Ein Licht flackerte am Ende des Ganges auf. Zum ersten Mal seit viel zu vielen Jahren teilte sich die Finsternis, die ihn umgab, um etwas preiszugeben, das noch dunkler und schwärzer war, als jeder Schatten. Schon als die ersten Schritte auf dem steinernen Korridor erklangen, wusste der Mann, der hinter dem Gitter saß, wer sich ihm so schnellen Schrittes näherte. Dumpf, viel dumpfer als sonst, warfen die Steinwände das Echo seiner Bewegungen zurück.
Die Welt war einfach nicht sehr gnädig mit ihm und schien auch jetzt kein Erbarmen zu kennen.
Schlagartig ergriff Panik den Mann hinter der Zellentür. Er versuchte, sich aufzurichten, doch das Gewicht der Kette, die an seinem linken Fußgelenk hing, zog ihn unnachgiebig hinab. Seine Muskeln waren mit den Jahren weniger geworden, bis es ihm schwergefallen war, aufzustehen, zu gehen oder andere, einfache Bewegungen auszuführen. Seit man ihn in der Dunkelheit zurückgelassen, eingesperrt und angekettet hatte, war es ihm unmöglich gewesen, mehr als drei Schritte zu machen. Die winzige Zelle maß in jede Richtung nur wenige Schritte und war gerade so hoch, dass er stehen konnte. Er wusste, dass Isay diesen Raum extra für ihn ausgewählt hatte. Er lag am Ende des Ganges. Der Fackelschein, der das vordere Ende des Korridors beleuchtete, fiel niemals bis in diese Ecke. Hier bemerkte ihn niemand, hörte ihn kaum jemand, wenn er schrie und niemand bekam ihn je zu Gesicht. Niemand, außer Isay selbst und der Dunkelheit, die mit der Fantasie des Mannes hinter der Zellentür spielte. Dunkelheit und Stille, dachte Isay, würde ihn irgendwann zermürben. Und er hatte recht. Mit jedem Mal fiel es ihm schwerer, hart zu sein.
Das Licht kam näher. Er spannte all seine Muskeln an, nahm seine verbliebenen Kräfte zusammen und zwang seine Beine, das Gewicht seines ausgezehrten Körpers zu tragen, während er mit den Fingern nach zwei der dreizehn Gitterstäben tastete, um sich an ihnen in die Höhe zu ziehen. Er zählte sie immer wieder und wieder, so wie er alles zählte: die Steine, die Gitter, die Glieder der Kette an seinem Fuß.
Das Herz in seiner Brust wummerte wie ein Uhrwerk. Seit Monaten hatte er kein anderes Wesen mehr zu Gesicht bekommen, niemanden mehr gesprochen. Sein Geist vegetierte im Stillen dahin. Die Kreaturen, die ihm Nahrung und Wasser brachten, sprachen nicht. Es waren Schattenwesen niederster Stufe; solche, die keinerlei Sprache beherrschten, furchtbar dumm waren und nach ihren eigenen Exkrementen stanken.
Doch dieser Besuch hatte etwas zu bedeuten. Solange er hier eingesperrt war, hatte sich der Herr dieses Schlosses nur sieben Mal die Ehre gegeben, ihn aufzusuchen. Einmal davon war der Tag gewesen, an dem er hier, in seiner Zelle, erwacht war. Er kam niemals grundlos hier herab und niemals mit guten Neuigkeiten. Wenn Isay die vielen Stufen ins Verlies hinab gestiegen kam, bedeutete es immer, dass er einen Schritt zurückgeworfen worden war. Und das wiederum bedeutete, dass er furchtbar schlecht gelaunt und düster eingestimmt war. Es verhieß nie etwas Gutes, wenn er hierher kam.
Als der Lichtkegel um die Ecke bog, hob der Mann in der Zelle die Hand, um seine Augen gegen die ungewohnte Helligkeit abzuschirmen. Es war so unendlich lange her, seit er das letzte Mal Sonnenlicht auf der Haut gespürt oder Vogelgesang wahrgenommen hatte, dass es sich unwirklich anfühlte, plötzlich irgendetwas in der Finsternis erkennen zu können. Dann bogen die Schritte in den Korridor ein, an dessen Ende seine Zelle lag.
