»Ich habe keinen Toten gesehen«, begehrte Alex auf, nachdem Eyndor sie dazu drängen wollte, Anders ein wenig Ruhe zu gönnen. Doch das Mädchen fühlte sich aufgewühlt. Vor ihren Augen tanzten Bilder, die ihr aus dem Traum nachhingen. Der Krieger mit dem Drachenwappen und Isay, der den Dolch in den Brustkorb des Engels rammte. All diese Bilder waren zu real um Einbildungen zu sein. Und hatte sie nicht mit allem anderen Recht gehabt bisher? Wieso sollte sie diesmal irren? »Ich weiß, was ich gesehen habe. Und wäre es nur ein Traum gewesen, wie hätte ich dann wissen, können dass-«
»Dass ich in Gefahr bin?« Anders schaute sie erstmals an, nachdem er stillschweigend mit angesehen hatte, wie Eyndor Alex aus dem Zimmer schicken wollte. »Sie hat recht, Eyndor. Ein Zufall war das wohl nicht.«
»Woher willst du das wissen?« Der Krieger schnaubte. »Du hast das Unheil nicht einmal kommen sehen! Was ist los mit dir?«
»Ich kann spüren, dass etwas in der Luft liegt, das sich meiner Kenntnis entzieht.« Er atmete hörbar tief ein und aus, schloss die Augen und ließ seinen Geist durch den Raum schweifen. »Und das schon seit längerer Zeit. Alles, was ich fühle, ist intensiver und klarer, seit sie hier ist. Und ich glaube nicht an Zufälle.«
»Was willst du damit sagen?« Eyndor seufzte. »Bitte, sprich nicht in Rätseln mit mir. Ich kann deine kryptischen Antworten einfach nicht mehr ertragen. Was, glaubst du, kann Alex fühlen, wovon du nichts weißt?«
Ein kleines Lächeln machte sich auf den Lippen des Kerubs breit. Doch es verschwand schnell und ließ letztendlich nur die bösartige, schwarze Kreatur zurück, die Anders immer gewesen war. Mühsam kämpfte er sich hoch, und als Eyndor ihm helfen wollte, funkelte er ihn zornig an und hob abweisend die Hand. Er stieß den jungen Krieger auf allen Ebenen von sich und kam allein auf die Füße. Den letzten Rest Stolz schien er sich um jeden Preis erhalten zu wollen.
Anschließend trat er an das Fenster heran, hob die Finger und bettete seine Hand an das ausgekühlte Glas. Unter seinen Fingerbeeren sickerte etwas, das wie Licht aussah, ins Dunkel hinaus und verging wie sich auflösende Atemwölkchen. Magie, dachte Alex. »Ich weiß gar nichts von dem, was dort draußen vor sich geht«, sagte er schließlich und klang nicht nur bitter, sondern eiskalt. »Ich habe vor zehn Jahren die Verbindung zum Herzen Andheras verloren. Ich fühle gar nichts mehr von dieser Welt. Sie ist ein kalter, lebloser Ort für mich geworden. Ihre Wesen sind mir fremd, ich verachte ihre Bräuche, und mir liegt nichts an ihnen oder ihrem Überleben.« Er zog die Hand zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nachdem du fort warst und ich all meine Hoffnung in dieser Truhe verschlossen und fortgeschafft hatte, gab es keinen Grund mehr für mich, auf das Herz der Welt zu hören. Ich habe mich taub gestellt und alle Hilferufe ignoriert. Nur so konnte ich tun, was man von mir erwartete.«
»Was Isay von dir erwartete«, korrigierte Eyndor ihn. Er hatte aufmerksam zugehört, doch er schien nicht zu verstehen, was Anders ihm sagen wollte.
Sofort drehte sich der Engel um und hob dem jungen Mann drohend den Zeigefinger entgegen. »Untersteh dich, über mich zu urteilen! Wärst du nicht fortgelaufen, wäre nichts davon je geschehen.« Seine Aura verfinsterte sich und Alex konnte fühlen, wie Schatten aus den Wänden wuchs. Sein Zorn entfesselte erneut das Wesen, welches er in den letzten Tagen so ausgiebig vor ihr hatte verbergen wollen und das dennoch allgegenwärtig zu sein schien. Endlich machte sich seine Seele Luft. Endlich kochten die ersten Nachwehen der Kränkung an die Oberfläche, weil Eyndor ihn fortgestoßen hatte. Anders spreizte seine dunklen Schwingen und eine Flut finsterer Gedanken breitete sich schlagartig in Alex Bewusstsein aus.
