Das Geschöpf war unscharf, als würde ein milchiger Film darauf liegen. Große, angedeutete Rabenschwingen sprossen wie Zweige aus seinem Rücken, und reckten sich dem Licht entgegen. Dort, wo die Finger hätten sein sollen, befanden sich lange, zu Krallen verzogene Klauen, die sich leicht gebogen irgendetwas entgegen streckten, das sich außerhalb des Bildes befand. Ein Gesicht besaß es nicht, nur Höhlen, in denen keine Augen waren, und ein klaffendes Loch genau dort, wo Lippen einen Mund hätten bilden sollen. Alle Linien, aus denen das Wesen bestand, waren unscharf, als hätte jemand mit dem Handrücken darüber gewischt, um diese Kreatur zu zerstören.
Und dieser Jemand war sie gewesen. Abrupt ließ Alex den Stift fallen. Geräuschvoll schlug er auf der Holzplatte auf, kullerte zum Rand des Schreibtischs und stürzte hinab. Scharrend rollte er über den verzogenen Echtholzboden gegen die Wand und blieb dort reglos liegen. Mit einem wirren Blick bedachte das Mädchen noch einmal die Skizze, die unmittelbar vor ihr auf dem Tisch lag, schob den Drehstuhl zurück und stand mit verschränkten Armen auf. Sie hatte es wieder getan.
Seit Tagen lachte ihr das unfertige Gesicht jener Kreatur immer wieder und wieder von einem weißen Block aus entgegen, als würde es sie verspotten wollen. Was war nur los mit ihr?
Ihr Blick flog zum Fenster hinüber. Auf die Straßen prasselte Regen nieder. In den vergangenen Tagen hatte es beinahe ununterbrochen geregnet, und die Erde hatte das Wasser wie ein Schwamm aufgesogen. Doch inzwischen war auch ihr Bedarf gedeckt, und jeder weitere Tropfen war zu viel. Die ausgebeulte, und von der Sommerhitze stark beschädigte Asphaltschicht, war hier und da aufgerissen, und in allen Vertiefungen stand moderiges Pfützenwasser.
Alex seufzte. In ihrem Kopf drehten sich zusammenhanglose, wirre Gedanken. Wer war das Wesen, das sie zeichnete? Aus welcher Welt stammte es, und wieso erschien es ihr gerade in dieser Form? Wäre Alex ein normales Mädchen gewesen, mit gewöhnlichen Freunden und langweiligem Leben, wären ihr diese Gedanken möglicherweise nie in den Sinn gekommen. Aber da Alex nichts von alledem war, wusste sie, dass solche Dinge meist eine Bedeutung hatten, die ihr nicht gefallen würde.
Durch ihre Gabe war sie mit den Schattenwelten verbunden. Mit allen von ihnen. Und inzwischen wusste sie, dass es viele gab, dass sie von seltsamen Kreaturen bevölkert, und von eigenwilligen Göttern beherrscht wurden. Und in einer von ihnen gab es mit Sicherheit ein Geschöpf wie jenes, das sie gezeichnet hatte.
Das Mädchen drehte sich vom Fenster fort und ihrem größten Feind entgegen. Direkt neben der Kommode, auf der der kleine Käfig stand, in dem Joshua, die Farbratte, saß, und sie mit Knopfaugen anstarrte, hing er an der Wand: ein mannshoher Spiegel, schmucklos und ohne Rahmen. Er bestand aus drei quadratischen Einzelteilen, die mit doppelseitigem Klebeband übereinander an der Wand festgehalten wurden. Dass er nicht alt, kostbar oder antik war, spielte keine Rolle für die Begabung des Mädchens. Nur, dass er da war, und dass sich in ihm ein Portal versteckte, das niemand außer Alex nutzen konnte.
Das war ihr Fluch, ihre Gabe. Das Geheimnis, das sie zum Außenseiter gemacht hatte, solange sie denken konnte. Sie besaß die unverstandene Fähigkeit, auf die andere Seite jedes Spiegels gehen zu können. Und nicht hinter jedem lag nur ein weiteres Zimmer. Manche von ihnen waren Tore in fremde, eigenartige Dimensionen, in denen es keine Menschen gab und manchmal nicht einmal Tiere. Karge Felsen, leblose, tote Landschaften oder auch üppig blühende Biotope waren keine Seltenheit. Und manchmal gelangte sie einfach nur in ein anderes Land. Der große Badezimmerspiegel, hatte sie herausgefunden, führte sie hin und wieder auf einen orientalischen Basar, der voll mit Ständen voller dargebotenem Obst, Gemüse oder Gewürzen und Stoffen war. Es war ein mittelalterlicher, heruntergekommener Markt aus einer anderen Zeit, aber zweifelsohne war er irgendwann einmal Teil dieser Welt gewesen. Eine Gabe und manchmal auch ein Fluch.
