In dem Moment, in dem ihr Blick auf die offenen Zellen fiel, wusste Alex augenblicklich, dass es in ihrem Plan eine Schwachstelle gab, die auf den Namen Isay hörte, und gerade dabei war, ihnen alles zu zerstören.
Sie fuhr auf dem Absatz herum und stürzte die Treppe hinauf. Ihre Stiefel trommelten auf dem harten Grund. Es gab keinen Anlass mehr dazu, sich zu verstecken. Isay wusste von ihr. Er musste den Braten gerochen und Anders fortgeschafft haben, ehe sie eingetroffen war und fernab von Darias Blicken.
Ungestüm rauschte sie die Stufen hinab, warf sich gegen die Holztür und trat hinaus in die Eingangshalle. Dort sah sie, wie der Drache, sich grollend und feuerspeiend einen Weg ins Schloss bahnte. Hitze stieg an den Wänden empor und plötzlich schien die Luft zu schwelen. Es dampfte in den Gedanken des Mädchens.
»Eyndor!«, schrie sie über das Toben des Drachen hinweg dem Krieger zu, der in diesem Moment in einen Schwertkampf mit einem Kämpfer verwickelt war, der deutlich schlechter konditioniert war, als er selbst. Seine klinge parierte jeden Schlag. Funken stoben auf.
Zum ersten Mal sah sie Eyndor in seinem Element, mit einem Schwert als Verlängerung seines Armes. Sein ganzer Körper schien zur Schlacht selbst geworden zu sein. All seine Bewegungen saßen, jeder Hieb war präzise wie ein Uhrwerk, gnadenlos und gefährlich. Er hieb zu, er stach, und traf. Seine Bewegungen wirkten einstudiert, vorgeplant und berechnend. Er war dazu gemacht, seine Feinde in die Enge zu treiben und zu siegen. Seine ganze Körpersprache hatte sich verändert. Von dem jungen emotionalen Mann, der sich heimlich in ihr Herz gestohlen hatte, war nicht viel geblieben. Nur eine wage Erinnerung an ein lebendes, fühlendes Wesen.
Doch als ihre Stimme von den Wänden hallte, erwachte etwas in ihm zu neuem Leben. Mit einem gezielten Hieb hielt er sich den Krieger vom Leib und riss den Blick herum. Er streifte sie nur, doch sie sah die Wildheit darin.
»Eyndor, er war nicht dort!«, rief sie ihm zu und wich langsam rückwärts die ersten Stufen der Treffe hinauf. »Isay muss etwas geahnt haben. Er-«
Eyndors Kampfschrei ließ sie zusammenfahren. Er huschte vor, hob die Waffe und schlug zu. Ein Hieb und sein Gegner stürzte gegen die Wand und blieb ohne Bewusstsein liegen. Blitzschnell wandte sich der Krieger von ihm ab, drehte um und kam zu Alex gelaufen. »Was sagst du?«, fuhr er sie atemlos an.
»Ich sage, dass..« Alex verlor sich in seinen wilden Augen, blinzelte das Erschrecken fort und senkte den Blick. »Er war nicht dort. Darias sagte mir-«
»Darias?!«
»Ich bin ihm begegnet. Er gab mir das Schwert.« Sie deutete ein Nicken auf die Waffe in ihren zittrigen Fingern an. Je länger sie es hielt, desto schwerer schien das Schwert zu werden. »Was tun wir?«
»Isay würde nicht riskieren, Anders aus dem Schloss zu schaffen. Die Gefahr, dass er sich losreißen und fortfliegen könnte, ist zu groß.« Er drehte sich um und warf einen Blick hinter sich. Isays Krieger, die noch übrig waren, rangen einen ungleichen Kampf mit einem feuerspeienden Ungeheuer und schienen allesamt beschäftigt. »Komm«, fuhr er fort, berührte Alex an der Schulter und drängte sie die Treppe hinauf. »Los, los!«, fauchte er. »Beeil dich!«
So schnell ihre Puddingbeine sie trugen, stürmte das Mädchen die Treppe hinauf. Vor ihren Augen drohte die Welt zu verschwimmen. Die Erschöpfung packte sie mit fester Hand und rang ihre Entschlossenheit nieder. Zudem spürte sie nun, da er ihr nahe war, auch Eyndors Unsicherheit aufflammen. Was, wenn er sich irrte? Was, wenn Anders fort war?
