Joshua saß auf dem Kissen. Seine Konturen verschwammen vor Alex Augen, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er es war. Und sie waren nicht alleine. Am Fußende des Bettes saß eine Gestalt mit herabhängenden Schultern und dunklen Haaren, die ihr wirr ins Gesicht hingen. Rasiert und gewaschen war er kaum wiederzuerkennen.
Aber es war zweifelsohne Eyndor. Oder wieder nur eine Illusion, geschaffen, um sie hinters Licht zu führen?
Er drehte den Kopf, als sich das Mädchen regte, sagte jedoch nichts und lächelte nur. Diese Regung wirkte wie eine Maske, die er einstudiert hatte, aber nicht fühlen konnte. Es war nicht die Geste, dass er an ihrem Bett saß, und auch nicht die Tatsache, dass ihm offenbar die Worte fehlten, sondern es war die langsam zurückkehrende Erinnerung des Mädchens, die in ihr eine Leere wachriefen, für die sie keine Worte fand. Wieder und wieder stürzte sie in bodenlose Tiefe, und wenn ihr Geist versuchte sich festzuhalten, um nicht noch weiter in den Abgrund zu stürzen, war da nichts, woran sie sich klammern konnte. Nuin saß in einem Kerker und solange Anders seine Meinung nicht änderte, würde es auch so bleiben. Eyndor war frei und doch stand zwischen ihm und Anders ein Konflikt, der es beiden unmöglich machte, an vergangene Zeiten anzuknüpfen. Und zu guter Letzt waren da noch zwei mächtige Dämonen, die sich bis aufs Blut verabscheuten und Alex durch eine Dummheit in ihren Krieg hineingezogen hatten. Ganz gleich, wie sie es drehen und wenden wollte - in diesem Spiel war sie der große Verlierer. Und jetzt sollte, nachdem ihr Anders alles genommen hatte, was ihr in dieser Welt etwas bedeutete, auch alles erlogen sein, woran sie sich erinnerte? Ihre Eltern, ihre liebevollen Verwandten, all die schönen Erinnerungen und Bilder auf ihrer Netzhaut - alles Lug und Trug? Nichts von alledem war wahr?
»Alex.« Nachdem eine Weile zwischen ihnen nichts anderes als andauernder Blickkontakt stattgefunden hatte, fand Eyndor seine Stimme wieder. Doch kaum hatte er ihren Namen auch nur ausgesprochen, war dies wie ein Signal, auf das Alex gewartet hatte, um sich all ihrer jugendlichen, irregeleiteten und zwiegespaltenen Gefühle zu entledigen. Sie fühlte, wie der Druck aus ihren Gedanken in ihren Magen wanderte, wie all die Wahrheiten, Geständnisse und Zwickmühlen endlich das taten, was sie sollten - sie machten sie wütend, traurig und weckten einen Zorn in ihr, den sie unmöglich niederringen konnte.
»Nicht«, sagte sie sofort, streckte Joshua die Hand entgegen und wartete, bis er mit einem Fiepen auf ihren Arm kletterte. Seine kleinen, alten Pfoten fanden nur schwer Halt auf ihrer Haut und hinterließen winzige, haarfeine Kratzer, die sie angesichts ihrer schwindenden Trance jedoch kaum wahrnahm. »Untersteh dich, mir zu versprechen, dass alles gutgehen wird für mich.« Irgendwie gelang es ihr, all ihre Wut auf ein einziges Ziel zu kanalisieren. Anders hatte sie ins Verderben gestürzt. Bei vollem Bewusstsein, was all das für sie bedeuten würde. Er hatte sie wieder und wieder ins offene Messer laufen lassen und sie nun einer letzten Hoffnung beraubt, die alles zum Guten hätte wenden können.