Kein menschliches Wesen wusste, dass sie hin und wieder ihr Zimmer verschloss, die Musik lauter drehte und durch den Spiegel irgendwohin sprang, wo sie niemand kannte, niemand störte, niemand aufspüren konnte.
Aber Joshua wusste es. Und wann immer sie in seine dunklen, Stecknadelkopf großen Augen blickte, wusste sie, dass er ihr dunkles Geheimnis kannte. Er wusste es; und er spürte ebenfalls, dass sie es wusste.
Er war die alte Ratte im Zimmer eines Mädchens, das durch Spiegel ging.
Sie näherte sich ihm. Der Rattenmann blickte auf, als würde er verstehen, was ihn nun erwartete. Er blinzelte. Das Licht der Zimmerdecke spiegelte sich in seinen fast pupillenlosen, dunklen Augen. Ein leises Quieken kam aus seiner Kehle, dann stellte er sich auf die Hinterbeine, zog sich am Käfig ein Stück in die Höhe und schnupperte neugierig in ihre Richtung. Von allen Wesen auf der Welt war Joshua das Einzige, das Alex nicht verlieren wollte. Aber er war bereits stolze vier Jahre alt, die Tierärztin hatte vor Kurzem einen Tumor in seinem Bauch diagnostiziert und damit war er am Ende seines Lebens angekommen. Es war ein gutes Leben gewesen, dachte Alex. Ein Leben, in dem er niemals hungern musste, keine Feinde kannte, sich nie verstecken oder fortlaufen musste. Solange sie zurückdenken konnte, hatte diese klein Ratte alles besessen, was sich ein Nagetier nur wünschen konnte. Und doch hing sein Leben nun am seidenen Faden.
Betreten über diesen Gedanken, öffnete das Mädchen den Käfigdeckel, nahm die Ratte heraus und setzte sie auf ihrer rechten Schulter ab. Joshua war zahm und wusste, was nun kommen würde. Seine Tasthärchen um die Nase herum zuckten, während er Alex zum Spiegel gehen sah. Ob er wusste, was ihn dort erwartete? Kannte er die Geheimnisse, die auf der anderen Seite lagen?
In dieser Nacht hatte Alex kaum geschlafen. Das Prasseln des Regens hatte sie wachgehalten, der Sturm am Einschlafen gehindert. Sie wusste, der Tag, der sich dieser Nacht anschließen würde, musste grauenhaft werden, hatte ihrer Mutter einen Zettel auf den Küchentisch gelegt, auf dem stand, dass sie sich miserabel fühlte und zum Arzt gehen wollte, und war zurück in ihr Zimmer geschlichen. Dort hatte sie die Tür verschlossen, ihr Bett gemacht und war zum Schreibtisch gegangen, um ihre Skizze zu zeichnen. Ganz unbewusst. So, wie es meistens geschah.
»Hab keine Angst, Josh«, sagte sie, neigte den Kopf leicht zur Seite, sodass sie aus den Augenwinkeln sein Gesicht sehen konnte, hob einen Finger und streichelte seinen Kopf. Zwischen ihnen herrschte, seit Alex damals in den Tierladen gegangen war, und sich unter all den Ratten dort, diese eine auserwählt hatte, eine besondere Verbindung. Sie verstanden sich ohne Worte, nur mit Gesten und Blicken. Und mehr brauchte Alex oftmals nicht, um sich geborgen zu fühlen. Sie entstammte einem liebevollen Elternhaus, all ihre Verwandten waren freundlich zu ihr, und sie trafen sich oft und lange. Es gab keinen Grund, sich unwohl zu fühlen. Nur die Spiegel standen zwischen ihr und dem Leben.