Er atmete tief durch, spannte sich, denn er würde niemals zulassen, dass Isay Macht über ihn besaß, und blickte düster zum Gitter hinüber, hinter dem die Konturen eines Mannes erschienen waren.
»Guten Abend, Eyndor«, sagte eine sanfte, weiche Stimme, hinter der sich die Gerissenheit einer Schlange barg. Das Fackellicht zuckte und der Gefangene konnte nun im gelbroten Feuerschein das Gesicht seines Gegenübers erkennen. Die scharfen, kantigen Gesichtszüge wirkten angespannt, die Mundwinkel diabolisch grinsend erhoben. »Du siehst gut aus.«
Eyndor. Wie lange hatte er diesen Namen schon nicht mehr gehört?
Er wusste, dass Isay ihn verhöhnte. So war es jedes Mal, wenn er herabstieg und zu ihm kam. Ein Spiel, in dem sie nicht ebenbürtig waren. Anfangs hatte Eyndor getobt, geschrien, sich gewehrt und versucht, die Gitter aus der Wand zu reißen. Er hatte Isay zeigen wollen, dass sein Widerstand nicht zu brechen war und dass er voller Hoffnung auf einen guten Ausgang dieses Kampfes war. Doch inzwischen wusste er, was Isay sah, wenn er ihn erblickte: einen Mann mit langen, ungewaschenen, filzigen schwarzen Haaren, die in den letzten Jahren wild und ungepflegt gewachsen waren. Ein bärtiges Gesicht mit müden, vielleicht trüben, rehbraunen Augen und buschigen, dunklen Brauen. Dass er Gewicht verloren hatte, sah man nicht nur an seinen leicht eingefallenen Wangenknochen, sondern inzwischen auch an den Rippen, die sich unter seinem zerrissenen Hemd deutlich zeigten. Er wusste einfach, dass es keinen Sinn mehr machte, den Krieger zu spielen. Heute konnte er nur noch eines tun: Isay beweisen, dass er standhafter war, als er erwartet hatte. Aber er konnte ihm nicht mehr vormachen, dass er alles im Griff hatte. Diese Macht hatte er verspielt. Schon vor Jahren.
»Isay«, erwiderte er mit rauer Stimme. In den letzten Wochen hatte er lediglich mit sich selbst gesprochen und auch diese kleinen, farblosen Monologe waren stetig weniger geworden. Die Vibration von Klängen auf seinen Stimmbändern zu spüren, fühlte sich fremd an. Wie etwas, das er nur noch aus einem anderen Leben kannte. Einem Leben vor der Dunkelheit.
Isays Lächeln hielt. Der junge Mann funkelte aus stahlgrauen Augen ins Innere der Zelle. Seine schmalen Lippen waren zusammengepresst und doch war das Lächeln auf ihnen deutlich zu erkennen. »Wir haben uns so lange nicht gesehen«, erwiderte er sanft, hob die freie Hand und fuhr sich durch das dichte, rotblonde Haar, welches knapp über seinem Ohrläppchen endete. Seine hünenhafte Statur und die langen, bleichen Finger ließen ihn einer Spinne ähnlich sehen. Eine Spinne mit Raubtieraugen.
»Nicht lange genug. Was verschafft mir heute diese zweifelhafte Ehre?«
»Es geht um einen aufmüpfigen Freund deinerseits, der mit jedem Tag schwerer zu Händeln wird. Ich dachte, vielleicht magst du mir helfen, etwas daran zu ändern?«
Kalter Schweiß brach Eyndor aus, doch er zwang sich innerlich zur Ruhe. Isay hatte nichts in der Hand. Er war völlig machtlos. Genau wie immer. Und deshalb war er selbst auch immer noch am Leben. Weil er ohne ihn verloren war.