»Wohin?«, fragte sie ihn japsend, als sie das Ende der Treppe erreichten und sie plötzlich wieder beinahe dort war, wo Darias ihr die Freiheit geschenkt hatte.
Eyndor drehte sich einmal um die eigene Achse, hob seine freie Hand und massierte sich mit zwei Fingern die Schläfen. »Ich muss nachdenken«, murmelte er. Sein Atem rasselte. »Er kann ihn nicht fortgebracht haben. Die Gefahr, dass er flieht, ist viel zu hoch. Er kann nur-« Wie vom Blitz getroffen fuhr er zu Alex herum. »Alex, durch welchen Spiegel bist du gekommen?«
»Durch den im Turm.«
»Dann wird Isay versuchen, Anders zu zwingen, sich und ihn durch den anderen fortzubringen. Schnell! Folge mir!«
Er rannte los und Alex versuchte, ihm nachzusetzen, aber ihre Beine fühlten sich leblos an. Jeder Schritt war eine Qual und plötzlich war da Angst in ihr. Was, wenn sie vergebens gekommen waren? Was, wenn Anders längst fort war und sich unerreichbar weit weg befand? Was, wenn-
Abrupt blieb Eyndor stehen. Er drehte sich zu ihr um, nahm ihr Gesicht in seine Hände und sah ihr heftig atmend tief in die Augen. »Wir - werden - es - schaffen«, sagte er zu ihr, jedes Wort einzeln so betonend, als hinge ihr Leben davon ab. »Vertrau mir. Komm jetzt.«
Er griff mit seiner freien Hand nach ihrem Arm und zog Alex hinter sich her. Dort, wo seine Hand ihre Haut berührte, zuckten winzige Blitze über ihre Haut. Ein neuer Schub Energie eroberte den Leib des Mädchens und gestattete ihr, noch einmal alles aus sich herauszuholen. Es gab kein Wenn und Aber. Sie mussten es schaffen.
Der Korridor zog sich, doch kaum, dass sie in Sichtweite des Raumes gerieten, spürte sie instinktiv, dass Eyndor recht hatte. Anders Anwesenheit war überall. Seine Aura brannte und flutete jeden Zentimeter des Ganges, jedes Luftmolekül, jeden Stein. Eyndor brach vom Flur in den Raum ein und drei der Krieger, die bereits darin standen, fuhren herum und stürzten sich auf ihn. Flink, wendig und erschrocken presste sich Alex an die Wand und huschte an ihnen vorüber. Keiner der Krieger nahm sie zur Kenntnis. Sie war ein unbedeutendes Ziel.
Ihr Blick flog durch das kleine Zimmer und ein Augenaufschlag reichte ihr, um alle Informationen zusammenzutragen, die sie brauchte. In jenem Moment, in dem sie in den Raum eingedrungen waren, hatten sich neben denen der drei bewaffneten Kämpfer noch zwei weitere Augenpaare zu ihnen umgewandt. Die von Isay und Anders. Der Schwarze Engel war vor dem Spiegel auf die Knie gefallen. So, wie er dasaß, war es nicht freiwillig geschehen, und er sah aus, als befände er sich in schlechter Verfassung. Sein Haar war wie nach einem Kampf zerzaust, seine Augen ungewohnt finster und lebensleer, und von den großen, schwarzen Schwingen fehlte jede Spur. Er sah plötzlich, wie er da so saß, wieder ganz aus, wie der kränkliche Mann, der vor zehn Jahren beschlossen hatte, dass sie etwas Besonderes war. Isay indessen trug die Truhe unterm Arm. Seine Miene wirkte undurchdringlich, seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verzogen und das, was von seiner Aura übrig war, pulsierte im Inneren des Spiegels in tiefem Schwarz. So wie Anders. Der Spiegel enthüllte, was sie verstecken wollten. Während ihre eigene Aura wie ein Leuchtfeuer den Raum hinter ihren Spiegelbildern erhellte.