»Ich kann nichts verstehen, wenn du mich bewusst aus deinen Gedanken ausschließt«, erwiderte Eyndor drohend und stand auf, um sich Anders entgegenzustellen. »Ich fürchte mich nicht vor dir, ganz gleich, wie viel Mühe du dir damit gibst, mich abzuschrecken. Ich weiß, wer du bist. Und ich weiß, was du durchmachen musstest, ohne mich. Aber ich weiß nicht, was du mir sagen willst, wenn alles, was du sagst, nur grobe Andeutungen enthält. Wieso fühlt dieses Mädchen Dinge, von denen du nichts weißt? Was verschwiegst du mir? Was ist mit dir geschehen, während ich fort war? Hör endlich auf, zu schweigen.«
Mit zusammengekniffenen Augen und wütendem Blick lehnte sich Anders mit der Schulter an die Wand, verschränkte die Arme vor der Brust und warf sich seine Schwingen wie eine Decke über die gestrafften Schultern. »Als Isay dich gefangen genommen hat, habe ich alle Verbindungen zu dieser Welt gekappt und mich von ihr abgenabelt. Das ist Teil des Fluchs, den ich mir selbst auferlegt habe. Ich empfinde gar nichts mehr. Ich kann die Schreie derer, die nach mir rufen, nicht mehr hören. Ich sehe keine Ungeheuer mehr, die Andhera bedrohen und ich spüre das Herz der Welt schon lange nicht mehr schlagen. Diese Verbindung wurde mir weggenommen, als ich entschied, meinen Kampf in die Hand eines Sterblichen zu legen. Das ist der Preis für meinen Seelenfrieden. Ich bin nicht der, der euch alle retten wird.«
Wie ein Donnergrollen, das niemand hören konnte, schlug seine Wahrheit ein. Was darauf folgte, war Stille, Schweigen und Verstehen. Blicke, die fremde Augen trafen, Fragen, die sich endlich klärten und erstmals eine unaussprechliche Ruhe, die das Schloss in ihren Bann zog.
»Deshalb wusstest du nicht, dass sie in Gefahr war«, überlegte Eyndor laut. »Du hast nichts davon gefühlt.«
»So ist es.«
»Und das Ungeheuer, das uns zusammengeführt hat?«, warf Alex ein. »Woher wusstest du, dass es dort sein würde?«
»Das wusste ich nicht«, gestand Anders mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe die Anwesenheit des Spiegels gespürt und nicht die des Dämons. Ich war dort, um genau das zu tun, was ich dir bereits sagte - verhindern, dass der Dämon durch den Spiegel in eine andere Welt gelangte, oder zu mir ins Schloss. Aber zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, hat mich nicht wirklich gestört.«
»Dann«, sagte Alex leise, während ihre Gedanken ziellos umherschweiften. »Erhalte ich vielleicht Grüße aus dem Jenseits für dich, weil du nicht mehr in der Lage bist, sie zu hören? Verstehe ich das richtig? Diese Dinge, die ich sehe, sind Vorhersagen, die dir helfen sollen, Andhera zu schützen? Wie ist das möglich?«
»Im Grunde genommen ist es sehr, sehr einfach.« Anders trat einen Schritt in den Raum hinein und Finsternis hüllte ihn ein, wie ein Mantel. Er war von allumfassender Zerstörung umgeben, von dunklen Gedanken und dem größten aller Flüche - seiner eigenen Ignoranz. »Du bist meine Verbindung für all jene Dinge, die zu tun ich selbst nicht mehr im Stande bin. Ich wünschte, es wäre anders, aber wir alle haben einen Preis zu zahlen. Das ist der Fluch, der dich an mich und diesen Kampf bindet.«
»Du hast die Seele dieses Mädchens verkauft«, murmelte Eyndor empört, und klang mit einem Mal nicht weniger zornig, als Anders selbst. Ruhig, aber wütend, wie ein tobender Stier. »Was, wenn sie dem Druck nicht gewachsen ist? Was hast du dir dabei gedacht?«