»Alex, ich will doch nicht-«
»Was willst du nicht?«, brauste sie auf. »Was willst du schon sagen, dass irgendetwas für mich ändern würde?« Sie schwang die Beine aus dem Bett und kaum, dass sie den kalten Boden unter ihren nackten Füßen spürte, schlich sich in den Sumpf all der falschen Gefühle noch ein weiteres. Angst. »Ich bin sechzehn Jahre alt«, rief sie ihm in Erinnerung. »Sechzehn. Ich bin belogen und betrogen worden. Mein ganzes Leben lang! Ich dachte, mein Freund Anders wäre tot, weil ich ein Versprechen an ihn nicht halten konnte. Und nun stellt sich heraus, dass er nie mein Freund war. Dass er mich auserwählt und an den Pranger gestellt hat, weil er selbst so unfassbar große Angst davor hatte, etwas falsch zu machen, dass er diese Last nicht tragen wollte.« Sie ballte die Hände zu Fäusten, schaute zu Eyndor auf und sah in dessen Gesicht tiefe Bestürzung. »Ich bin sechzehn, Eyndor. Ich sollte in die Schule gehen, mich mit Jugendlichen in meinem Alter treffen, über Jungs reden und ins Kino gehen. Ich sollte all das haben, aber was bekomme ich? Einen Schlüssel und andauernd das Versprechen, dass alles wieder gut wird. Ich will nichts mehr davon hören.« Mit einem Ruck riss sie die Kette von ihrem Hals. Das Silberglied, auf das sie den größten Druck ausgeübt hatte, zersprang und fiel klirrend zu Boden. Sofort packte Alex den Schlüssel und warf ihn hinter sich auf das Bett. »Ich spiel nicht mehr mit!«
Als sie zur Tür hastete, sprang Eyndor auf und bekam ihre Hand zu fassen. Wie vom Donner gerührt blieb das Mädchen stehen, drehte sich um und entriss dem Krieger ihre Finger. »Du hast kein Recht dazu, mich aufzuhalten!«, fuhr sie ihn an und spürte langsam, wie all die Gefühle, die sich in ihr bekriegten, allmählich ihren Tribut forderten. In ihren Augen brannten Tränen, die sich ihren Weg hinaus bahnen wollten. Doch anstatt ihren Schmerz zu verbergen, sah sie Eyndor geradewegs an. »Lass mich gehen.«
»Wohin?«
»Nach Hause. Ich-«
»Alex..«
»Nein!«, wehrte das Mädchen seine Worte ab. »Sag nichts! Ich will einfach nichts mehr hören. Du, Isay, Anders, dieser Krieg, der hier tobt.. und Nuin.. ich glaube keinem von euch auch nur noch ein einziges Wort, ehe ich keine Beweise habe. Und wenn du ein Freund sein willst, dann sagst du Anders nicht, was ich vorhabe, und lässt mich einfach gehen. Wenn ich weg bin, kann er meinetwegen Purzelbäume schlagen. Aber wenn ich ihm auch nur noch ein einziges Mal in die Augen sehen muss, dann..«
Dann wusste sie nicht, was sie tun würde.
»Ich bin dein Freund«, versuchte der Krieger sie zu beschwichtigen. »Aber was für ein Freund wäre ich, wenn ich dich in deinem Zustand gehenlassen würde? Du kannst nicht klar denken.«
»Ja!«, erwiderte Alex. Sie hob die Hand und wischte die ersten Tränen fort, die den Kampf gegen ihren Widerstand gewonnen hatten. »Und ich werde nie wieder klar denken können, wenn ich jetzt nicht verschwinde. Ich.. kann hier nicht atmen, Eyndor! Ich kriege keine Luft mehr. All das« sie wies mit der Hand auf Wände und Decke, »erdrückt mich, wenn ich jetzt nicht aufhöre, mir selbst die Schuld an alledem zu geben. Ich muss hier weg, oder ich verliere mich in all den kleinen Dingen, die ich nie sein wollte.« Sie wollte atmen, aber in ihrer Lunge sammelte sich Hitze. »Als Anders dachte, ich bin einer Bürde gewachsen, der er sich nicht stellen wollte, hat er sich geirrt! Ihr alle habt euch in mir geirrt! In mir steckt gar nichts Heldenhaftes. Ich bin bloß Alex, und ich will nach Hause.«
Nach Hause. Dahin, wo sie glücklich war. Wo alle Dinge geregelt, alle Fronten klar und alle Bilder aufrichtig waren. Dorthin, wo sie vielleicht seltsame Bilder zeichnen konnte, aber niemals wirklich in Gefahr war.
