Er klopfte zweimal und trat dann ein. Das Zimmer hinter der verschlossenen Tür war spartanisch eingerichtet, und doch königlich. Das Bett war groß und aus massivem Holz gefertigt. Ein handgearbeiteter Tisch mit zwei Stühlen daran, stand vor dem Fenster, das noch immer mit purpurrotem Samt verhangen war. Und inmitten all des Prunks, den er nicht brauchte, saß der Kerub auf seinem Bett und hob den Kopf, als Eyndor hereinkam.
»Ich habe dich nicht hereingebeten«, sagte Anders eisig, und seine Miene verdunkelte sich. »Was willst du hier? Es gibt nichts zu sagen.«
»Es gibt nichts zu sagen?«, wiederholte der Krieger. Sein Blick flog an der Gestalt des Kerubs vorüber und traf auf einen Spiegel, in dem er sein eigenes Antlitz sehen konnte. Inzwischen war er rasiert, gewaschen, sein Haar war zusammengebunden und irgendwann hatte er sich selbst unter all dem Dreck wiedergefunden. Wieso konnte Anders ihn nicht sehen? »Ich war zehn lange Jahre ein Gefangener des meistverhassten Mannes Andheras. Und du hast mir nichts zu sagen?«
»Du hast deine Wahl getroffen, als du gegangen bist. Ich habe dir jemanden geschickt, der die Macht besitzt, dich zu befreien. All meine Schulden sind beglichen.« Anders erhob sich und hinter drohten aus der Finsternis seine großen, Rabenschwingen zu wachsen.
»Also ist das die Strafe für meinen Ungehorsam? Du hilfst bei meiner Befreiung und weist mich ab?«
»Ich weise dich nicht ab«, murmelte Anders. »Und ich bestrafe dich nicht. Aber was du hier in meinem Gemach suchst, wirst du nicht finden. Ich habe keine Vergebung und keinen Zorn für dich übrig. Ebenso wenig, wie ich Güte für das Mädchen erübrigen kann. Du hast sehr viele Dinge versäumt.«
»Offenbar war ich nicht da, als du vergessen hast, wie man Gnade walten lässt.« Sein Inneres wallte auf und Eyndor spürte, wie die Wut die Oberhand gewann. »Was ist nur aus dir geworden?«
Anders Augen wurden schmal. »Reiz mich nicht, Eyndor. Du weißt nichts davon, wie sich die Welt dort draußen gewandelt hat, weil ich gezwungen war, die Hände in den Schoß zu legen. Isay hat mich verbannt. Ins Exil geschickt und hier eingekerkert. Zehn Jahre lang. Ich war genauso ein Gefangener wie du. Und inzwischen hasst man mich dort draußen nicht weniger, als ihn. Wage es nicht, meine Motive zu hinterfragen. Ich habe keine Zeit für derartige Spielchen.« Er wandte sich ab und huschte zum Fenster hinüber. Mit der rechten Hand schob er den Samtvorhang ein Stück zur Seite und spähte hinaus. »Es steht dir frei, zu gehen. Ich habe dich nicht herholen lassen, um dich wieder einzusperren. Und ich will nicht im Streit mit dir auseinandergehen.«
»Du glaubst, ich würde gehen?« Eyndor lachte. »Ich kehre nach all den Jahren zurück und finde ein Bild des Jammers vor. Ich höre Geschichten davon, wie du gute Menschen in den Tod schickst, nur weil Isay es befiehlt. Du hast offenbar vergessen, auf welcher Seite du stehst, und du denkst, ich würde dich im Stich lassen? Nach allem, was ich dir angetan habe? Hast du vergessen, wie nahe wir uns standen?«
»Warum hast du es mir denn angetan?«, fauchte Anders und drehte sich so abrupt um, dass der Krieger fast zurückgewichen wäre. »Um mich für meine Methoden zu bestrafen? Um mir die Augen zu öffnen? Um mir beizubringen, wie bitter Verlust schmeckt?«
Unter der Maske der Gleichgültigkeit schwelte sein Zorn wie ein loderndes Feuer.