Die Lippen des Kerubs kräuselten sich und ein diabolischer Ausdruck huschte durch sein Mienenspiel. »Ich dachte, dass mir diese Welt viel zu gleichgültig ist, um mir den Kopf über alle Konsequenzen zu zermartern. Ich dachte, wir alle brechen einfach entzwei und Isay tötet mich, damit wir alle wieder Frieden finden.« Ein resignierender Hauch durchzog seine Worte. Ihnen wohnte plötzlich Gleichgültigkeit inne. »Als du fort warst, glaubte ich, mein Leben sei vorüber. Ich wusste, es war meine Schuld und ich konnte den Gedanken, dass du meinetwegen im Kerker sitzt, kaum ertragen. Ich wusste nicht, wie ich überleben sollte, wenn dir etwas zustieß und es gab für mich keine Möglichkeit, auszuführen, was Isay von mir verlangte. In seinem Namen Andhera unterjochen? Jene versklaven, denen ich Schutz geschworen hatte? Mich selbst in Ketten legen und zum Zuschauer machen? Ich konnte es nicht, weil ich mir selbst im Wege stand. Immer wieder dachte ich daran, allem zu entsagen, woran ich je geglaubt habe, und den Kampf gegen Isay und die Schatten endgültig niederzulegen. Aber diese Bürde legt man nicht einfach ab. Man nimmt keine Auszeit und man steigt nicht einfach aus. Du weißt, dass ich recht habe. Man kann sich höchstens mit ein paar sehr starken Zaubersprüchen von der Welt abnabeln, um nicht völlig verrückt zu werden. Und das habe ich getan. Ich habe die Verbindung, die mir die Götter zu dieser Welt geschenkt haben, mittels eines verzwickten Zaubers zerstört. Nur so konnte ich tun, was Isay von mir verlangte, ohne daran zu zerbrechen. Und müsste ich noch einmal wählen, dann würde ich es für dein Leben wieder tun. Urteile so viel über mich, wie du willst, aber nur deswegen bist du heute hier.«
Alex schluckte ihre Furcht hinunter. Sie blinzelte und sah durch den Schleier aus Finsternis hindurch, wie ein matter, heller Schein die Gestalt des Kerubs umgab. Seine Seele pulsierte wie ein zartes Licht um ihn herum und dort, unter all dem Zorn und dem Sinnen nach Rache für seinen Verlust, lag das blutende Innere eines Kriegers, der sich selbst in Ketten gelegt hatte, um die Bestie zu zähmen. Er wütender, verwirrter Mann, der sich selbst nicht vertrauen konnte und keinen anderen Weg wusste, als den Ballast der Welt von sich zu werfen, um frei zu sein. Und da, im Angesicht des Ungeheuers, hatte sie neben aller Furcht zum ersten Mal Mitgefühl mit dem Herrn des schwarzen Schlosses.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, aus einer Welt zu kommen, in der es keine Gefühle gab und dann hier unten mit der großen, vollkommenen Liebe konfrontiert zu werden und diese im selben Atemzug wieder zu verlieren. Sie sagte sich, ein solches Schicksal musste immer Spuren hinterlassen. Spuren, die nicht einfach zu bereinigen waren. Sie spürte nun, unter Anders aufgerauter Fassade, dass ihm etwas Monumentales genommen worden war: die Gabe, zu fühlen. Unter seiner Haut brodelte der Hass, und er war nicht fähig, ihn zu zügeln. In ihm tobten die Mächte der Finsternis und drohten unentwegt alles in ihm, das gut war, zu verschlingen. Nur er selbst und sein ungebrochener Wille standen zwischen der Pforte zur Finsternis und seine eisernen Willen, die Kontrolle zu behalten. Und nun, da ihn Isays Angriff und die Macht des Engelsschwertes getroffen hatten, war der Schleier, der diese Welten trennte, dünner geworden. Die Dunkelheit in ihm kratzte an der Oberfläche und schrie nach Freiheit. Nur er, nur seine Disziplin und der Grund, dass er sich vom Schmerz der Andheras losgesagt hatte, stand zwischen ihm und einer Welt voller Finsternis. Denn zweifelsohne das würde geschehen, wenn sein Widerstand brach: Alles musste sich mit Finsternis füllen, bis Andhera ein großer dunkler Ball aus schwarzer Energie geworden war. Er war das dünnhäutige Ventil, das diese Welt im Gleichgewicht hielt, und er zahlte den Preis.