Wie auf ein geheimes Signal hin, machte Isay einen Schritt, der Alex den Weg zu Anders versperrte, und drückte den Dolch, den er bislang unbemerkt in der anderen Hand gehalten hatte, so fest in den Nacken des Engels, dass dieser sich deutlich verkrampfte und Alex unmittelbar klar wurde, wie ernst Isay dieser Schritt war. Ein Wahnsinniger, der bereit dazu war, seinen größten Schatz mit allem zu verteidigen, was ihm zur Verfügung stand.
»Los«, drang seine Stimme düster durch den Raum. »Öffne den verdammten Spiegel, oder es wird vollkommen gleich sein, ob sie dich retten, oder nicht! Ich werde dich nicht noch einmal darum bitten.«
Er drückte nach und Anders Hände krallten sich in die Steine, auf denen er saß. Vor Alex entsetzen Augen spielte sich eine schier unglaubliche Szene ab. Anders schien so erschöpft zu sein, dass er tatsächlich eine Hand hob und auf das Glas des Spiegels bettete. Unter seinen Fingern begann sich die Oberfläche des Spiegels wabernd zu verflüssigen. Winzige Wellen erstanden um seine Finger herum, als hätte er sie in Wasser getaucht und Alex spürte augenblicklich, wie der Spiegel unter seiner Berührung zum Leben erwachte. Das darin befindliche Portal öffnete sich und zog mit aller Macht an ihr. Energie durchflutete das Zimmer und verwandelte sich in einen Sog. Der von Anders geöffnete Pfad im Inneren des Spiegels flüsterte ihren Namen. Flüsterte er auch seinen?
Einem Impuls nach hob das Mädchen die Hand und tastete nach dem Schlüssel, der um ihren Hals hing. Er gab ihr Halt, er schützte sie. Er tat es nicht wirklich, aber Alex fühlte, dass er ihr Stärke gab, die sie nun mehr denn je brauchte.
»Anders, nicht!«, hörte sie aus dem Kampfgetümmel heraus Eyndors Stimme. Gefolgt vom Klang zweier Klingen, die heftig aufeinanderprallten.
Aber Anders Reaktion war verheerend. Er hob die zweite Hand, berührte den Rahmen des Spiegels und zog sich langsam daran in die Höhe. Aus eigener Kraft stehen konnte er scheinbar nicht mehr. Isay drehte den Kopf und warf einen zufriedenen Blick auf den Spiegel und seinen Gefangenen, ehe er seine ganze Aufmerksamkeit wieder Alex zuwandte. »Schade«, begann er mit einem tiefzufriedenen Grinsen. »Ich wünschte, uns wäre mehr Zeit geblieben, um ein wenig zu plaudern. Aber wie ihr seht-« er deutete ein Nicken hinter sich an, »haben wir es eilig. Vielen Dank, dass ihr vorbeigesehen habt. Mir scheint, diesmal habe ich euch unterschätzt. Ich gratuliere euch: Ihr habt das Schloss erfolgreich zurückerobert. Aber unseren gemeinsamen Freund überlasse ich euch nicht. Bis zum nächsten Mal!«
Sein Grinsen zeugte von der verborgenen Zufriedenheit, die er empfand. Sein Triumph würde vollkommen sein, sobald es ihm gelungen war, Anders von seinem Schloss, seinen Gefährten und allem abzuschotten, das ihm heilig war. Dann, mit seinem Gefangenen in seinem eigenen Reich der Finsternis, war er der unbestrittene Herrscher Andheras und niemand würde wagen, sich ihm noch einmal in den Weg zu stellen. Dann war Anders fort und sie würden keine zweite Chance bekommen, zu ihm durchzudringen.
Vor Alex Augen sah sie den Kampf bereits verloren, glaubte, Andhera dem Untergang geweiht. Und vielleicht war es das Wissen darum, dass sie alle dem Tode geweiht waren, wenn Isay siegte oder schiere Verzweiflung, aber irgendetwas gab ihr den Mut nach Anders Bewusstsein zu tasten. Der Spiegel verband sie. Er war ein Medium zwischen ihnen beiden und gab Alex die Kraft, seine blasse Aura schwinden zu sehen.
