»Es tut mir so leid«, sagte das Mädchen. Mit der rechten Hand streichelte sie Nuins Hals, der lang ausgestreckt auf dem Boden lag. »Ich verstehe, dass du wütend bist, aber ich kann nicht einfach zusehen, dass etwas Grauenvolles geschieht, weil ich einen Fehler begangen habe. Und ich kann wirklich nicht zulassen, dass du hier bleibst für den Rest deines Lebens oder gar hingerichtet wirst.« Sie seufzte. »Du wolltest nicht einmal hier sein.«
Der Greif sah sie nicht an. Sein Blick fuhr stumpf ins Leere und das Mädchen hielt inne, zog ihre Hand durch das Zellengitter zurück und stemmte sich auf die Beine hoch. Nuin hatte sich in den letzten Stunden beharrlich geweigert, mit ihr zu sprechen und Alex wusste, dass sie das Unausweichliche nicht unnötig in die Länge ziehen konnte. Sie musste gehen, wenn sie Anders nicht verärgern oder unnötig reizen wollte. Geduld war tatsächlich keine seiner Stärken und sie hatte sich damit abgefunden, dass ihre Entscheidung einen Keil zwischen ihre Freundschaft mit dem Greifen getrieben hatte. Dennoch war ihre Entscheidung richtig gewesen und sie wusste, dass auch er es irgendwann verstehen würde.
»Es tut mir wirklich, wirklich leid«, sagte sie schließlich und wandte sich zum Gehen um.
Ihr Blick flog zum Lichtkegel der Fackel hinüber, die am Ende des Ganges in einer Wandhalterung steckte. Hinter der Tür, die sich unmittelbar neben dem Lichtschein befand, wartete der dunkle Engel. Sie spürte, dass er dort, wie ein Raubtier, in den Schatten lauerte. Seine Gegenwart flackerte wie ein Schatten auf und die Dunkelheit, die ihm innewohnte, schien wie eine unheilbare Krankheit an der Tür zu kratzen.
Während sie an ihn dachte, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken hinab. Die Entscheidung, sich in seine Hand zu begeben und seinem Handel zuzustimmen, zwang sie auch dazu, hinzunehmen, dass er ihr über die Schulter sah. Dass er sie beobachtete und ihr Fallen stellte. Und sie wusste, dass sie tot war, wenn er aufhörte, ihr zu vertrauen.
Verkrampft machte sie einen Schritt in Richtung Tür, als Nuin träge den Kopf hob. »Alex«, rief er sie zurück, neigte das Haupt und schaute ihr nach. »Alex, ich bin doch nicht böse auf dich. Ich bin so wütend, dass ich die Vorzeichen nicht erkannt habe. Ein Krieger, der Spiegel beschützt? Dessen Wunden über Nacht heilen und der dich ins gefährlichste Schloss der Welt bringen wollte, aus reiner Nächstenliebe? Ich bitte dich. Wir waren Narren, dass wir ihm getraut haben.«
»Du hast ihm nicht vertraut«, erinnerte sie ihn und setzte ein müdes Lächeln auf. »Aber ich dachte, ich kann ihm glauben. Ich dachte, ich kenne sein Herz. Und ich habe dich dazu gebracht, mir Glauben zu schenken. Dass wir in diesen Hinterhalt geraten sind, ist bestimmt nicht deine Schuld.«
»Ich bin das große Ungeheuer. Ich sollte um dein Leben kämpfen, nicht du um meines. Wie willst du dich zur Wehr setzen, wenn Isay dich findet?«
»Mir wird schon etwas einfallen«, erwiderte Alex verhalten. Improvisieren lag ihr ebenso im Blut, wie das Spiegelgehen. Aber selbstverständlich war sie alles andere als überzeugt von ihren Worten. Sie wusste, dass, wenn sie Isay in die Hände fiel, ihre Tage gezählt waren. Irgendwie hatte sie sich mitten in einen apokalyptischen Krieg hineinkatapultiert, in dem jeder ihr Feind war. »Bitte mach dir keine Sorgen um mich. Ich verspreche dir, dass ich zurückkommen werde. Und dann bist du frei.«
»Du kannst immer noch Nein sagen und umkehren.«
»Vielleicht könnte ich das«, seufzte sie und drehte sich endgültig um, »aber dann ist unsere Geschichte zu Ende. Sie mag nicht besonders schön, nicht groß und episch sein, aber sie ist alles, was uns verbindet. Und ich bin noch nicht bereit dazu, kampflos aufzugeben. So bin ich einfach nicht.«
Sie ließ den Greifen hinter sich zurück und schüttelte, kaum dass ihre Hand auf der Türklinke lag, alle Emotionen ab, die mit ihm zurückgeblieben waren. Als sie die Tür öffnete und hinaustrat, war sie eine leere Hülle. Nur noch ein Gefäß, das frei von Furcht einen Auftrag zu erledigen hatte, bei dem alles auf dem Spiel stand. Sie versuchte auszublenden, dass sie ihr Leben und ihre Freiheit verlieren konnte, und fand sich einem Feind gegenüber, der viel mächtiger war, als Anders je sein konnte: dem Zweifel.