Und dann, ganz plötzlich, wusste sie auf einmal, dass es in Ordnung war, ihm ein wenig von der Last abzunehmen, die er zu tragen hatte. Selbst wenn dieser Krieg seine Schuld war, selbst wenn er sich das Leiden der Welt selbst aufgehalst hatte, war es in Ordnung und gut, ihm beizustehen. Und wenn es bedeutete, dass sie das Tor zur Zukunft für ihn sein musste, dann würde sie diesen Weg gehen, denn im Gegenzug würde er, wann immer sie ihn brauchte, rechtzeitig da sein, um alles Unheil von ihr abzuwenden. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.
Sie drehte den Kopf und sah, wie Eyndor mit der Fassungslosigkeit kämpfte. Langsam beugte sie sich vor, hob die Hand auf seine vor Wut zitternden Finger und lächelte ihm zu. »Es ist alles in Ordnung mit mir. Und alles ist so, wie es sein soll. Anders hat recht. Nur deswegen bist du hier.«
Augenblicklich schien der Zorn des Kriegers zu verrauchen. Er hob den Kopf und musterte Anders lange, während sich dieser abwandte und zum Fenster hinaussah. »Und was jetzt? Was, wenn sie recht hat?«
»Dann ist meine Zeit gekommen.« Anders seufzte tief und mit seiner Wut fielen auch die aschegrauen Schwingen von ihm ab und lösten sich in Rauch und Federn auf, bis er nur noch Anders war. Der Mann, der die ganze Welt retten wollte. »Der Krieg um Andhera beginnt. Und ich werde nicht davonlaufen. Ich werde diese Welt bis zu meinem allerletzten Atemzug verteidigen. So, wie es mein Schicksal verlangt. Aber auf meine Art und mit meinen Methoden. Ich bin kein Engel. Ich bin die verfluchte Ausgeburt des Teufels und als solche so viel stärker als alle Widersacher, die Isay je zu fürchten hatte.«
»Dieser Kampf führt dich zurück zu Isay.«
»Ich weiß.« Anders Blick sprach Bände. Trotz all der Reibereien, die zwischen ihnen stattgefunden hatten, war Eyndors Freiheit eines der größten Güter für ihn und jeden Preis wert. »Ich bin bereit. Aber ihr müsst jetzt gehen. Ich muss mich erholen.«
»Ich werde dich nicht-«
»Lasst mich allein«, wiederholte Anders finster. Seine Pranken scharrten auf dem Steinboden. »Geht einfach. Heute Nacht wird es keinen Angriff mehr geben. Ich werde die Schutzzauber verstärken.«
»Anders-« setzte Eyndor an, doch Alex drückte sanft seine Hand und schüttelte den Kopf.
»Nicht!«, bat sie den Krieger. »Lass uns gehen. Bitte.« Sie stand auf und ihr Blick streifte den des Kerubs flüchtig. Doch was sie darin las, ließ all ihre Zweifel verstummen. Hinter der Fassade aus zerbrochenen Gefühlen und angestautem Hass lag eine neu aufkeimende Welle der Zuversicht. Behutsam streckte sie die Finger vor, bekam Eyndors Arm zu fassen und zog leicht an ihm. »Komm schon.«
Widerstrebend gehorchte der Krieger und stand auf. Er folgte dem Mädchen bis zur Tür, jedoch nicht, ohne den Blick auf Anders zu heften. Doch der nahm längst keine Notiz mehr von seinen Rettern und schien ganz in seine Gedanken versunken zu sein. Er blickte nicht zurück, als sie das Zimmer verließen. Nicht einmal, als Alex die Tür zuzog. Nichts schien ihn in diesem Augenblick mehr zu interessieren.
»Was sollte das?«, fragte Eyndor Alex auf dem Gang. »Du hast doch gesehen, wie verquer er ist! Wir können ihn doch nicht alleinlassen in seinem Zustand.«
»Doch«, erwiderte sie entschieden. »Das können wir. Und wir werden es tun. Du und ich, wir werden an anderer Front gebraucht.«
Verblüffung machte sich auf Eyndors Gesicht breit, während er Alex Finger abschüttelte. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Doch, das weißt du. Diesen Kampf können du und ich nicht gewinnen. Merkst du denn nicht, dass er auseinanderbricht?« Das Mädchen sog geräuschvoll Luft zwischen den Zähnen ein. »Wir können ihm da drin nicht helfen. Das ist sein Kampf. Aber wir können hier draußen die Stellung halten. Wir müssen herausfinden, wer der Krieger war, den ich gesehen habe und wo sich der Ort befindet, an den ich in meinem Traum gelangt bin. Wir müssen Anders so weit es geht von diesem Ort fernhalten und Isay wissen lassen, dass die Macht des Krähenprinzen ungebrochen ist. Du und ich, wir müssen ihm zuarbeiten, soweit wir das können, damit er sich auf den Krieg konzentrieren kann. Den echten Kampf.«
»Du erwartest also, dass ich die Füße stillhalte und ihn.. einfach machen lasse?« Auf seinem Gesicht zeigte sich Verwirrung.
