen vorgestellt hatte. Ihre Drachen waren grün, massig und anmutig. Dieses Tier jedoch war schmal, grazil, es besaß keinen Rumpf, keinen Torso, keinen Unterleib. Der Drache war eine Schlange mit Flügeln. Er besaß weder Arme noch Beine. Lediglich drei scharfe Klauen hingen an den Enden seiner Flügel. Auf dem Rücken zierten fingerlange Dornen in einer geraden Linie seinen Leib und endeten erst kurz vor der Schwanzspitze. Sein Kopf erinnerte in Form und Größe an den eines Pferdes. Doch er war kantiger, animalischer. Zwei Hörner ragten dort auf, wo Alex seine Stirn vermutete.
Sein schlanker Leib war von schimmernden Schuppen bedeckt. Sie waren nicht grün, sondern rostrot. Sein ganzer Körper glänzte, wie von Öl bedeckt. Dann drehte er den Kopf und senkte ihn, und der Blick seiner Augen traf Alex und verleitete sie dazu, fortzusehen und weiter zu rennen. Die Augen des Drachen waren schwarz. Rabenschwarz. Sie hatten keine Pupille, die andeutete, wohin er stierte. Sie waren tiefschwarze, leblose Murmeln, in denen sie lediglich ihr eigenes Abbild ausmachen konnte.
»Alex, lauf!«
Alex spürte Anders Atem im Nacken. Er war direkt hinter ihr, entkommen aus der tödlichen Feuersbrunst, die er Drachenkehle entflohen war. Ihr Magen rebellierte. Sie kämpfte um jeden Atemzug. Ihr schien, als atmete sie plötzlich Asche. Die Luft hatte sich in ein Meer aus Hitze verwandelt. Die bloße Anwesenheit des Drachen schien Luft in Feuer zu verwandeln.
Eng an ihr Herz gepresst, quietschte Joshua panisch. Alex fühlte seine Krallen, die irgendwo am Träger ihres BH’s Halt suchten, und hoffte inständig, dass er nicht herunterfallen würde, denn sie konnte nicht umkehren, um ihn aufzuheben.
Diesmal nicht.
Doch der Gedanke erübrigte sich, als sie mit dem Fuß an einem Stein hängen lieb und ins Straucheln geriet. Mit wild rudernden Armen fiel sie auf alle Viere und direkt darauf spürte sie einen Schlag, als Anders über sie stürzte, und hinter ihr zu Boden ging. Seine Reaktion auf den Sturz war flink. Blitzschnell hatte er sich aufgerappelt, sein Schwert gezogen und vor sich ausgestreckt, während er sich selbst mit einem Sprung zwischen Alex und das Ungeheuer brachte. »Alex, lauf!«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Lauf zum Schloss, dreh dich nicht um und rette dich in den geheimen Gang auf der Rückseite. Er liegt hinter einem mit einem Busch verwachsenen Baum. Dreh dich nicht um. Ich treffe euch dort. Wenn nicht, geh zum Schloss. Renn!«
Im Profil sah sie die Entschlossenheit auf seinem Gesicht. Er hatte sich vom fürsorglichen, von Angst und Trauer geleiteten Mann wieder in den Krieger verwandelt, der am Tag zuvor den Spiegel zerschlagen und eine andere Welt gerettet hatte. Mit einem Mal war er wieder ein Mann, den man nicht reizen sollte. Der wusste, wie man kämpfte, worauf es ankam, und wie man ein Leben auslöschte. Das Aufblitzen in seinen strahlenden, bernsteinfarbenen Augen ließ keinen Zweifel zu: Dieser Krieger würde bis zum letzten Atemzug kämpfen. Kein Drache konnte sich ihm in den Weg stellen. Flackernd flog ihr Blick vorüber und streifte Nuin, der aus der Ferne angerannt kam. Die Federn an seinem Kragen waren angesengt und er selbst staubig, und voller Erde, als hätte er nach einem Angriff Feuer gefangen und sich daraufhin wild im Dreck gewälzt. Mit einem Sprung ging er in die Luft, passierte Anders mit einem vielsagenden Blick und landete unmittelbar hinter Alex auf der Erde. »Spring auf!«, fauchte er. »Los!«
Und Alex gehorchte. Wie in Trance beobachtete sie sich selbst, wie sie mit bebenden Fingern auf den Rücken des Greifen kletterte, ihre Hände in sein verdrecktes Fell schlug, und ein letztes Mal zu Anders zurückblickte. Sie wusste, noch ehe Nuin in die Luft stieg, dass sie ihn zurücklassen würden und auch, dass sie sich vielleicht niemals wiedersehen würden. Er, der Mann, der ihre Kindheit auf so vielerlei Wegen geprägt hatte, verschwand vielleicht für immer aus ihrem Leben. Und eine Chance, ihn noch einmal sprechen, ihm danken und ihn um Verzeihung für all ihre Fehlentscheidungen bitten zu können, war dahin.
Dann rannte der Greif los und hinter ihnen stürzte sich Anders seinem Feind entgegen. Ein Brüllen zerriss die Stille. Alex drehte den Kopf und blickte zurück. Gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich eine Flut aus Feuer und Rauch über den Krieger ergoss und Anders den Arm vors Gesicht reißen musste, um sich zu schützen. Hustend wich er zurück, hob das Schwert und stürzte dem Drachen entgegen, der sich langsam, mit eingerolltem Schwanz zu Boden gleiten ließ, um sich seines Widersachers anzunehmen.
»Nuin..«, flüsterte sie, doch der Greif hörte jedes Wort.
»Wir haben keine Wahl«, erwiderte er kühl. Aber diesmal konnte sie fühlen, dass seine Miene verzogen war, und seine Entspannung nur gespielt. Tatsächlich hatte ihn das Erscheinen des Drachen aus der Bahn geworfen. »Es tut mir leid.«
»Nein, er.. er kommt zurück«, sagte Alex, doch ihre eigenen Worte hallten an ihren Gedanken wider. Und innerlich wusste sie, dass es sein könnte, dass sie sich diesmal irrte. Und wenn es so war, dann hatten Isay und der abtrünnige Kerub gewonnen.
Das durfte nicht geschehen. Mit aller Macht hielt sie an diesem Gedanken fest.