Ein Übel, dem sie schon früher wieder und wieder unterlegen war. Sie ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und sah sich um, doch von der Finsternis, die sie erwartet hatte, war nichts zu sehen. Lediglich der Ziegendämon wartete, mit dem Rücken an die Wand geneigt, im Halbdunkel auf sie.
»Er hat gesagt, wenn du wegläufst, Mädchen, frisst dich das Schloss auf, noch ehe du es verlassen hast. Ich bring dich zu ihm, wenn du bereit bist.«
»Ich werde nie bereit dazu sein«, entgegnete das Mädchen, nickte jedoch. »Also, bring mich zu ihm. Je schneller ich gehe, desto eher ist der Albtraum vorüber. Für uns alle.«
Der Ziegendämon machte auf dem Absatz kehrt und führte sie aus dem Kellergewölbe hinaus, in den zweiten, anderen Turm. Diesmal zählte Alex jede einzelne Stufe und es kam ihr vor, als würde es mit jedem Schritt schwerer werden, hinaufzugehen. Dieser Weg war falsch. So falsch, dass sich jede Faser ihres Körpers dagegen wehrte und doch hatte sie keine Wahl.
»Ab hier«, sagte der Dämon plötzlich, »gehe ich nicht weiter. Niemand hat diesen Turm je betreten. Geh einfach weiter hinauf. Er erwartet dich bereits.«
Mit einem Nicken setzte das Mädchen ihren Weg fort. Es war schwer, sich allein einem übermächtigen Feind zu stellen, doch sie wusste, dass sie etwas besaß, das Anders unbedingt haben wollte: Sie konnte etwas tun, wozu er nicht imstande war. Und solange sie seinen Regeln folgte, würde er sie nicht leichtfertig aus dem Weg räumen. Allein dieser Gedanke half ihr, die letzten einhundert Stufen hinaufzusteigen. Dann, am Ende der Treppe, sah sie ein Licht, das ihr seltsam bekannt erschien. Sie nahm die letzten Stufen und fand sich ohne Umschweife im zweiten Turmzimmer wieder. Dieses war durch keine Tür von der Treppe getrennt.
Sie stand mittendrin. Umringt von Spiegeln. Die Wände, die Decke, selbst der Boden - jeder Quadratzentimeter des Zimmers bestand aus Spiegelglas und aus jedem blickte ihr ihr eigenes kreidebleiches Gesicht entgegen. Aus allen, bis auf einen. Den, vor dem Anders stand und ihr den Rücken zukehrte.
Sein Spiegelbild jedoch zeigte einen angespannten, nachdenklichen Dämon, der einen Zeigefinger an die Lippen gelegt hatte und angespannt ins Spiegelglas starrte, als würden sich ihm darin Antworten auf ungestellte Fragen offenbaren. Als sie näher kam, sah sein Spiegel-Ich auf und sein Blick traf ihren. Obwohl die Intensität seiner Augen vom Spiegel abgefangen wurde, spürte sie, dass er sie nicht nur ansah, sondern tief in ihr Inneres schaute. Seine Augen höhlten sie aus und brannten ihre Schutzwälle nieder. Was immer er in ihr sehen wollte, offenbarte sich ihm und Alex war machtlos gegen seine Kräfte.
Er sah bis auf den Grund ihrer Seele hinab und alle Geheimnisse, Sorgen und Ängste entblößten sich vor seinem Willen.
»Du hast sie alle hierher gebracht und der Welt gestohlen. Und dennoch machen sie dich nicht glücklich. Keiner von ihnen. Du bist einsam und traurig, ganz gleich, wie viel Magie du um dich scharst. Das ist dein Schicksal?«
Sein Spiegelbild verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Nachdenklich rieb er sich mit Mittelfinger, Zeigefinger und Daumen über das Kinn und verschränkte kurz darauf die Arme vor der Brust. »Sie sind nicht hier, weil sie mich glücklich machen. Sie sind hier, weil sie die einzigen Wege sind, die ich nicht kontrollieren kann. Niemand gelangt in mein Schloss ohne, dass ich es bemerke. Aber durch einen Spiegel sehe ich kein Unheil kommen. Ich habe sie alle hierher bringen lassen, um mich zu schützen. Und damals auch, um die Welt vor mir zu schützen. Solange sie alle hier sind, kann auch ich sie nicht einsetzen, um Andhera zu schaden. Es gibt nur einen einzigen Spiegel, den ich nicht kontrolliere.«
»Und der befindet sich im anderen Schloss«, vermutete das Mädchen. Plötzlich machte es Sinn, dass Anders alle Spiegel zerstörte, die sich seines Einflusses entzogen. Für ein Wesen, das jedermanns Feind war, gab es niemals Sicherheit. »In Isays Gewalt.«»Er befindet sich in einem versteckten Zimmer, in einem abgelegenen Teil des Schlosses. Isay lässt ihn nicht gut bewachen, denn er weiß, außer mir kann ihm niemand gefährlich werden und ich breche unseren Pakt, wenn ich nur einen Fuß auf seinen Boden setze. Lieber tu ich gar nichts, als Eyndores Leben durch mein Handeln noch einmal in Gefahr zu bringen.«
Hinter der Maske, die er trug, zeigte sich erstmals eine echte Gefühlsregung.