›Anders‹, dachte sie und versuchte mühsam an seinem Bewusstsein zu kratzen. ›Reiß dich zusammen! Hilf mir.‹
Alex Blick floh an ihm vorüber. Er streifte Anders Spiegelbild, seine gefesselten Hände, die sich so fest in den Rahmen des Siegels krallten, dass er zu Bröseln begann und bemerkte etwas, das der Dämon nicht sehen konnte. Anders hatte das Haupt behoben und den Blick des Mädchens ausfindig gemacht. Hatte er sie gehört? Mit einem Mal kehrte sein Bewusstsein zurück. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, spannte die Muskeln zwischen seinen Schulterblättern an und straffte sich. Es war, als wollte er zum letzten, alles vernichtenden Schlag ausholen. Hatte er erkannt, dass er verloren war, wenn er mit Isay ging?
›Es tut mir leid‹, formten die rissigen Lippen seines Spiegelbildes. Alex konnte seine Stimme in ihren Gedanken hören. So nah, dachte sie, waren sie einander nie zuvor gewesen und vielleicht war es falsch, aber in diesem Moment fühlte es sich richtig an. Die Mauer des Schweigens zwischen ihnen stürzte ein. Danach brach die Hölle los.
In einer einzigen Bewegung, so schnell, dass Isay kein Raum zum Reagieren blieb, fuhr Anders herum. Er packte den Dämon mit letzter Kraft. Seine Arme schlangen sich rücklings um seinen Leib und hielten den Dämon fest wie ein Schraubstock. Dann suchte er, der echte Anders, nicht sein Spiegelbild, zum letzten Mal Alex Blick und ließ sich fallen.
Es geschah nicht schnell, sondern langsam. Viel zu langsam.
Mit einem Ruck stand die Zeit still. Alex sah, wie die beiden Schattenwesen stürzten, bemerkte den erstaunten Ausdruck auf Isays Lippen. Sein Atem stockte. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Anders ein letztes Mal den Zweikampf suchen würde. Nicht in seinem Zustand. Alles bewegte sich langsamer, als es sollte. Magie war überall. Der Spiegel pulsierte. Sie berührten die Oberfläche des Spiegels, tauchten darin ein und verschwanden.
Es klirrte, als das Schwert aus Alex Fingern fiel und auf den steinernen Boden prallte. Plötzlich preschte das Mädchen vor, griff durch den Spiegel und spürte ihr eigenes Herz nicht mehr schlagen. Alles, was das Mädchen hinter dem Glas noch zu fassen bekam, ehe der Spiegel Anders und Isay irgendwo anders wieder ausspuckte, war die Kette, die die Handgelenke des Engels aneinander fesselte.
Alex griff danach, packte sie und warf sich, von tiefer Verzweiflung gepackt zurück. Mit aller Kraft und der Hilfe ihres eigenen Körpergewichts versuchte sie, der Schwerkraft entgegen zu wirken. Im Spiegel herrschten andere Gesetze. Nichts war dort einfach, nichts wie es sein sollte. Alex warf sich zurück, zerrte an der Kette und hatte das Gefühl, unendlich tief zu fallen. Sie stürzte aus dem Spiegel heraus und landete unsanft auf dem Boden, direkt hinter Eyndor und dem letzten verbliebenen Krieger. Die Stille fraß den Schrecken, der sie erfüllte. Da war nichts mehr von ihr übrig. Kein Hoffen, kein Denken, kein Verstehen oder Begreifen. Nur Stille flutete ihren Geist.
Ihr Magen rebellierte, ihre Gedanken verwandelten sich in zähflüssige Masse und dann sah sie plötzlich, dass die feingliedrige Kette in ihrer Hand strammgezogen war. Sie folgte ihrem Verlauf und sah eine Hand auf den Steinen liegen. Eine einzelne, feuchte Hand, von der Wasser tropfte. Ihr Blick fuhr an der Hand entlang in die Höhe, zu einem Arm, zu einer Schulter, einem Oberkörper, der wie leblos aus dem Spiegel herausragte, während Beine und Torso noch halb im lebendig gewordenen Spiegelglas steckten. Anders! Es war Anders!
Wie es ihr gelang, wusste sie nicht, doch sie richtete sich in Sekundenschnelle auf, stürzte vor und zog den Leib des Engels mit aller Macht gänzlich aus dem Spiegel heraus. Er war schwer und nahezu ohne Bewusstsein. Seine Glieder wirkten steif und er war eiskalt. Das Glas waberte ein letztes Mal, ehe es wieder zu seiner bizarren Ursprungsform zurückkehrte - starr und leblos. Wieder nur ein Spiegel, in dem sie ihr eigenes, erschrockenes Antlitz sehen konnte. Ihre Augen wanderten tiefer und gewahren den leblos daliegenden Körper des Kerubs, tropfnass und eiskalt.