Als die Ratte vorsichtig auf die Hinterbeine stieg, sich am Finger des Mädchens festklammerte und mühsam versuchte, beide Beine nachzuziehen, wurde Alex klar, dass dieser Sprung etwas Besonderes sein würde. Dies sollte ihr letzter Ausflug werden. Joshuas letzte Reise. »Ich zeige dir etwas ganz Besonderes. Etwas, das noch nie eine Ratte vor dir gesehen hat.«
Der Rattenmann quiekte, als hätte er sie verstanden, krabbelte auf ihre Hand und hielt sich an ihrem Ärmel fest, während sich Alex dem Spiegel näherte. Mit einem tiefen Atemzug positionierte sie sich vor ihm und warf einen flüchtigen Blick auf ihr eigenes, kreidebleiches Abbild. Sie sah müde aus, kränklich. Ihre Haut war blass, unter ihren Augen lagen deutlich verdunkelte Ränder und ihr Blick war nicht klar. Ihre grüngrauen Augen waren stumpf und wirkten, als stoße jeder Blick auf ein unüberwindbares Hindernis. Sie hatte ihr straßenköterblondes Haar, das nur ein wenig über die Schulter reichte, und immer leicht gewellt war, nur schwer bändigen können, und es dann mit einem Haargummi zurückgebunden. Ihr Gesicht war schmal und erschien manchmal etwas kantig, was sie wohl von ihrer Mutter geerbt hatte.
Alex seufzte. Sie konnte sehen, wie sich unter dem enganliegenden grauen Shirt ihre Brust hob und senkte. Sie war von schmaler Statur, fast schon zu dünn. Betreten strich sie eine Strähne hinters Ohr und konzentrierte sich ganz auf den Spiegel. Eigentlich, dachte sie kurz, fand sie sich schön: Ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund. Sie besaß ein schönes, weiches Gesicht, einen offenen Blick und ein Lächeln, das mehr als einmal ihre ganze Umgebung angesteckt hatte. Doch heute wollte einfach keine Freude in ihr aufkommen.
Ihr Blick huschte leicht nach unten. Sie betrachtete Joshuas Spiegelbild und sah, dass er einfach nur eine Ratte war. Nicht mehr und nicht weniger. Nur eine kleine, alte Ratte, und ihr bester Freund. »Halt dich gut fest«, flüsterte sie ihm zu, schloss die Augen, hielt den Atem an und trat mitten in den Spiegel hinein.
Das Durchqueren eines Spiegels glich einem Schritt durch einen eiskalten Wasserfall. In dem kurzen Moment, in dem sie vollkommen im Inneren des Glases verschwand, gab es keine Luft zum Atmen, kein Geräusch, das an ihre Ohren drang. Nicht einmal ihr wilder Herzschlag war zu hören, denn der Raum zwischen zwei Welten war so unendlich, dass keine Mauer ein Geräusch zu ihr zurückwerfen konnte. Sie schwebte durch ein bodenloses Nichts.
Die Augen öffnete sie nicht mehr. Ein einziges Mal hatte sie ausversehen in der Leere zwischen zwei Spiegeln die Lider hochgeschlagen und gesehen, dass dieses riesengroße Reich nur aus Dunkelheit, aus Schatten und Toten bestand, die zwischen ihnen gefangen waren. Danach hatte sie niemals mehr hingesehen und sich geschworen, es auch niemals mehr zu tun.
Auf ihrer Schulter beugte sich die Ratte nach vorne, schlupfte in ihren Ärmel und lugte angespannt aus ihrem Kragen heraus. Sie hatte hingesehen und eine Welt voller Kälte erblickt.
Mit einem Schritt trat Alex auf der anderen Seite des Spiegels heraus. Es dauerte genau zwei Schritte, durch das Glas zu gehen. Einen hinein, einen hinaus. Und doch erschien es ihr jedes Mal wie eine halbe Ewigkeit. Sie atmete aus, atmete ein und schlug die Augenlider hoch.
Vor ihr erstreckte sich eine Wiese. Die Sonne schien, aber nicht grell. Ihr Licht fiel weich auf das taunasse Grün und ließ einzelne Tropfen wie Kristalle auf den Halmen glitzern. Erst beim genaueren Hinsehen bemerkte sie, dass sie diesmal definitiv ihre Welt verlassen hatte.
Hinter einer normalen, strahlenden Sonne barg sich der schwächere Abriss einer Zweiten, weniger Leuchtenderen. Sie sahen aus, als würden sie einander mehrmals am Tag umkreisen und jeweils den Platz der anderen einnehmen.
