»Nuin!«, rief Alex aus, stürmte vor und fiel dem Greifen um den Hals. Sein weiches, warmes Fell lag wie ein Wattebausch in ihren Armen und fühlte sich gut an. Er war zu erstaunt, zu starr, zu verwirrt, um ihre Freude zu verstehen, nachdem einer der Wächter seine Zellentür geöffnet hatte.
Quiekend kam Joshua aus Alex Ärmel gekrochen und krallte sich im Gefieder des Fabelwesens fest. Auch er schien hocherfreut zu sein, einen Freund wiederzusehen.
»Alex!«, entfuhr es dem Greifen, nachdem er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte. Eine mächtige Pranke schoss nach oben und drückte das Mädchen an sein weiches Fell. »Ich habe so sehr gehofft, dass es dir gut geht!«
»Es geht mir gut«, erwiderte das Mädchen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
»Dann hat dich dieses Monster-«
»Das ist er nicht!«, fiel ihm Alex ins Wort und hob den Blick zu ihrem Freund empor. »Wirklich. Er ist kein Ungeheuer. Aber du musst schnell gehen, ehe er seine Meinung ändern kann. Bitte.«
Nuin neigte den Kopf zur Seite. »Und du? Gehst du nicht mit mir?«
Ein trauriges Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens. Behutsam hob sie die Hand und strich mit Mittel- und Zeigefinger durch Nuins weiches Gefieder. Er genoss ihre Berührung offenbar so sehr, dass ein leiser Laut, der dem Schnurren einer Katze ähnelte, in seiner Brust anschwoll. »Ich kann nicht mitkommen.«
»Wieso nicht? Hält er dich fest hier? Ich schwöre, dass ich-«
»Nein«, warf das Mädchen beschwichtigend ein. »Aber nur durch eine List konnte Anders Isay bewusst machen, dass ich wichtig für ihn bin. Und nun bin ich nicht mehr sicher, wenn ich diese Mauern verlasse.« Ihr Lächeln wurde schmaler. »Pass gut auf dich auf, Nuin. Du musst mir versprechen, dass du, solltest du je in Gefahr geraten, zu mir zurückkommen wirst. Und um noch etwas möchte ich dich bitten.« Aufgeregt sog sie Luft zwischen den Zähnen hindurch ein. »Ich möchte, dass du Joshua mitnimmst. Ich will nicht, dass er hier bleiben und zwischen Mauern und Wänden leben muss. Aus diesem Grund habe ich ihn ja fortbringen wollen. Ich möchte ein anderes Leben für ihn.«
»Auch wenn das bedeutet, ihn zu verlieren?«
Alex nickte und Nuin seufzte schwer. »Ja.«
Er setzte ein Lächeln auf und stupste sie mit dem Kopf. »Du, Alex, bist ein ganz und gar ungewöhnliches Menschenkind. Natürlich bist du auch das erste Menschenkind deiner Welt, dem ich begegne, aber ich verwette jede einzelne Feder darauf, dass du auch in deiner Welt überraschend anderes bist.«
»Leider hat mich das bisher nicht sonderlich weit gebracht.« Als sich die Wache, die mit ihr in die Kerker abgestiegen war, geräuschvoll räusperte, warf Alex ihr einen wachsamen Blick zu, drehte sich zu Nuin herum und packte ihn fest am Fell. »Hör mir zu«, bat sie ihn und sprach bewusst etwas leiser, damit der Wächter sie nicht hören konnte. »Du und Josh, ihr müsst so weit von hier fortgehen, wie ihr nur könnt. Ihr müsst diese Gegend verlassen und nicht mehr an mich denken. Ich bin hier am sichersten Ort der Welt und Eyndor wird auf mich aufpassen.«
»Eyndor ist-«
