»Hat er eigentlich einen Namen?« Alex mühte sich sichtlich ab, in ihren ungeeigneten Turnschuhen über die kargen Felsen zu humpeln. Hätte sie gewusst, dass klettern und einen Bösewicht überlisten auf dem Plan gestanden hätte, wären ihr möglicherweise bessere Schuhe in den Sinn gekommen. »Der Schwarze Engel, der Kerub, der Krähenprinz, meine ich«, setzte sie hinzu. »Hat er einen Namen?«
»Jedes Wesen hat einen Namen. Wir kennen ihn nur nicht. Niemand kennt ihn«, sagte Nuin. »Du musst wissen, dass Namen in Andhera Macht haben. Kennst du den Namen deines Opfers, ist ein böser Zauber leicht gesprochen. Kennst du ihn nicht, verfehlt Magie oft ihr Ziel.« Das Wort ›Macht‹ sprach er befremdlich aus, und so betont, dass Alex automatisch an einen dunklen, bösen Zauber denken musste. »Nur Eyndor und Isay kennen seinen wahren Namen. Und er darf auch deinen nicht erfahren, oder er hält dein Leben in seiner Hand.«
»Das heißt aber«, fuhr das Mädchen fort und stieg über einen der vom Berg hinabgerollten Felsen hinweg, »dass er einem Menschen gar nicht unähnlich ist, nicht wahr? Muss er essen? Und trinken? Schlafen?«
»Sicher muss er das«, erwiderte Anders und mischte sich erstmals in das Gespräch ein. Er lief hinter dem Mädchen. Angeblich, um sie auffangen zu können, falls sie stürzte, doch Alex war überzeugt davon, dass er sich schwächer fühlte, als er zugeben wollte, und einfach zu verhindern versuchte, dass man ihn beobachtete. Sein Stolz schien ihm hierbei am meisten im Weg zu stehen. »Wieso fragst du danach?«
»Weil es doch bedeutet, dass auch er Gefühle hat. Ein Herz, das vielleicht gebrochen wurde oder trauert, weil man ihm einen Freund genommen hat. Er wird müde, und das heißt, es gibt eine Zeit, in der er schläft und unaufmerksam ist. Und auch wenn er essen muss, wird er früher oder später abgelenkt sein. Habt ihr nie daran gedacht, euch seine Schwächen zu Nutze zu machen?«
»Ich habe überhaupt noch niemals daran gedacht, mich in seine Nähe zu begeben«, grollte der Greif. »Man muss schon sehr verrückt sein, um dem eigenen Verderben hinterher zu laufen.«
»Ich habe daran gedacht«, erwiderte Anders gereizt. »Aber es macht keinen Sinn, einen Plan auszuarbeiten, wenn man nicht wirklich weiß, ob der Feind eine Schwachstelle hat. Was, wenn er mit Eyndors Verschwinden inzwischen Frieden geschlossen hat? Schau, Alex.« Er kam ein paar Schritte näher und schloss zu dem Mädchen auf. »Hier draußen tobt ein sehr erbarmungsloser Krieg, der täglich Opfer fordert und sich wie ein Feuer immerfort neu entfacht. Eyndor als Krieger, müsste jeden Tag sein Leben riskieren. Denkst du nicht, es ist möglich, dass der Krähenprinz seine Festnahme möglicherweise zwiegespalten sieht? Sicher, man wünscht niemandem ein Leben hinter Mauern und Stahl, aber was, wenn nur seine sichere Verwahrung ihm all die Jahre das Leben gerettet hat?« Er seufzte. »Wie viele Schlachten kann ein einzelner Mann schlagen, ehe ihn das Schwert erwischt und für seinen Mut entlohnt? Ich bin sicher, wäre Eyndor in der Vergangenheit auf freiem Fuße gewesen, hätte es ihn irgendwann das Leben gekostet. Der Krähenprinz ist kein Dummkopf. Ich bin nicht sicher, welchen Stellenwert die Freiheit seines Freundes im Augenblick für ihn hat. Es gibt Gerüchte, dass er im Verborgenen bereits seit Jahren versucht, sich Isay zu entledigen. Was wäre für dich von größerem Wert? Die Befreiung eines Freundes, der zwar gefangen, aber wohlauf ist, oder die vollständige Vernichtung deines Feindes, der immer wieder und wieder zum Problem werden wird, solange er lebt?«