»Du wusstest immer, dass der Tag kommen würde, an dem du das bisschen Kontrolle verlierst, das du über ihn ausüben konntest. Er wird sich nicht ewig von dir einschüchtern lassen. Nicht einmal für mich.«
»Deshalb«, fuhr Isay fort, während sein Lächeln verblasste, »bin ich hier. Man redet dort oben. Und es gibt immer wieder Gerüchte und Weissagungen darüber, dass der Widerstand erwacht. Dass der Krähenprinz - wusstest du, dass man ihn so nennt? - ausbrechen und sich gegen mich erheben wird. Meine Orakel sind sich einig. Sie glauben, dass jemand unsere Welt betreten hat, der das Gleichgewicht, das ich so mühsam errichtet habe, zerstören und mir wegnehmen wird, wofür ich so lange gekämpft habe. Ein sterbliches Kind aus einer von vielen Anderswelten.« Er seufzte tief und sehnsuchtsschwer. »Ich fürchte, ich kann nicht sehr viel tun, um an dieser Tatsache etwas zu ändern. Aber du kannst es vielleicht.«
»Was sollte ich schon tun können?« Eyndor ächzte spöttisch. »Ich werde dir nicht helfen, ihm zu schaden und ich bin ihm auch nicht gewachsen. Und du bist es auch nicht. Wenn jemand diese Welt betreten hat, der das Gleichgewicht wieder herstellen soll, dann wirst du es nicht verhindern können.« Ein Grinsen stahl sich auf die Lippen des Gefangenen. Nach all den Jahren der Entbehrung, des Schmerzes und der Einsamkeit, war es das erste Mal, dass ihm wirklich nach Lachen zu Mute war. Er konnte sehen, dass Isay tief verzweifelt war und diese Ratlosigkeit, mit Zorn zu überspielen versuchte. Zum ersten Mal. »Und mit Verlaub, es würde mich mehr als alles andere freuen zu sehen, wie dein kleines Reich über deinem Kopf zusammenbricht.«
Mit einem Knurren rauschte Isay vor, streckte die freie Hand durch das Gitter und fauchte, doch die Distanz, die Eyndor zu den Gitterstäben wahrte, ermöglichte es ihm, zurückzuweichen. Er sah das zornige Funkeln in den Augen seines Widersachers.
»Wenn sich diese Vorhersage erfüllt«, drohte Isay knurrend an, während er sich zurückzog, »dann bist du der Erste, dessen Lebenslicht erlischt! Ich warne dich, alter Freund! Überlege dir, ob du mit mir zusammenarbeiten willst. Dein Freund bekommt dich nicht. Dafür werde ich sorgen. Du bist mein und du bleibst mein, solange ich dich brauche!«
»Dann wirst du mich bald nicht mehr brauchen.«
»Und der Krähenprinz?«, fuhr Isay spöttisch fort. »Ein lächerlicher Name für einen lächerlichen Krieger. Wenn du mir nicht hilfst, ihn weiter unter Kontrolle zu halten, wird er für mich zu einer Gefahr. Ich glaube nicht, dass ich ihn am Leben lassen kann, wenn er mich angreifen könnte.«
»Wir wissen beide, wenn er dich angreift, tötet er dich auch.«
Isay nickte. »Vielleicht habe ich mich unglücklich ausgedrückt. Lass es mich neu formulieren. Wenn er außer Kontrolle gerät, dann bleibt mir möglicherweise nichts anderes übrig, als ihn herzubestellen und ihm den Kopf abzuschlagen, sobald er mein Schloss betreten hat. Ich werde keinerlei Risiko eingehen. Und weil er weiß, dass du hier bist, wird er in jedem Falle kommen. Keine Falle und keine Warnung werden ihn aufhalten. Also? Haben wir uns verstanden?«
Eyndor schluckte. Plötzlich war sie wieder da: die Erkenntnis, dass Isays Bosheit unübertroffen war und egal, was er ihm entgegen warf, Isay war ihm stets einen Schritt voraus. »Also gut«, fuhr er bitter fort. »Was willst du von mir?«
Isays Mundwinkel zuckten siegessicher. »Ich wusste, wir kommen ins Geschäft. Niemand kennt ihn so gut, wie du. Du weißt, was zu tun ist, damit er weiterhin still und gehorsam bleibt. Hilf mir. Erzähl mir ein Geheimnis, das mich weiter bringen kann.«
Hinter Eyndors Stirn arbeitete es. Tatsächlich kannte er den Kerub schon sein ganzes Leben lang. Er hatte ihn in seiner Jugend kennengelernt und war fortan stets sein Freund und Vertrauter gewesen, bis Isay ihn fortgesperrt hatte, um als Druckmittel einzusetzen. »Was besagt diese Weissagung?«