Aufgeregt ließ sie den Blick schweifen. Die Wiese, auf der sie standen, war von hohen Felsen umrahmt. Es war warm, aber der Wind wehte frisch. Er trug einen Geruch mit sich, den das Mädchen nicht einordnen konnte. Als würde etwas brennen oder schwelen, dich im Himmel zeigte sich weder Rauch, noch Asche. Nur strahlendes, von wenigen Wolken durchzogenes Blau.
Mit einem Blick zurück auf den Spiegel, der in diesem Teil der Welt wie ein Fremdkörper auf der großen Wiese stand, machte sie die zaghaften, ersten Schritte in diese fremde Wirklichkeit. Sie folgte der Reihe von Felsen, die sich seitlich von ihr erstreckten, damit sie sich orientieren konnte, wenn sie den Rückweg finden wollte. Es war einfacher, den Weg zurück an etwas festzumachen, das nicht fortlaufen oder verschwinden konnte. Dies gehörte zu den ersten Lektionen, die das Mädchen auf ihren Ausflügen in Anderswelten hatte lernen müssen. So manches Mal hatte sie schon schwer mit dem Heimweg zu kämpfen gehabt und oft geglaubt, sie würde niemals mehr nach Hause finden. Und je seltsamer und fremder diese Welten für sie waren, desto schwerer fiel es ihr manchmal, Dinge zu bestimmen, die sich nicht bewegen konnten.
Alexandra folgte einer unsichtbaren Spur. Diese Welt übte eine enorme Anziehungskraft auf sie aus. Es gab Welten, die sie reizten, die ihr Herz höher schlagen ließen und jene, aus denen sie nicht schnell genug wieder fliehen konnte. Diese Welt gehörte zur ersten Gruppe. Sie wirkte friedlich. Irgendwo in den Felsen zwitscherten Vögel. Eine Frühlingswelt, die sich harmonisch und zart vor ihr erstreckte.
»Und?«, raunte sie der Ratte zu, sie in ihrem Kragen hockte. »Gefällt es dir? Das ist genau das Richtige für dich, nicht wahr?«
Natürlich wusste sie, dass Joshua ihr nicht antworten würde, und gab sich diese Antwort selbst. Er wirkte aufgeregt, schnupperte neugierig und musterte seine Umgebung mit ungewöhnlich wachen Blicken. Es gefiel ihm vielleicht nicht, aber es hatte sein Interesse geweckt. Seit Jahren sah er oft genug, wie sie dem schnöden Alltag den Rücken kehrte, und war selbst in seinem viel zu kleinen Käfig zurückgeblieben, hatte jeden Tag auf dieselben Wände gestarrt und die gleichen Menschen gesehen. Diesen Ausflug hatte er einfach verdient. Er war ein Abschiedsgeschenk für ein ganz besonderes Geschöpf.
Als sich das Ende der Bergkette links von ihr zeigte, ließ Alex ihre Gedanken zurückschweifen. Als sie damals das erste Mal durch einen Spiegel gegangen war, war sie sieben Jahre alt gewesen und hatte sich zu Tode erschrocken. An diesem Tage war ihr bewusst geworden, dass sie niemals mit den anderen Kindern spielen oder sein konnte, wie die Mädchen an ihrer Schule. Sie hatte einfach aufgehört, sich für Dinge zu interessieren, an denen gewöhnliche Kinder ihres Alters hingen und angefangen, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Seitdem hatte Alex unendlich viele Bücher gelesen, über andere Epochen, andere Kulturen, über Außerirdische und Okkultismus und war mit jedem dieser Bücher inzwischen fest vertraut.
Es war ihr lieber, sich zurückziehen zu können, als irgendwann in Gefahr zu geraten, dass irgendjemand ihr Geheimnis entdeckte. Denn niemand durfte es je erfahren. Sie besaß ein Geheimnis, das sie hüten musste, wie einen Schatz.
Ganz egal, was geschah.
Die Wiese neigte sich dem Ende entgegen und Alex spürte deutlich, dass mit dem Ende der Blumen auch diese Welt eine Wandlung durchlebte. Das Gras hörte einfach auf, wenige hundert Meter vor ihr, tat sich ein Abgrund auf und schien die Welt zu verschlingen. Sie näherte sich der Tiefe und riskierte einen Blick in Schlund. Dort unten war die Welt nicht mehr friedlich, nicht mehr grün und warm. Dort unten herrschte Krieg. In der Ferne sah sie, wie sich der Himmel am Horizont verdunkelte, kein Gras wuchs mehr, und nur karge Felsen stoben der Sonne entgegen. Über das Land im Schlund verteilt loderten unzählige Feuer. Kreaturen lagen herum und es stank urplötzlich nach Tod und Gefahr.