Während ihr Kopf noch überlegte und Eyndor im Hintergrund den letzten Krieger niederstreckte, agierten ihre Arme von allein. Sie schlangen sich um Anders Oberkörper, zogen ihn zu sich, pressten ihn an ihre Brust. Er war kalt wie der Tod, als wäre er hinter dem Spiegel in Eiswasser gefallen und beinahe erfroren. Seine Haut war blass und seine Augen öffneten sich nur langsam. Aber hinter seinen flackernden Augenlidern lag ein Hauch von Bewusstsein. Etwas, das Alex mehr als alles andere Hoffnung machte und ihr Herz so schnell schlagen ließ, wie Schmetterlingsflügel.
In diesem Moment fiel Eyndor japsend vor ihnen auf die Knie. Sein gehetzter Blick fuhr zwischen Alex und Anders hin und her. Er schien nicht zu begreifen, was sich hinter seinem Rücken abgespielt hatte, und doch reagierte er sofort. Das Schwert fiel aus seinen Fingern und klirrte protestierend beim ersten Kontakt mit dem schwarzen Steinboden. Seine Hand berührte in unfassbarer Geschwindigkeit Handgelenk, Kehle und Stirn des Engels, und obwohl Anders sichtlich orientierungslos und benommen wirkte, fand dessen Blick sofort den Weg hinauf in Eyndors Gesicht.
Er sah zu ihm auf und ein leises Erwachen stahl sich in sein Mienenspiel. Ein Lächeln grub sich unter der Erschöpfung hervor, und ehe sich Alex versah, hatte Eyndor den Kerub gepackt und fest an sich gepresst. Mit bebenden Fingern und am ganzen Leib zitternd ließ er die Anspannung von sich abfallen und klammerte sich mit solcher Kraft an Anders fest, als würde lediglich seine Nähe dafür sorgen, dass der Engel nicht verloren ging. »Tu das nie, nie, nie, nie wieder!«, raunte er ihm ins Ohr, während seine zitternden Arme so fest um den Torso seines Freundes lagen, dass Anders geräuschvoll nach Luft schnappte. Sein Kopf sank auf Eyndors Schulter und Alex sah, wie sein Abbild im gegenüberliegenden Spiegel die Augen schloss. Es war vorbei. Sein Kampf war vorüber. Nicht für immer, aber für den Moment. Langsam, aber doch so rasch, dass man die Veränderung sehen konnte, erholte sich sein Geist von der Schutzmauer, die er um sich herum errichtet hatte, um Isay nicht nachgeben zu müssen. Er kehrte schleppend, schleichend und vorsichtig in diese Welt zurück und für den Augenblick war er gerettet und in Sicherheit.
Isay konnte durch den Spiegel nicht zurückkehren und nur Anders allein wusste, wohin er den Dämon geschickt hatte. Das Eiswasser auf seiner Kleidung und seiner Haut ließ Alex jedoch erahnen, dass auf der anderen Seite des Portals diesmal kein Spiegel gelegen hatte.
Endlich löste sich auch Alex Anspannung. Gerettet, dachte sie, und zwang sich durchzuatmen. Es war vorbei. Und sie waren die Sieger dieser eigenwilligen Schlacht.
Sie, das unscheinbare Mädchen aus einer anderen Welt, das noch vor Kurzem geglaubt hatte, nichts weiter als eine Laune der Natur zu sein, und keinen Freund auf der Welt zu haben, hatte gemeinsam mit einer Handvoll wundervollen Kreaturen ein unvorstellbar wichtiges Leben und einen Freund gerettet. Nie hätte sich Alex träumen lassen, dass sie irgendwann einmal auf dem Boden sitzen und nicht eine ihrer Handlungen anzweifeln würde. Nie war sie so sicher gewesen, Zuhause und geliebt zu sein, wie in jenem Augenblick, als Anders die Lider hob und ihr aus dem Spiegelglas entgegen lächelte.