Sie wollte noch irgendetwas sagen, doch plötzlich brach ihre Stimme. Fassungslos starrte sie den Krieger an und wusste sofort, dass sie jetzt gehen musste, oder in Tränen ausbrechen und zerschellen würde.
»Es tut mir leid«, sagte sie deshalb nur, drehte sich um und öffnete die Tür. Diese einfache Geste fühlte sich befreiend an, wie eine Erlösung, auf die ihre Seele gewartet hatte. »Sag ihm«, murmelte sie, »wenn es ihm wirklich leidtut, dass er mein Leben zerstört hat, dann soll er mich in Ruhe lassen. Dieses eine Mal etwas richtig machen.«
Eyndor nickte und faltete die Hände vor der Brust. »Möglicherweise weiß er längst, worüber wir hier sprechen. Geh schnell und komm nicht zurück. Kehr diesem Krieg den Rücken und bete, dass dort draußen etwas anderes auf dich wartet.« Seine Mundwinkel zuckten, doch zum Lächeln reichte es nicht aus. »Ich weiß nicht, ob er wütend wird, oder dich verstehen kann. Der Mann, den ich hier wiedergefunden habe, ist ein harter, ein durchlebter und müder Anders, aber ich weiß, es tut ihm leid. Alles, was dir geschehen ist. Auf seine Art. Geh jetzt. Er wird es verstehen.«
»Und du?«
»Ich verstehe dich besser als du denkst, denn auch ich wollte einst nichts mehr, als diesen Ort verlassen. Lauf.«
»Sag Nuin, dass ich mir wünsche, er wird mir irgendwann verzeihen können.« Alex drehte sich nicht noch einmal zu ihm um. Sie fasste ihren Entschluss und ging.
Niemand hielt sie auf. Niemand begegnete ihr. Alle Flure waren wie leergefegt, obwohl sie wusste, dass Anders Dämonen hier patroullierten. Dass ihr keiner von ihnen über den Weg lief war ein Zeichen, ein finsteres Omen. Doch sie lief weiter. Hinauf in den Turm, Stufe für Stufe. Ihre Gedanken kreisten nicht mehr. Ihr Kopf wurde klar. Mit aller Macht konzentrierte sich das Mädchen auf all die Lügen, die Anders ihr aufgetischt hatte. Wieso sollte dann gerade dieses Märchen über ihre Eltern Wirklichkeit sein? Hielt er sie für so naiv, dass sie seinem dahergesagten Wort Glauben schenkte und es nicht einmal versuchte, von hier fortzukommen?
Diesmal zählte sie die Stufen nicht. Sie wusste genau, wie viele es waren. Wie weit sie von dem Saal entfernt war, in dem ihr gleich hundertfach ihr eigenes Antlitz entgegenblicken würde, doch als sie die letzte Stufe nahm und sich selbst gegenübertrat, war sie nicht auf das gefasst, was sie erwartete. Sie sah sich selbst näherkommen: ein blasses Kind mit sorgenvoller Miene. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und sie sah müde und mitgenommen aus. Eben genau so, wie ihr zu Mute war. Erschöpft schloss sie die Augen. Zum ersten Mal seit Tagen war sie ihrem Seelenfrieden so nahe. Bald schon würde alles vorüber sein, der Albtraum enden.
