Eyndor hatte vergeblich versucht, sich mit dem Gedanken abzufinden, dass er alles nur getan hatte, um Anders einen Vorteil zu verschaffen. Er konnte es nicht, ganz gleich, wie er sich darum bemühte. Es fiel ihm schwer, zu schlafen, zu essen und zu ruhen, seit er Isay seinen Siegelring in die Hand gedrückt hatte, denn möglicherweise war seinetwegen ein unschuldiges Kind dem Tode geweiht. Oder bereits tot. Seit Stunden zermarterte er sich den Verstand und war letztendlich zu dem Entschluss gekommen, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, was sein Handeln herbeigeführt hatte. Entweder Anders hatte den Boten wieder fortgeschickt, ihm gegenüber zwar beteuert, dass er tun werde, was Isay verlangt, insgeheim jedoch eigene Pläne geschmiedet oder, das Leben des Kindes hing am seidenen Faden. Obwohl es vielleicht sogar sein eigenes Ende herbeiführte, hoffte ein Teil von ihm inständig, dass Variante zwei zutraf. Tief in Anders schwarzen Gedanken herrschte eine lichterfüllte Seele. Diese Grenze zu überschreiten und ein unschuldiges Kind umzubringen, konnte ausreichen, um den letzten Funken Menschlichkeit aus seinen Bewusstsein zu tilgen und ein Kerub ohne Seele, ohne Moral, die ihn lenkte und ohne Verständnis, war, das wusste er, eine tickende Zeitbombe.
Damals, als er ihm zum ersten Mal in die Augen geblickt hatte, war in ihm das Wissen herangereift, dass er dieses Wesen nie zum Feind haben wollte. Und bis heute war es dabei geblieben. Inzwischen war es unmöglich, dass Anders aus heiterem Himmel sein Feind werden konnte. Damals, als er einsam, krank, schwach und seelisch verwundet gewesen war, hatte er beschlossen, alles, was er war, mit Eyndor zu teilen. Er hatte ihm ungekannt tiefe Einblicke in seine Seele gewährt und sie unumgänglich aneinandergeschweißt. Mit dieser hingebungsvollen Geste hatte er ihrer beider Schicksal besiegelt: sich selbst zum Gefangenen seiner eigenen Festung gemacht und Eyndor zum Spielball in diesem Krieg.
Zu Beginn seiner Gefangenschaft hatte der junge Mann die Tage gezählt, doch bald schon, waren aus ihnen Wochen, Monate und Jahre geworden und sein Verständnis für Tag und Nacht war einer Trägheit gewichen, die keinerlei Rhythmus mehr zuließ. Seine Muskeln waren geschunden, seine Gedanken drehten sich immer häufiger im Kreis und hin und wieder ertappte er sich bei dem Gedanken, dass alles besser wäre, hätte er nie das Licht der Welt erblickt.
Dann hätten ihn die Mönche nie seinen Eltern fortgenommen und zum Krieger ausgebildet. Was zur Folge gehabt hätte, dass er nie erfahren hätte, welches Schicksal ihn erwartete. Der Beschützer einer Welt zu sein, hatte man ihm von Kleinauf eingetrichtert, bedeutete, keine Gefühle zuzulassen, eiskalt und gerecht zu sein. Doch selbst an den dunkelsten Tagen, die er allein in seinem winzigen Zimmer gesessen hatte, musste er gewusst haben, dass dies nicht sein Schicksal war. Er war unter der falschen Bürde geboren worden.
Und dann, als der Tag kam, an dem das Kloster überfallen, die Mönche getötet wurden und die Tür aufflog und Anders hereinkam, hatte sich sein ganz eigenes Schicksal erfüllt. Mit einer simplen Geste, ganz einfachem Handauflegen, hatte der Kerub Eyndor der Erfüllung seines Schicksals beraubt und der Junge hatte es gut gefunden. Mit ihm als größte Instanz für den Krieger des Lichts hatte seine Welt eine weitaus größere Chance, als mit ihm selbst. Und doch spürte er oft, dass es falsch gewesen war, sich vom Dunklen Prinzen das Schicksal der Welt abnehmen zu lassen. Er hätte seine Bürde nie eintauschen dürfen für ein Leben als gewöhnlicher Mensch.
Und doch fühlte er nun hinter diesen Gitterstäben, dass seine Welt im Abgrund versank. Mit unlauteren Mitteln hatte Isay das letzte Gefecht seines Gegenspielers beraubt und Anders in unsichtbare Ketten gelegt, die massiver nicht sein konnten.
Er und Eyndor waren eine Einheit, durch Vertrauen und ihre Träume enger verbunden, als es Geschwister sein konnten und dieses Band hatte sich der Dämon zu Nutze gemacht, um Anders jede Feder einzeln auszureißen.