Dies war das Herz der zweisonnigen Welt: eine Ebene, in der niemand mehr lebte und nichts existieren konnte. Ein bodenloses Loch aus vergangenen Tagen.
Mit einem Mal stockte Alex der Atem. Ihr Herz begann zu Pochen wie eine Urwaldtrommel. Es schlug ihr bis zum Hals und drohte, mit aller Macht aus ihrer Brust zu springen. Die Atmosphäre war tödlich. Jeder Blick in die Tiefe offenbarte ihr, dass etwas Grauenvolles an diesem Ort geschehen war. Der Tod beherrschte dieses Land und möglicherweise steckte noch viel mehr dahinter, als ihre einfachen Augen erkennen konnten. So etwas, dachte sie, hatte sie selbst schon einmal gesehen. Es war lange her und sie war noch ein Kind gewesen, aber der Anblick hatte sich tief in ihre Erinnerungen eingebrannt und war von dort nicht mehr zu löschen. Das war der Preis für ein Leben jenseits menschlicher Regeln. Die Dinge, die man nie mehr vergessen konnte.
In diesem Moment sprang Joshua aus ihrem Hemd, hielt sich an ihrer Hose fest und verschwand im Abgrund.
»Nein!«, schrie sie auf, fiel auf die Knie und krabbelte so nah an den Abgrund heran, dass sich ein Stein unter ihren Fingern löste und in die Tiefe rollte. Joshua hing an einem der Felsen. Seine Krallen ermöglichten es ihm, mit dem Kopf voran in die Tiefe zu blicken, ohne abzustürzen.
»Joshua!«, rief das Mädchen und klopfte behutsam auf einen der Steine. »Komm zurück! Sei eine brave Ratte. Komm.. Verflixt!«
Doch der Rattenmann machte keinerlei Anstalten, zu ihr zurückzukehren. Stattdessen warf er einen Blick über die Schulter zurück und begann, immer schneller die Felswand hinabzuklettern, bis er als winziger Punkt vor Alex Augen auf einem Felsvorsprung Schutz suchte. Nervös kauerte er auf einer, aus dem Gestein ragenden Steinplatte, hob die Vorderpfoten an und begann, sich intensiv zu putzen.
›Super!‹, dachte Alex verärgert und schob ihre Beine über den Abgrund. Auf gar keinen Fall würde sie den alten Herren zurücklassen und durch den Spiegel verschwinden. Wie auch? Wie sollte sie ihren Eltern erklären, dass eine Ratte aus einem verschlossenen Käfig entkommen und unauffindbar war? Nein, sie musste in den sauren Apfel beißen und die fünf, vielleicht zehn Meter in die Tiefe klettern, um Joshua zu holen. Andernfalls geriet ihr Geheimnis in Gefahr und noch mehr Aufregung konnte sie sich im Augenblick nicht leisten. Und davon abgesehen, ließ man Freunde nicht im Stich. Auch dann nicht, wenn sie offenbar den Verstand verloren hatten.
Die Wand war steil und doch wie gemacht, zum Hinabsteigen. Einzelne, aus dem Fels ragende Kanten machten es ihr einfach, Halt zu finden. Es war, als fänden ihre Hände und Füße ganz von alleine die Unebenheiten in der Wand, an denen sie sich festklammern konnte. Doch die Angst jagte ihr wie ein Schauer über den Körper. Sie hatte keine Höhenangst und vermied es dennoch, in die Tiefe zu sehen. Schritt für Schritt, arbeitete sie sich in den Krater vor. Ihre Muskeln ächzten und spannten sich unangenehm unter ihrer Haut. Sie trug die falschen Schuhe. Turnschuhe zwar, doch auch die waren nicht für den Abstieg am Felsen geeignet und kosteten sie Zeit, die sie eigentlich nicht hatte. Saß die Ratte noch auf dem kleinen Felsvorsprung oder war sie bereits weiter in den tödlichen Schlund geklettert?