Rasch wandte sie sich ab, dem größten Spiegel zu und gewahr für einen Augenblick etwas, das ihre Meinung hätte ändern können, doch die Wut verrauchte, ehe sie aufkeimen konnte. Dort, direkt neben dem Spiegel stand eine große Kiste aus Holz, an der ein Schwert lehnte, das in unscheinbare Leinentücher gewickelt war. Nur der Griff lugte heraus, und allein er genügte dem Mädchen völlig, um zu erkennen, um welche Waffe es sich hierbei handelte. Ein kunstvoller schmiedeeiserner Griff, der einen Rabenleib bildete. Seine Flügel bildeten die Parierstange und seine Füße mündeten in die tödliche, gut verborgene Klinge. Es war eine Waffe, wie das Mädchen nie eine furchteinflößendere gesehen hatte, und mit absoluter Sicherheit das Schwert, von dem Anders gesprochen hatte. Die Klinge, die Jedermann töten konnte. Auch ihn. Auch Isay. Und in dieser Truhe verbarg sich etwas so Finsteres, dass es dem Mädchen fast den Atem verschlug. Zauber, Runen, Symbole und Keilzeichnungen zierten den Deckel. Ein großes Schloss sicherte den gefährlichen Inhalt. Den Inhalt, zu dem sie den Schlüssel verwahrt hatte. Das wusste sie nicht, weil sie augenblicklich eine Verbundenheit zu der verschlossenen Kiste spürte, sondern weil ihr eine unerklärliche Leere verkündete, dass sie den Schlüssel, den sie zurückgelassen hatte, jetzt brauchen konnte.
Langsam näherte sie sich er Truhe. Ein doppelt gefaltetes Pergament lag darauf. Alex streckte die Hand aus, nahm den Brief und faltete ihn auseinander. Sie würde gehen und verschwinden. Wen sollte es stören, wenn sie, nachdem sie so oft belogen worden war, ein einziges Mal die Wahrheit erfuhr?
'Mein treuer Freund, stand dort in wunderschön geschwungenen Buchstaben geschrieben. Mit echter Tinte und auf festes, ausgewähltes Pergament gekritzelt.
Ich wusste immer, unsere Wege würden sich niemals mehr kreuzen. Aber ich tat, worum Du mich gebeten hast. Zehn lange Jahre habe ich über Deinen kostbarsten Besitz gewacht. Versprich mir, dass Du ihn zu Dir holen wirst, sobald es Deine Kräfte zulassen. Hier übersende ich Dir, was Isay in seiner Schatzkammer vergessen zu haben scheint. Für Dich jedoch hatten diese Dinge immer eine Bedeutung. Sei auf der Hut und gerissen. Jedermann kann dein Feind sein. Und man munkelt hinter diesen Mauern, dass Isay in einem schwarzen Magier einen sehr starken Verbündeten gefunden hat.
Meine Schuld ist hiermit abgetragen, und ich hoffe, das Schicksal führt uns nicht noch einmal zusammen in den Kampf.
R.'
R. Was das einer von Anders Männern, die er ausgesandt hatte? War er ein Schattenwesen? Nichts davon schien plötzlich mehr von Bedeutung zu sein.
Nein, R stand für Reyndra. Eyndors und Anders Verbündeter in Isays Reihen. Der, der nach anders Aussage den Schlüssel von Eyndor zurückholte, um zu verhindern, dass er Isay in die Hände fällt.
Mit einer langsamen Bewegung ließ das Mädchen den Brief auf die Truhe zurückgleiten und holte mehrmals hintereinander so tief Luft, dass sie fürchtete, ohnmächtig zu werden.
Joshua bewegte sich, und erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass er es sich auf ihrer Schulter bequem gemacht hatte. Sie neigte den Kopf zur Seite und erblickte aus den Augenwinkeln, wie die kleine Ratte den Kopf in Schräglage brachte. »Was meinst du, Josh?«, fragte sie ihn. »Verschwinden wir von hier und überlassen all diese Probleme wieder jenen, deren Aufgabe es eigentlich ist, sie zu lösen?« Josh quiekte und Alex entschied, dass dies ein Ja war und positionierte sich vor dem Spiegel.
Sie war nicht aufgeregt. Nicht diesmal. Diesmal war sie ruhig und gelassen. Diesmal wartete keine böse Überraschung in irgendeiner fremden Welt auf sie. Denn diesmal wusste sie instinktiv, dass ihre Gabe sie nur an einen einzigen Ort bringen konnte - nach Hause. Dorthin, wo ihr Herz mehr als alles andere auf der Welt sein wollte.
Dann kehrte sie der Anderswelt den Rücken und war im Inneren des Spiegels verschwunden.