»Das Kind einer Anderswelt hat mit dem ersten Schritt, den es auf diesem Boden gemacht hat, die Seele des Weltenwächters gestärkt. Der Widerstand wird sich unter seiner Hand erheben und gegen mich auflehnen. Und wenn er kämpft, wird er siegen.«
»Er wird dir glauben, wenn du ihm sagst, die Visionen kamen von mir«, erwiderte der Gefangene schließlich mit großem Widerwillen. »Sag ihm, dass ein Kind der Anderswelt seinen Tod bringen wird. Sein Überlebensinstinkt wird den Rest erledigen. Er wird dieses Kind weder anhören, noch aufnehmen, sondern vernichten, sobald sich ihm eine Chance bietet.« Eyndors Kiefer mahlten. »Erzähl ihm davon und gib ihm meinen Ring, dann wird er dir glauben und tun, was immer du verlangst.« Zaghaft zog der Krieger einen großen, goldenen Siegelring von seinem Finger und reichte ihn durch das Gitter hindurch dem rothaarigen Hünen. Als sich ihre Finger berührten, trafen sich ihre feurigen Blicke. »Du hast diesmal einen Sieg errungen«, fuhr Eyndor bitter fort. »Aber irgendwann wird er aufhören, deine kleine Marionette zu sein. Eines Tages wird er dich in Stücke reißen, unabhängig davon, was du mit mir machst. Und an diesem Tage, sollte ich ihn noch erleben, werde ich glücklicher sein, als je zuvor.«
»Diesen Tag wirst du nicht erleben. Der Retter, an den du so sehr glauben magst, ist für mich nicht mehr als eine lächerliche Spielfigur. Wenn ich ihm sage, er soll verschwinden, verschwindet er. Wenn ich ihn in die Schatten zwinge, wird er dort bleiben, bis sie ihn verzehren. Solange du mein bist, wird es keine heldenhaften Wandlungen geben.«
Raschen Schrittes wandte er sich ab und verschwand. Wieder einmal blieb Eyndor mit der Dunkelheit in seiner Zelle alleine zurück. Doch diesmal besaß er etwas in seinem Herzen, das Isay nicht eingeplant hatte. Hoffnung. Vielleicht, dachte er und sank wieder zu Boden, erreichte das Kind der Anderswelt den Kerub noch ehe dem Boten und die Prophezeiung erfüllte sich. Den Tod nahm er dafür jederzeit in Kauf.
*
Erschrocken fuhr Alex aus dem Traum in die Höhe. Ihr Herz raste und fühlte sich an, als wollte es noch in ihrer Brust zerspringen. Plötzlich war da die Erkenntnis, dass das, woraus sie gerade mit Schrecken erwacht war, kein bloßer Traum gewesen war. Es bedeutete etwas.
Alle Figuren, die Bestandteil dieses Traums waren, hatten sich deutlich, fast schon lebhaft gezeigt - und angefühlt. Wesen, die sie nie gesehen hatte, und nicht kannte, waren in ihre Gedanken eingedrungen, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie diese Bilder als unmissverständliche Warnung Isays zu sehen hatte. Oder Eyndors? Hilfeschrei oder Drohgebärde? Jedenfalls bedeutete es, sie musste auf der Hut sein, denn was Anders befürchtete, schien zu bewahrheiten. Ihre Gegenwart brachte sie, brachte ihn und Nuin und selbst den Krähenprinzen in tödliche Gefahr.
Irgendjemand hatte sie eingeladen, Schauspieler dieses bizarren Theaterstücks zu sein und sie verstand. Je eher, sie aus Andhera fortkam, desto besser.
Drei Atemzüge waren nötig, bis das Mädchen erstmals wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. In diesen Bildern war ihr Eyndor vertraut und sympathisch erschienen. Ein Mann, dem man trauen konnte, und der das Herz am rechten Fleck trug. Wie gelange ein solcher Mann zwischen die Fronten eines Krieges, den zwei verrückte Dämonen austrugen?
Und noch etwas hielt sie davon ab, sich zu beruhigen.
Wenn dieser Traum nicht nur eine Verkettung von Bildern war, sondern eine Aussage beherbergte dann, dass spätestens jetzt der Kerub wusste, dass sie auf dem Weg zu ihm war. Und Isay wusste es ebenso.