Eyndor seufzte. Wäre er nie geboren worden, hätte der vorbestimmte der Götter, der an seine Stelle getreten wäre, vielleicht längst mehr Gutes bewirkt, als er je für möglich gehalten hatte.
Plötzlich wurde er je aus seinen Gedanken gerissen. Aus der Wand in seinem Rücken schob sich knirschend ein einzelner, rechteckiger Stein, bis er ein Loch freigab, gerade groß genug, damit ein einzelnes, rehbraunes Auge hindurchsehen konnte. Eyndor stemmte sich hoch, krabbelte auf allen Vieren hinüber zu dem ausgelösten Steinblock und beugte den Kopf herab, sodass er tief in das sanfte Auge blicken konnte.
»Sag mir, dass es dir gut geht«, erklang seine eigene Stimme, rau und freundlich. Doch die Müdigkeit zeichnete sie auch heute. Es war einer dieser Tage, an dem der Wächter, der unten im Gang hätte sein sollen, um ihm Essen und Wasser zu bringen, vergessen hatte, dass er hier unten saß und seine Kräfte allmählich nachließen.
»Es geht mir gut«, wisperte die Stimme hinter der Mauer. Das Auge blinzelte, musterte den Krieger in dem unendlich dünnen Lichtkegel, der sich durch das Loch in der Mauer in Eyndors Zelle schob. »Mach dir keine Sorgen. Ich war auf der Hut, als ich hierher kam. Niemand hat mich gesehen.«
Mit einem Nicken sank Eyndor zu Boden. Die schwere Kette an seinem Fuß machte es ihm leicht, hinabzugleiten. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und lächelte stumm in die Finsternis. »Wir waren uns doch einig, dass du mich nicht mehr besuchen kommen sollst«, fuhr er fort und dachte an den zweiten Besucher zurück, der ihn diese Woche beehrt hatte. »Was ist so wichtig, dass du dein Wort brechen musstest?«»Ich weiß von dem Boten«, flüsterte der Mann hinter der Wand, hielt kurz inne und schob mit zwei Fingern etwas zwischen den Steinen hindurch, das klirrend vor Eyndor zu Boden fiel. »Den wirst du in Kürze benötigen. Verwahre ihn gut.«
Mit müden Fingern tastete der Krieger über den Boden und bekam mit Mittel- und Zeigefinger den winzigen, metallischen Gegenstand zu greifen. Mutlos zog er ihn zu sich heran und schloss die Finger darum zur Faust. »Ist der Bote zurück?«
»Ja«, erwiderte die Stimme. »Anders hat geschworen, das Problem eigenhändig zu lösen. Aber du und ich, wir beide wissen, wie er ist.« Die Stimme hinter den Steinen sank zu einem heiseren Flüstern herab, sodass sich Eyndor weiter hinabneigen musste, um noch etwas zu verstehen. »Ich habe heute Nacht von ihm geträumt. Ich sah ihn mit erhobenem Schwert über Isays Bett stehen, und er lag tot darin. Meine Träume waren stets bedeutungsvoll, genau wie deine. Ich weiß, dass du hier unten nicht mehr träumen kannst, aber ich schon. Der Schlüssel eröffnet dir die Freiheit. Etwas wird passieren. Sei auf alles gefasst.« Ein tiefer Atemzug ertönte. »Ich bin alt geworden, Eyndor, und wenn es zum Kampf kommt, will ich einfach nur nach Hause gehen und meiner Frau und meiner Tochter sagen, dass ich sie liebe. Ich will sie mit mir nehmen und so schnell ich kann, vor dem Krieg davonlaufen. Sag ihm das. Sag ihm, ich war stets loyal, und jetzt fordere ich Frieden für die, die ich liebe.«
»Ich wünsche dir alles Glück der Welt«, erklang es dumpf von Eyndors Lippen. »Wirklich, Reyndra. Ich hoffe, du findest deinen Frieden.«
»Ich danke dir. Mit all meinen Gedanken werde ich bei dir sein.«
»Das weiß ich«, erwiderte Eyndor müde. »Geh jetzt. Und vielleicht sehen wir uns wieder. Irgendwann.«
»Vielleicht. Lebwohl.«
»Lebwohl.«
Als sich der Stein zurück in das Loch schob, atmete Eyndor schwer und geräuschvoll aus. Es schien ihm, als würden sich all jene, die zu ihm gestanden hatten, allmählich abwenden. Nahte ein Übel, von dem er noch nichts ahnte? Behielt Reyndra recht und seine eigenen Träume waren ihm gestohlen worden?
Er lehnte den Kopf zurück gegen den kalten Stein, schloss die Augen und hielt den Schlüssel so fest in seiner Hand, wie einen aufgefangenen Hoffnungsschimmer.