Eyndor löste etwas in ihm aus.
»Wenn du so mächtig bist, dass er dich fürchtet, wieso wagst du es nicht und beendest diesen Krieg?«
Anders Mundwinkel zuckten und als er sich zu ihr umdrehte, lag ein diabolisches Lächeln auf seinen Lippen, das jegliche Menschlichkeit aus seinem Minenspiel tilgte und Alex endlich wieder daran erinnerte, dass ihm keine aufrichtigen Gefühle innewohnten, keine Gnade und keine Liebe. »Isay hat sich sehr gut abgesichert. Mir sind durch einen sehr klugen Schachzug seinerseits die Hände gebunden. Und die Gerüchte, dass ich über ein riesiges Dämonenheer verfüge, habe ich selbst gesät, um den Sterblichen und all meinen Feinden Angst zu machen. Es ist wahr, ich kann viele von ihnen zu mir rufen und um mich scharen, aber sie sind nicht hier, und die wenigen Krieger und Schattenwesen innerhalb meiner Schlossmauern, reichen nicht aus, um es mit Isays Gefolgschaft aufzunehmen. Alles, was ich habe, um ihm gefährlich zu werden, bin ich selbst. Und du. Und wir beide können bluten.«
Seine Worte ließen das Mädchen erschaudern. »Er hat deine Schwäche gefunden. Eyndor. Er bedeutet dir tatsächlich etwas. All deine Geschichten - ich habe gesehen, dass da etwas in dir war, das du nicht verstecken konntest. Dir liegt etwas an ihm. Wer ist er? Wie konntest du seine Freundschaft erkaufen?«
Ärgerlich blitze es im Blick des Kriegers auf. »Ich habe niemandes Gunst je erkaufen müssen. Treib es nicht zu weit, Alex. Ich bin nicht unbedingt bekannt für meine Geduld.«
Doch sie hatte einen Pfad beschritten, auf dem sie nicht umkehren konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie etwas wahrgenommen, das in seinem Blick geleuchtet hatte. Etwas, das vielleicht verraten hatte, dass sie der Wahrheit sehr nahe kam.
»Also doch«, flüsterte sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden. »Du musst es mir nicht sagen, aber es würde mir helfen zu verstehen, weshalb du so herzlos sein kannst. Isay hat dir jemanden genommen, der dir mehr bedeutet hat, als-«
Mit einem Knurren, das mehr an ein Tier als an ein aufrecht gehendes Wesen erinnerte, spreizte Anders seine Schwingen auf und eine Welle aus Finsternis begann das Zimmer zu überrollen. Flackernde, wabernde, bodenlose Schwärze griff auf den Raum über und begrub alle Spiegel unter sich, bis auf einen. Und Zentrum all der schwarzen Macht, der Kälte und dem Dunkel, war die Leere, die Anders Körper abstrahlte, wie eine Krankheit. »Nichts«, erwiderte er mit einer Stimme so kalt, dass das Mädchen unweigerlich zurückwich und sich vor ihm wegduckte, »bedeutet mir irgendetwas. Dies ist der Spiegel, durch den du gehen wirst.« Hinter ihm glomm der Spiegel auf, in den er bis vor Kurzem noch geblickt hatte. Sein Innerstes schien von einem fast himmlischen Schein erfasst. »Niemand darf dich sehen, hast du verstanden? Du hast keine Hilfe von mir zu erwarten. Aber ich denke, dort, wo der Spiegel steht, wird auch meine Truhe und das Schwert nicht weit sein. Bist du in drei Tagen nicht zurück, dann haucht dein Freund sein Leben aus!« Obwohl er äußerlich eiskalt blieb, spürte Alex, wie sein Inneres tobte. Seine Seele war von ihren Worten zerrüttet, sein Zorn so groß, wie nie zuvor und er selbst so gefährlich, wie er nur werden konnte. »Und du mit ihm.«
»Anders, ich..«
»Geh jetzt!«, fauchte er. Seine Flügel spannten sich drohend bis zum Zerreißen. »Bevor ich mich doch zu dem Gedanken hinreißen lasse, dich Isay auszuliefern.«
Alex Glieder strafften sich. Sie senkte den Blick, hielt die Tränen zurück und trat vor den Spiegel. Angespannt stellte sie sich vor ihn und sah in dessen Glas, wie der Schlossherr ihr nachblickte, die Arme vor der Brust verschränkt. Und der Spiegel offenbarte ihr, kurz bevor sie hindurchging, eine unausgesprochene Wahrheit: Ihr eigenes Herz, ihre Aura und ihre Seele schienen im Zentrum des aufglimmenden Spiegelglases in sanftem Licht zu pochen; in seiner Brust jedoch, gab es kein Leuchten.
Er war ein kalter, lebloser Mann, der nur den Anschein erweckte, noch am Leben zu sein.