Für Nuin stand schon lange fest, dass die Welt der Menschen nichts Gutes für ihn barg. Schon vor langer Zeit hatte er ihr den Rücken zugekehrt und versucht, sie zu vergessen. Doch die Begegnung mit einem außergewöhnlichen Menschenmädchen hatte in ihm Erinnerungen an die Wärme und Fürsorge ihrer Rasse geweckt. Menschen waren ob ihrer Intelligenz und eigenwilligen Art nicht die umgänglichste Gattung Andheras, aber sie besaßen etwas, das den Greifen faszinierte. Sie waren schwach, verwundbar und leicht zu bezwingen. Aber ihre eigentliche Stärke, das, was letztendlich ihr Überleben seit Jahrhunderten sicherte, war der ungeheure Zusammenhalt, zu dem sie fähig waren.
Wachsam ließ der Greif die Blicke schweifen. Auf dem Marktplatz hatten ein paar Bauern und fahrende Händler ihre Zelte und Wagen aufgestellt, Waren ausgelegt und arglose Passanten in lockende Gespräche verwickelt. Ihre soziale Struktur war beeindruckend simpel und effektiv. Sie sammelten sich an öffentlichen Orten, um ihr Bedürfnis nach Nähe und Kommunikation zu stillen und begaben sich in ihre schützenden Hütten, um meine Kräfte zu sammeln.
Greife lebten allein, in Familien und kleinen Gruppen. Ihr soziales Umfeld beschränkte sich auf höchstens fünf bis sechs andere Tiere, niemals auf mehr. Neuigkeiten gab es selten. Aus diesem Grund wurde wenig gesprochen, selten gelacht und jeder Tag glich dem vorigen. Durch das Geschenk Eyndors Freundschaft war Nuin einst in den Genuss menschlicher Bedürfnisse gekommen. Seine Nähe zu Menschen hatte ihn verändert. Zum Positiven, wie er fand.
Ein leises Quieken weckte seine Aufmerksamkeit. Er schielte zu der Ratte hinauf, die auf seinem Kopf hockte und seufzte. »Jetzt nicht!«, brummte er abgelenkt, während er sich tiefer ins Gebüsch zurückzog. »Ich besorge dir etwas zu essen, wenn es dunkel wird, du ungeduldiger Vielfraß, aber es ist noch zu hell und zu belebt. Du weißt doch, wie Menschen sind, wenn sie uns sehen. Wir warten, bis es dunkel wird.«
Dann leerte sich der Platz und bot ihnen all das preis, was die Menschen weggeworfen oder liegengelassen hatten. So wie jeden Abend.
Die Ratte schnaubte beleidigt, verstummte jedoch.
Es dämmerte bereits. Sobald die Sonne untergegangen war, verschwanden die Menschen von den Straßen. In den letzten Tagen hatte er dieses Schauspiel mehrfach beobachtet, und sich dann aus dem Schutz der Natur heraus gewagt, um für Joshua und sich auf die Suche nach Nahrung zu gehen. Er hatte sich geschworen, so lange in der Nähe des schwarzen Schlosses zu bleiben, wie Anders Alex zu seinen Gefangenen zählte. Sollte sie fliehen und ihr Leben retten wollen, Schutz oder Hilfe benötigen, wollte er stets in der Nähe sein. Und wenn sich ihm die Chance bot, sie aus den Fängen des Kerubs zu reißen, dann würde er nicht zögern, das Mädchen zu retten.
Doch im Umkehrschluss bedeutete das für ihn, dass er nicht in die Wildnis aufbrechen konnte, um zu jagen. Er war auf das angewiesen, das die Menschen zurückließen, und das war wenig. Es reichte kaum aus, um seinen Hunger zu stillen, geschweige denn dafür, seine Reserven aufzufüllen. Aber zum Überleben genügte es. Vorerst.
Über ihnen wurde es langsam dunkel. Die Sonne senkte sich. Ein grauer Schleier über den Himmel und verschlang die letzten Spuren des Tages. Auf dem Marktplatz verschwanden langsam die Menschen, zogen sich in ihre Häuser und Hütten zurück und ließen den Tag hinter sich.
In der kleinen Stadt wurde es rasch still. Nuin reckte den Hals. Er spähte aus seinem Versteck hinaus auf den großen, menschenleeren Platz, der noch vor Kurzem von buntem Treiben erfüllt war, und sagte: »Schlag dir den Bauch voll, kleiner Freund!« Joshua sprang von ihm herunter und verschwand quietschend in der Dunkelheit. Er ließ Nuin zurück mit seinen Gedanken. Langsam stahl sich der Greif aus den Schatten. Er ließ den Blick schweifen. Niemand war mehr zu sehen. Sie befanden sich in einem kleinen Ort, nur wenige Stunden vom Standort des schwarzen Schlosses entfernt. Die Menschen hier waren nicht nur einmal Zeugen der grausamen Machenschaften des Kerubs geworden. Sie kannten das Unheil, in dessen Nähe sie lebten, und akzeptierten es. Aber ihre Sorgen und Ängste spiegelten sich in ihrem Verhalten wieder. Sie suchten Schutz in ihren Häusern und bei ihren Liebsten, wann immer sie konnten. Und Nuin konnte sie verstehen.