»Er ist ein Freund, und ich vertraue ihm.« Sie versuchte zu lächeln, aber plötzlich war es schwer geworden. »Mach es mir nicht so schwer. Wenn ich mit dir ginge, wäre ich immerfort in Gefahr und jeder, der in meiner Nähe ist. Das will ich nicht für euch, und nicht für mich.« Sie schmunzelte. »Auch wenn ich glaube, dass du mich sehr gut zu verteidigen wüsstest.«
»Wenn der Krähenprinz gnädig ist, lässt er dich gehen.«
»Er..« Doch Alex wusste darauf nichts zu sagen. Würde er? Sie gehen lassen, wenn sie wollte? »Ich..« Sie hielt den Atem an und lauschte tief in sich hinein. »Bitte geh jetzt. Ich werde dich schrecklich vermissen. Aber je länger wir hier sind, desto mehr fürchte ich, er wird umentscheiden. Und du bist wirklich lange genug hier unten gewesen.«
Nuin schaute hinab zu ihr und gewahr im Blick des Mädchens aufrichtige Sorge. Das Engelsschwert hatte Anders verletzt. Es hatte keine Wunde gerissen und er verlor kein Blut, aber als Alex gegangen war, hatte sie zweifelsohne gespürt, dass er krank geworden war. Dass er an etwas litt, das man nicht mit Medizin heilen konnte. Und sie erinnerte sich daran, dass Eyndor vom Zerbrechen seiner Seele gesprochen hatte. Wenn Anders also wissentlich, nur um sie zu retten, sein Seelenheil riskiert hatte, durfte sie nicht zulassen, dass ihm sein eigenes Wesen den Krieg erklärte. Sie musste Nuin davontreiben, ehe Anders seine Entscheidung bereuen konnte.
»Gut«, sagte er dann. »Aber ich will dein Wort, dass wir uns wiedersehen. Schon bald.«
»Das bekommst du. Aber jetzt komm mit mir.«
Sie verließen gemeinsam das Verlies. Alex ging voran, Nuin folgte ihr. Für ihn waren die vielen hundert Stufen nur ein paar Schritte. Schritte hinauf in die Freiheit. Wie in Trance durchliefen sie das Schloss, folgten dem Drang nach Freiheit hinauf zum Haupttor, das bereits für sie geöffnet war. Und als Nuin hinaus ins Licht trat, spürte Alex in seinem Aufatmen den Augenblick seiner Wiedergeburt.
»Nuin«, flüsterte sie. »Als ich herkam, warst du nett zu mir. Auch wenn du mich nicht kanntest, und ich ein Feind hätte sein können, hast du mich aufgenommen und beschützt. Ich werde dir nie danken können, für deine Freundschaft. Aber wenn das Schicksal es so will, bekomme ich irgendwann die Möglichkeit, mich bei dir zu bedanken.« Sie räusperte sich. »Das ist kein Abschied. Ich verabschiede mich nicht von Freunden. Es ist ein bis bald auf Zeit. Versprochen?«
»Versprochen.«
»Jetzt geh«, bat sie ihn leise und spürte einen Hauch von Vergänglichkeit, der ihr mit dem Wind entgegenschlug. »Wir wollen das Glück nicht noch einmal herausfordern. Ich würde mir nie verzeihen können, einen so wunderbaren Freund verloren zu haben. Und sag Joshua, dass er mir fehlen wird.«
»Für einen Menschen«, sagte Nuin. Sein Blick huschte zu seinem Kopf hinauf, auf dem es sich Joshua bequem gemacht hatte, »wirst du eine sehr große Lücke in mir zurücklassen, die ich so bald es möglich ist, wieder füllen möchte. Gib auf dich Acht.«
Dann drehte er sich um und lief davon. Er flog nicht weg, als wollte er Alex die Möglichkeit geben, ein wenig Abschied zu nehmen. Sie schaute ihm nach, bis er zu einem konturenlosen Fleck in der Ferne geworden war, und drehte sich im Anschluss um. Als sie hineinging, hob sie noch einmal den Blick, als spürte sie, dass dort jemand auf sie wartete, und erblickte den Kerub mit wehendem Mantel hoch oben auf dem Turm.