Alex konnte Nuin verächtlich schnauben hören. »Für jemanden, der sich in den letzten Jahren ausschließlich mit dem Zerstören von Spiegeln befasst hat, bist du gut im Bilde, Krieger.«
»Man hört überall auf der Welt Gerüchte«, schmetterte Anders den Einwand ab. »Die Leute reden, und in Zeiten des Kummers, bleibt ihnen auch nichts anderes übrig.«
»Und trotzdem glaubst du, selbst wenn du weißt, wie verrückt der Krähenprinz ist, dass es eine gute Idee ist, in sein Reich einzudringen?«
Anders schmunzelte. »Das tu ich nicht. Aber ganz egal, was du sagst, du wirst Alex nicht umstimmen können. Und ich will nicht noch jemanden zu Grabe tragen, der mir etwas bedeutet.«
Er sprach es nicht aus, doch in diesem Moment wusste Alex, wie schuldig sich der Krieger wirklich fühlte. Unwissend hatte er sie in einen Krieg hineingezogen, der in den letzten Jahren noch größer geworden war. Die Zukunft Andheras war finster und unbeständig, und Anders wusste, dass, sollte es Alex nicht gelingen, diese Welt zu verlassen, sie mit dem Krieg, der Gefahr und dem Kerub würde leben müssen.
»Du kannst jederzeit und ohne Schuldgefühle umkehren«, erwiderte sie, doch eigentlich wusste sie, dass Anders in Wirklichkeit keine andere Wahl hatte, als sie zu begleiten und verwarf den Gedanken rasch wieder.Als sie den Blick hob, und über das Land schweifen ließ, bemerkte sie erstmals, hoch über ihnen, in weiter Ferne, die Konturen eines Felsens, auf dessen Spitze ein majestätisches Schloss thronte. Es schien ganz und gar schwarz zu sein und besaß zwei Türme, die durch die Wolkendecke in den Himmel ragten. »Ist das..?«
»Seine Festung«, sagte Nuin. Obwohl er sich Mühe gab, es zu verbergen, war ein Frösteln in seinen Worten zu hören. »Wir werden morgen Abend dort sein. Vorausgesetzt, man erwischt uns nicht vorher. Ich bin überzeugt davon, dass uns mehr Steine in den Weg gelegt werden, als dieser Felsen.
Selbst Alex konnte spüren, dass Nuin recht hatte. Der Weg, den sie vor sich sah, barg für jemanden, der die Landschaft und ihre Eigenarten kannte, kaum Gefahren. Es musste noch etwas weitaus Gefährlicheres auf sie warten.
In Filmen und Büchern würde sich der Bösewicht niemals damit zufriedengeben, den Helden bis in sein Reich vordringen zu lassen, ohne ihm wenigstens eine Warnung zuzusenden. Doch war er das? Der Böse? Und was machte das aus ihr? Den Helden?
Alex wischte den Gedanken fort, um sich besser auf ihre Füße konzentrieren zu können. Behutsam überwand sie den felsigen Pfad, und als sich auch die letzten, vom Berg herabgefallenen Steine und Felsblöcke langsam verflüchtigten, wagte sie endlich aufzuatmen. Normalerweise war sie alles andere als begabt, stolperte häufig und hatte fast damit gerechnet, sich beim Abstieg mindestens den Knöchel zu verstauchen. Doch wie von Geisterhand war alles gut gegangen. Als sie endlich unten angekommen war, warf sie einen Blick auf Anders zurück, der sich offenbar schwertat, und schon ziemlich müde und abgeschafft wirkte.