Auf leisen Pfoten schlich der Greif auf den Marktplatz hinaus. Sein knurrender Magen drängte ihn dazu, seine Natur zu verraten. Er stahl sich in den Lebensraum der Menschen.
Mit all seinen Sinnen hielt er nach Nahrung Ausschau. Ein leichter salziger Duft lag in der Luft und lockte ihn drängend zu sich. Nuin nähert sich dem ersten Wagen eines Händlers. Der Wagen bestand aus Holz und Nägeln und war dazu gedacht, um ein Pferd davor zu spannen und mit ihm weiterzuziehen. Er war geschlossen und mit einem vorgeschobenen Balken unzugänglich gemacht, aber den Greif störte es nicht. Er war nicht hier, um Nahrung zu stehlen, sondern um sie aufzusammeln. Vor dem linken Vorderrad lagen ein paar heruntergefallene Äpfel.
Andhera war ein Land, in dem es reiche Felder und gute Ernten gab. Niemand hungerte hier.
Gierig schlang er das Obst hinunter und wünschte, es wäre ein üppigeres Mahl. Dann weckte ein Geräusch seine Neugier.
Ein Schemen huschte über den Platz, bewegte sich schnell. Abrupt versteifte sich der Greif, hielt den Atem an und machte Anstalten, davon zu rennen, aber etwas hielt ihn zurück.
»Ich tu dir nichts!«, zischte eine dunkle, aber leise Stimme. »Hier.«
Der Schemen kam näher. Etwas wurde vor Nuin auf den Boden geworfen. Etwas, das himmlisch duftete und dem Greifen das Wasser im Maul zusammenlaufen ließ.
»Ich beobachte dich schon seit ein paar Tagen«, fuhr der Fremde fort und trat respektvoll zurück. »Nimm. Ich bin satt.«
Stumm senkte der Greif den Kopf. Er schnupperte. Es roch nach Fisch.
»Na los!«, forderte ihn die Stimme erneut auf. »Ist alles für dich.«
»Wieso?«, fragte der Greif misstrauisch. Sein Blick glitt zwischen dem Umriss seines Gönners und den Fischresten hin und her.
Ein hohes Lachen stahl sich aus der Kehle des Fremden. Er stand in den Schatten. Dunkelheit verschlang sein Gesicht. »Weil du hungerst, mein Freund, und nachts durch die Gassen schleichst, nur um am nächsten Morgen genauso hungrig wieder ins Nichts zu verschwinden. Niemand sollte hungern, solang es ausreichend Essen für uns alle gibt. Auch ein Wesen wie du nicht. Ich weiß, was es heißt, Hunger zu leiden und einsam zu sein. Dir soll dieses Gefühl erspart bleiben.«
»Mein Problem«, erwiderte der Greif. Sein Blick huschte wieder zu dem Fisch und blieb diesmal auf ihm hängen. Er war hungrig. Sehr hungrig.
Angespannt ins Dunkel blinzelnd versuchte der Greif seinen gesichtslosen Gönner besser erkennen zu können.
»Hunger geht uns alle etwas an«, sagte dieser.
Das stimmte. Die menschliche Verbundenheit zwang ihnen eine gewisse Bürde auf. Sie mussten füreinander sorgen. Das gebot ihnen der Anstand.
»Und wenn ich keine Almosen will?«
»Dann«, antwortete der Fremde, während er die Arme vor der Brust verschränkte, »hast du sicher Gründe und ich werde mich dir nicht aufdrängen. Aber um uns herum herrschen dunkle Zeiten. Im Krieg sollte man sich gut überlegen, ob man eine Mahlzeit ausschlagen kann.«
Krieg. Es war das falsche Wort. Andhera kämpfte nicht, sie starb.
»Danke«, flüsterte Nuin daraufhin.
Es war seltsam, denn obgleich sie einander nicht kannten, und nichts voneinander wussten, spürte er, wie sehr sie durch diesen Gnadenakt des Fremden verbunden wurden. Es war nicht viel, kaum mehr als ein kleiner Hoffnungsstrahl in tiefster Dunkelheit, aber es genügte - fürs Erste.
»Schon gut«, entgegnete der Fremde, winkte ab. »Führt dich der Krieg hierher?«
»Nein. Die Sorge um eine Freundin.«
»In Zeiten wie diesen sind Freunde unerlässlich.« Der Fremde lachte und wandte sich langsam ab. »Ich komme morgen wieder. Wirst du hier sein?«
»Das werde ich.«
Dann war sein unbekannter Gönner verschwunden. Nuin labte sich an den üppigen Fischresten, bis er zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder das Gefühl von Sättigung verspürte, ließ den Blick ein letztes Mal über den Platz schweifen und zog sich dann langsam in sein sicheres Versteck zurück. Er bettete sich in feuchtes Laub, rollte sich auf die Seite und blinzelte in die Nacht hinaus. Erst, als Joshua viele Stunden später vergnügt quiekend zurückkehrte, schloss der Greif die Augen und schlief ein. In seinen Gedanken war er in den letzten Atemzügen dieser Nacht zum ersten Mal nicht bei Alex und den Sorgen, die ihn tagsüber quälten, sondern in einer anderen Welt, in der es noch Menschen gab, die ein gutes Herz besaßen.