Alex schmunzelte. Genau deshalb mochte sie Eyndor so gern. Er sah die Welt anders, wie andere Menschen. Er fühlte anders, sprach anders, sein Empfinden für Recht und Unrecht war ungebrochen groß und er besaß ein unmenschlich stolzes Herz. Alles an ihm war liebenswert, und obgleich es auch in seinem Inneren brodelte, war er sanft und gutmütig. Er unterschied sich in so vielen kleinen Dingen von Anders, dass es ihr abwegig erschien, dass sie Freunde waren. Und doch machte es Sinn - sie ergänzten sich auf einem besonderen Weg.
»Ja«, antwortete sie ihm verzögert. »Genau das erwarte ich von dir. Ich baue darauf, dass du ihm hilfst, indem du ihn gehenlässt. Du hast ihn doch gesehen. Er selbst ist die letzte Instanz, die ihn aufrecht hält. Über ein ganzes Jahrzehnt hinweg hat er sich selbst kontrollieren müssen, ganz allein. Er kann es. Er braucht uns hier.«
»Und wenn nicht?«
»Er kann.«
Nicht ganz überzeugt, aber offenbar ein wenig beruhigt, nickte der Krieger schließlich. Er hob die Hand, um sich durch das Haar zu streichen und schüttelte seine Finger, um sich zu entspannen. »Also gut. Und was tun wir? Ich werde heute Nacht kein Auge mehr zumachen können.«
»Wovon hat Anders da drin gesprochen? Welche Herausforderung wartet auf ihn?«
»Anders glaubt, dass er sich in diesem Kampf als würdig erweisen muss. Dass sich Gefahren auftun und Ungeheuer erscheinen werden, die das Verderben Andheras herbeiführen wollen. So etwas trägt sich bei einem Weltuntergang eben zu, nicht wahr?« Langsam kehrte sein gütiges Lächeln zurück. »Alex..« Seine Finger tasteten nach ihren. »Es gibt noch einen anderen Weg, Isay zu besiegen. Ich weiß, du willst nichts davon hören, aber bitte denk einen Moment darüber nach.«
Doch das Mädchen entwand ihm kopfschüttelnd seine Hände. »Du willst, dass ich die Truhe für ihn öffne? Du hast doch gehört, was er sagte. Er will es gar nicht. Er kann sich alle Chancen der Welt selbst erarbeiten. Und er wird es tun. Ich spüre einen Wandel in ihm, seit du zurück bist. Und wenn er die Kraft hat, zu kämpfen, wird er auch den Mut haben, für seinen Glauben einzutreten. Wenn es soweit ist, kann ich ihm vielleicht sogar diese Truhe öffnen. Wenn er bereit ist.« Sie hielt inne und musterte den Dunkelhaarigen eindringlich. »Aber noch kann er sich selbst nicht vertrauen. Und jetzt sag mir, wer der Mann ist, den ich im Traum gesehen habe. Du weißt es doch. Und er weiß es auch.«
»Ich weiß nicht viel darüber. Ich war noch sehr klein und wir kannten uns nicht. Aber ich weiß, dass es diesen Krieger gab. Er hat Anders vertraut und er mochte ihn gern. Was in dieser Schlacht geschehen ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass Anders ihn zurückgelassen hat, nachdem er verletzt wurde, und dass er sterben musste, weil ihm niemand half. Anders spricht nicht darüber, aber er hat sich nie vergeben, diesen Fehler begangen zu haben.«
»Dann«, murmelte das Mädchen, »habe ich also doch einen Geist gesehen. Einen sehr lebendigen, wütenden Geist, der offenbar der Meinung ist, dass er noch eine Rechnung offen hat.«
Sie hob den Blick und suchte in Eyndors Augen nach Hilfe, doch die Gedanken des Kriegers kreisten um ihre Worte und verrieten plötzlich seine verborgene Unsicherheit.