»Nein«, erwiderte Eyndor erschrocken. Abwehrend hob er die Hände vors Gesicht. »Anders, ich bin weggelaufen, weil ich den Krieg nicht mehr ertragen konnte. Ich wollte nur einmal jemandem begegnen können, ohne ihn töten zu müssen. Ich wollte nur ausbrechen aus diesem Kreislauf des Mordens. Und es gab eine Zeit, da hättest du das gleiche für mich und mein Leben gewollt.«
Einen Augenblick lang schien Anders verunsichert. In seinen lodernden Bernsteinaugen zeigten sich langsam an ihm nagende Zweifel. Er entriss dem jungen Krieger seinen Blick und begann, drei Schritte von ihm fortzugehen. »Ja. Aber der Mann, der glaubte, er könnte dich aus dem Konflikt mit Isay heraushalten, hat seine Lektion gelernt und teuer dafür bezahlt.« Er musterte Eyndor mit einem langen Blick. »Wenn du diesmal gehst, kann ich dich nicht retten. Triff deine eigenen Entscheidungen, aber komm nicht zurück zu mir, wenn deine Wahl falsch war.«
»Und das Mädchen?«
»Alex hatte die simple Aufgabe, mir zwei Gegenstände aus dem Schloss zu holen, ohne dabei Alarm zu schlagen!«
»Das hatte sie nicht. Du wusstest genau, dass Isay seinen Spiegel niemals aus den Augen lässt. Du hast sie ihm ans Messer geliefert und nur Glück gehabt, dass er sie nicht auf der Stelle getötet hat. Seit wann bringst du Kinder in Gefahr, um deine Ziele zu erreichen?«
»Sie war zu keiner Zeit wirklich in Gefahr.«
»Also wusstest du, dass wir uns begegnen würden.« Eyndor seufzte lautstark. »Du hast es gesehen. In deinen Träumen. Du wusstest, dass sie mich befreien würde, und ich nur so zurückkehren kann.«
»Bist du zufrieden, wenn ich dir schwöre, dass es so wahr?«
»Und der Greif? Die Kleine hat alles versucht, um ihn freizukaufen. Mehr als ihr Leben kann sie dir nicht bieten. Wieso ist sie so wertvoll für dich?«
Anders zögerte, doch schließlich ließ er sich auf das Bett nieder und bedeutete dem Krieger, sich neben ihn zu setzen. Als Eyndor Platz nahm, drehte er ihm sein Gesicht zu und bettete erstmals seine Hand auf die des jungen Kriegers. »Es tut gut, zu wissen, dass du in Sicherheit bist. Und was das Mädchen betrifft, auch sie ist hier am sichersten Ort der Welt. Sie weiß es nur nicht.«
»Ich weiß von Isays Prophezeiung. Er glaubt, sie besitzt die Macht, dir zum Sieg zu verhelfen. Was verschweigst du mir?«
»Die Truhe, die sie für mich stehlen sollte, beherbergt eine Waffe, die ich selbst hineingelegt habe. Damals dachte ich, ich verliere den Verstand. Ich verschloss die Truhe mit einem Zauber und einem Schlüssel. Man braucht beides, um sie zu öffnen, gepaart mit einer Kraft, die beinahe nur eine gute Seele aufbringen kann. Ich kann es nicht mehr. An meinen Händen klebt so viel Blut, dass ich den Zauber nicht mehr alleine aufheben kann. Nur eine Seele, die ganz und gar außergewöhnlich und meiner ebenbürtig ist, kann den Schlüssel benutzen. Also suchte ich jemanden, mit einer besonderen Gabe, den das Schicksal irgendwann zu mir treiben und vor die Wahl stellen würde. Alexandra war das einzige Kind, das die Gabe besaß, mir nach Andhera zu folgen. Also gab ich ihr den Schlüssel zur Verwahrung und zog mich zurück. Ohne diese Waffe kann ich Isay vielleicht nicht besiegen, aber verhindern, dass uns ein größeres, finsteres Übel heimsucht. Wenn Isay in den Besitz dieser Waffe gelangt, kann ich niemanden mehr vor ihm beschützen.« Etwas in seinem Blick wurde wehmütig, fast mitleidsvoll. »Wenn sie geht, sterben wir.«
»Also ziehst du es vor, sie hier festzuhalten? Wie lange? Ein Jahr? Zehn? Solange es nötig ist? Wenn du sie in ihre Welt zurückschickst, kann Isay ihr nicht folgen. Wo könnte sie sicherer sein, als dort?«