»Wenn du willst, können wir uns kurz setzen«, bot sie an, doch der erfahrene Krieger winkte ab und hinkte an ihr vorüber auf die angrenzende Wiese zu. »Wenn du am Ende so entkräftet bist, dass du kaum gehen kannst, ist uns wenig geholfen.«
»Gut«, gab sich Anders geschlagen und sank auf den letzten großen Felsen am Wiesenrand nieder, begrub das Gesicht in seinen schmutzigen Fingern und atmete mehrfach tief durch. Seine Brust hob sich so weit, dass es für Alex aussah, als wollte sie platzen. Erschöpfung war in seinen Blick eingekehrt, als er die Hände herunternahm. »Ich wäre dir gern eine größere Hilfe.«
»Das bist du«, entgegnete das Mädchen und setzte sich neben ihn. »Wirklich. Glaubst du, ohne deine Hilfe, würde ich mich trauen, diesen Weg zu gehen?« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Ich hätte viel zu viel Angst. Ich bin eigentlich nie besonders mutig gewesen.« In diesem Augenblick kam Joshua aus ihrem Pullover gekrochen. Alex hielt ihm die Hand hin, und als er darauf krabbelte, nahm sie ihn und setzte ihn ins Gras, wo er sogleich damit begann, sich an den saftigen Grashalmen zu laben. »Ich bin vor all meinen Problemen und Ängsten weggelaufen, solange ich denken kann. Also wie könnte ich dir böse sein, wenn du krank bist?«
Hinter ihnen rollte Nuin mit den Augen. Seiner Kehle entfuhr ein Grollen, ehe er sich umdrehte, und mit den Worten: »Ich schaue mich um«, verschwand.
Anders erwiderte ihr Lächeln, doch Alex war nicht sicher, ob sein Schmunzeln möglicherweise dem Greifen galt. »Ich habe auch Angst, Alex. Aber ein Leben nur beherrscht durch Furcht, ist einfach nicht genug.« Er hielt inne. »Vielleicht gehe ich diesen Weg mit dir, weil ich hoffe, dass ich dich doch umstimmen kann.« Als Alex den Mund zum Protest öffnete, hob der Krieger beschwichtigend beide Hände. »Du sollst ja nach Hause gehen. Aber ich hoffe, dass du, bevor du es tust, eine Entscheidung treffen kannst, die mit dem Schlüssel einhergeht. Es gibt nämlich auch die Option, ihn zu zerstören, verstehst du? Ich hätte nie gedacht, dass es so einfach ist, in Gefahr zu geraten, aber dass dich das Schicksal hergeführt hat, sollte mir wohl ein Zeichen sein.«
»Mein Angebot steht noch immer. Ich gebe dir den Schlüssel zurück, und du kannst selbst entscheiden, was mit deiner Waffe geschehen soll.«
Anders schüttelte den Kopf. »Nein, Alex. So habe ich das nicht gemeint. In meinen Händen wäre er viel gefährlicher, als in deinen.«
»Das fasse ich als Kompliment auf.«
Nuin kehrte zurück und unterbrach das Gespräch mit einem Blick, der fast irritiert von Alex zu Anders glitt, und zu dem Mädchen zurück. »Ich fürchte«, unterbrach er sie endgültig, »dass ihr euch das ansehen solltet.«
Rasch sprang Alex auf, drehte sich herum und reichte Anders ihre Hand, doch der Krieger bestand darauf, sich selbst aufzurichten. Sie folgten dem Greifen nur wenige Meter um den Berg herum, dessen Abstieg sie die letzten Stunden Zeit gekostet hatte. Ein Quieken hinter ihnen, erweckte Alex Aufmerksamkeit. Sie ließ den Blick schweifen und entdeckte die Ratte im hohen Gras.
»Meine Güte, Josh«, raunte sie ihm zu, bückte sich und hob ihn auf, »beinahe hätte ich dich vergessen.«
Dann wandte sie sich um und bemerkte, wie steif und unbeholfen Nuin und Anders dastanden, und in die Ferne blickte. In diesem Moment war sie nicht sicher, dass sie tatsächlich sehen wollte, was die beiden längst sahen. Ganz langsam hob sie den Kopf. Ihre Gedanken kreisten um das, was sie hier bislang gesehen hatte, und wohl nie mehr vergessen konnte. Doch diesmal wusste sie, was sie sehen wurde, war schlimmer.