Alex tastete mit ihrem Fuß blind hinunter. Ihre Zehenspitzen fanden Halt, ermöglichten es ihr, mit der rechten Hand loszulassen und dann sah sie die kleine, weiße Ratte auf den Steinen sitzen. Mit großen Augen musterte sie das kluge Tier, als wollte es sie fragen, was sie sich dabei gedacht hatte, dieses Wagnis einzugehen, klammerte sich am Berg fest und hangelte sich die wenigen Meter zu Alex hinüber. Angespannt hob das Mädchen die Hand vom schützenden Grund und wartete, bis sich die Ratte an ihrem Ärmel festgekrallt hatte.
Flink huschte Josh über ihren Arm hinauf bis zu ihrer Schulter und klammerte sich in ihrem Nacken mit den Vorderpfoten in ihre Haare und den Hinterläufen in die grobe Struktur des Pullovers.
»Gut gemacht, Josh.« Mit den Augen rollend richtete Alex den Blick nach oben. Sie war gute zehn Meter in die Tiefe geklettert, ohne sich zu verletzen. Hätte der irre Sportlehrer an ihrer Schule sie hier gesehen, hätte er wohl nicht verstanden, wieso sie in seinem Unterricht meist auf der Bank saß, und die Teamarbeit mit den anderen Jugendlichen verweigerte. Aber für Alex ging es nur alleine. Sie hob die Hand und tastete nach einem Felsvorsprung. Ihre Fingerspitzen schlangen sich um den Stein. Dann löste sie die zweite Hand, tastete hinauf - und fand auf einmal keinen Halt mehr. Ihr war, als griff sie ins Leere oder auch, als hätte der Berg ein seltsames Eigenleben entwickelt, dass es ihr unmöglich machte, wieder hinaufzuklettern. Ihr Blick floh den Berg hinauf.
»Blöder Josh! Dämlicher-« Sie hielt inne, runzelte die Stirn und atmete grollend aus. Wunderbar, sie sprach mit einer Ratte! Wieder einmal. Eigentlich andauernd. Aber plötzlich störte es sie.
Dort, wo eben noch Mut in ihrer Brust gesessen hatte, ballten sich all ihre Gefühle nun zu einem Klumpen Furcht zusammen. Ihre Kräfte reichten nicht mehr weit und sie wusste, wenn sie nicht mehr weiter konnte, würde sie abstürzen. Sie hing hunderte von Metern über dem Grund. Ein Sturz aus dieser Höhe, war nicht nur gefährlich, sondern absolut tödlich. Jetzt zu fallen, bedeutete, zu verlieren. Einen Kampf aufzugeben, der gerade erst begonnen hatte. Und so biss sie die Zähne zusammen und zog mit ihren Füßen nach.
Der raue Fels verspottete sie. Er zerrte ihr Ego hinab, doch anstatt diesem Drängen nachzugeben, fühlte sich Alex von seiner Niedertracht beflügelt. Sie griff nach oben, wieder und wieder. Zog sich, Schritt um Schritt weiter hinauf, während Josh in ihrem Nacken hockte und kämpfte mit allen Sinnen.
Nur noch wenige Meter lagen vor ihr. Vielleicht, drei oder vier Schritte, die ihr alles abverlangten. Sie atmete tief durch, schob zum letzten Mal die Hand hinauf und bekam am oberen Absatz des Felsens ein Büschel Gras zu fassen. Ihre Nägel schlugen sich in den weichen Grund. Sie zog das linke Bein nach und das rechte rutschte vom Gestein. Urplötzlich zog die Angst in ihre Gedanken ein. Sie schrie, versuchte verzweifelt wieder Halt zu finden, und kratzte mit beiden Händen durch den aufgeschwemmten Grund. Vergebens. Ihre Finger rutschten, ihr linker Fuß ächzte auf dem bröckelnden Stein. Sie verlor den Halt und stürzte.
Der Moment, in dem ihre Finger abrutschten und auf einmal nichts mehr da war, was sie greifen konnte, brannte sich für alle Zeiten in ihre Netzhaut ein. Sie sah den Himmel über sich. Die Sonnen schienen, doch ihr Licht fand keinen Weg in den finsteren Abgrund. Dann fiel sie. Tiefer und tiefer.
Ihr Schrei hallte von den Wänden und plötzlich war da gar nichts mehr.
Kein Sturz, kein Schrei, kein Licht, kein Joshua.