»Du verstehst nicht«, murmelte Anders, während er seine Hand zurückzog. »Die Kleine glaubt, sie entstammt einer wundervollen Familie, die sie liebt und vermisst. Sie denkt, dass sie auf der anderen Seite ein Leben besitzt, für das es sich zu kämpfen lohnt. Etwas, wohin sie einfach so zurückkehren kann. Aber dem ist nicht so.«
Hellhörig geworden kniff Eyndor die Augen zusammen und musterte Anders mit Nachdruck. »Was hast du getan?«
»Ich habe eine Illusion erschaffen, die es ihr möglich machte, bis vor wenigen Tagen ein halbwegs normales Leben zu führen. Ich gab ihr das Gefühl, geliebt zu werden, eine Familie zu haben und glücklich zu sein. Meine letzte Tat, bevor ich ins Exil ging, sollte ein Akt der Gnade sein.«
»Und nichts von alledem ist wahr?«
Langsam schüttelte Anders den Kopf. »Sie ist ein Waisenkind, genau wie du. Ausgesetzt worden, auf einer Türschwelle. Niemand vermisste sie. Sie wuchs in einem Kinderheim auf und es gab keine Aussicht auf Vermittlung, weil sie wegen ihrer Gabe immerzu in Schwierigkeiten geriet. Niemand wusste, was mit ihr nicht stimmt. Die Menschen kennen keine Spiegelspringer mehr. Also schickte ich ihr einen wahrgewordenen Traum und all das, wonach sie sich sehnte. Eine Familie, Freunde, Alltag. Das, wonach sich Menschen verzehren, wenn es ihnen weggenommen wird. Ihr Leben ist eine meiner besten Illusionen. Ich habe ihr all das gewünscht. Von Herzen, Eyndor. Ich tat es nicht aus Eigennutz. Ein Leben voller Glück, wer wünscht sich das nicht? Ich betete, sie würde nie zurückkehren und der Zauber würde andauern.«
»Und wenn sie jetzt zurückkehrt..«
»Ist niemand mehr da. Der Zauber hat lediglich so lange gehalten, bis sie Andhera betreten hat. Danach hat er seine Wirkung verloren. Und alles, was sie liebt, hat es nie gegeben.« Ein bitteres Lächeln machte sich auf den Lippen des Kerubs breit. »Und das ist der Grund, weshalb ich ihr nicht erlauben kann, zu gehen.«
»Sie muss es erfahren. Sie hält dich für ein Monster.«
»Vielleicht bin ich das Ungeheuer, das sie in mir sieht. Besser, sie fürchtet mich, als die Rückkehr in ein leeres Leben voller Lügen.«
»Nicht, wenn ich ihr die Wahrheit sage.«
Aber Anders lächelte nur. »Das wirst du nicht. Wenn du sie dieser Illusion beraubst, bricht sie auseinander wie Glas. Sie wird zerspringen und niemals mehr irgendjemandem vertrauen können. Willst du das?«
Eyndor nickte. »Lieber, sie erfährt es jetzt von jemandem, den sie mag, als irgendwann von jemandem, der ihr nach dem Leben trachtet. Ich muss es ihr sagen.«
»Dann wird sie gehen«, erwiderte Anders düster. »Und wir sterben.«
»Und obwohl du das weißt«, murmelte der Krieger, »hast auch du deine Wahl längst getroffen. Ich sehe in deinem Blick, dass du den Kampf verloren glaubst. Und wenn wir fallen, lass uns wenigstens Alex zurückschicken.«
Der Kerub zuckte die Achseln. »Ich werde dich nicht aufhalten. Ich kann, durch den Zauber bedingt, nicht in das Schicksal unserer Verbundenheit eingreifen. Aber du solltest dir klar darüber sein, welchen Preis wir zahlen.«
»Also willst du, dass sie deine Gefangene bleibt?«
»Nein.«
»Dann gehe ich sie informieren.« Eyndor stand auf und lief zur Tür. Dort angekommen, drückte er die Türklinke herunter, stieß die Tür auf und drehte sich zu seinem Freund um. »Und danach komme ich zurück. Ich laufe nicht mehr weg, und ich werde zu dir stehen, ganz gleich, was-«
Plötzlich sah er, wie der Blick des Kerubs an ihm vorüberglitt, und drehte sich um. Hinter ihm stand Alex mit großen, rotgeweinten Augen und Wangen, über die nach wie vor Tränen liefen. »Ist es wahr?«, hörte er ihre brechende Stimme.
»Anders würde dich nicht belügen«, sagte er betont ruhig und bemerkte, wie Alex an ihm vorüber in das Zimmer linste, in dem sich der Kerub inzwischen abgewandt hatte.
Diesmal konnte Eyndor im letzten Augenblick noch zupacken, ehe das Mädchen in Ohnmacht fiel.