Weit am Horizont erstreckten sich Rauchsäulen. Der Himmel am anderen Ende des Landes stand in Flammen. Rauch, Ruß und Asche verdeckten in Form einer schwarzen Wolke die Sonne, und die Luft, die der Wind von dort herübertrug, stank nach Feuer und Tod. Alex Magen verwandelte sich in einen großen, schwarzen Klumpen. Eiseskälte zog über ihre Haut dahin, und plötzlich fühlte sie sich, als würde sie niemals mehr lächeln können. Als wäre all das, was sie ausmachte, hinter einer Maske zu Stein geworden.
»Da hinten tobt der Krieg«, brach Nuins Stimme das Schweigen. »Es gab ein Dorf dort hinten, an dem ich vor wenigen Tagen vorübergeflogen bin. Ich dachte nicht, dass es das letzte Mal sein würde.«
Seine Stimme, seine ruhigen, von Trauer erfüllten Worte, steigerten das Unwohlsein des Mädchens. Plötzlich fühlte es sich an, wie ein Abschied für immer. Ein Dorf voller Menschen, voller Kinder, Frauen, Tiere und Träume - für immer dahin. Durch den Krieg entzweit, vernichtet, ausgelöscht.
»Wir sollten nachsehen, ob noch jemand am Leben ist«, hörte sie Anders Stimme, gedämpft, wie durch Watte.
Aber sie wusste, dass niemand mehr lebte. »Ist dies das Werk des Krähenprinzen?«
»Feuer und Gestank sind Isays Markenzeichen. Es genügt ihm nicht, eine Schlacht zu gewinnen.« Anders seufzte. »Er muss alles, bis auf die Grundfeste niederbrennen und vernichten. Er versucht den Geist des Widerstandes in den Flammen zu verbrennen, bis nichts davon mehr übrig ist.« In seinen Worten lag eine resignierende Starre und gnadenloser Zorn. Er sprach wie ein Mann, der den Krieg kannte, und wusste, dass er wie ein lebendes, gefährliches Untier war, dem man mit dem Schwert kaum zu Leibe rücken konnte. »Das macht Isay aus. Seine Endgültigkeit.« Der Krieger neigte den Kopf zur Seite und warf Alex einen schrägen Blick zu. »Es tut mir leid«, hauchte er ihr entgegen, während seine Finger blind nach ihren tasteten. »Du bist ein Kind und solltest so etwas nicht mit ansehen müssen.«
Aber Alex wusste, dass dies ein Zeichen war. Jemand, der genau wusste, dass sie auf dem Weg zu ihm war, schickte ihr ein düsteres, unheilvolles Zeichen. Bislang hatte sie weder Nuin, noch Anders davon erzählt, dass sie vergangene Nacht eine Vision gehabt hatte, und, also sie morgens erwacht war, war sie auch nicht sicher gewesen, ob es nicht nur ein missgedeuteter Traum gewesen war. Doch jetzt wusste sie, dass sie nicht übertrieben hatte. Isay wusste, sie war auf dem Weg zu dem einzigen Wesen, das ihm ein Bein stellen konnte. Und er wusste, sie besaß etwas, das die Macht des Kerubs stärken konnte. Er musste es gewesen sein, der ihr diese unheilvolle Warnung zukommen ließ, um sie davon abzuhalten, ihren Weg fortzusetzen. Doch Isay wusste nichts von ihr. Ihr kannte Alex nicht, und ahnte kaum, dass gerade dieser winzige Funke, ihr noch gefehlt hatte, um sich ihres Weges sicher zu sein.
Der Tod unschuldiger Geschöpfe, nur um ihr gegenüber ein Zeichen zu setzen, war ein Schritt zu weit gewesen.
»Wir können umkehren«, murmelte Nuin, »und-«
»Nein«, sagte das Mädchen sofort. Ihre Finger, die sich in Anders Fingern verkeilt hatten, schlossen sich zitternd um seine kalten Knöchel. »Wir gehen weiter. Jetzt erst recht. Wir gehen den Weg der Gefallenen, um ein Zeichen zu setzen.« Ihr Blick flog hinauf in den Himmel, und die nächsten Worte sprach sie nicht laut aus. Sie wusste dennoch, irgendeiner von Isays Sehern würde diese Botschaft erhalten.
Jetzt erst recht, Isay.
Dann ließ sie Anders Hand gehen, drehte sich um und lief mit festem Blick auf das rabenschwarze Schloss des Kerubs los.