In den nächsten zwei Tagen sahen Alex und Eyndor Anders nur zu den Mahlzeiten. Und genau genommen auch nur, weil sich Alex erbarmte, die wenigen Dinge am Herd zu zaubern, die sie von ihren Eltern gelernt hatte. Nachdem Anders in seiner Wut, die meisten Diener und Wachen fortgeschickt hatte, und auch die Köchin gegangen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr eigenes bescheidenes Können unter Beweis zu stellen. Zwei Tage lang tauchte Anders unmittelbar vor den Mahlzeiten auf und war im Anschluss so schnell vom Tisch verschwunden, dass Alex nicht einmal die Zeit bekam, um ihn zu fragen, wie es ihm ging. Und eigentlich brauchte sie es auch nicht mehr, denn man konnte ihm eine gewisse Genesung ansehen. Jedes Mal, wenn sie einander begegneten, sah er ein wenig gesünder aus. Die dunklen Ringe unter seinen Augen verschwanden, sein Gesicht bekam wieder ein wenig Farbe und seine Blicke wurden ruhiger und konzentrierter. Am Abend des zweiten Tages sah er, kaum dass er den Tisch verließ, beinahe wieder wie ein menschliches Wesen aus.
»Warte, bitte!«, rief ihm das Mädchen zu, als er schon fast zur Tür hinaus war.
Er drehte sich im Türrahmen um und kam noch einmal zurück. »Was willst du?«, fragte er kühl und Alex registrierte seufzend, dass von der Vertrautheit, die neulich morgens kurz zwischen ihnen aufgekommen war, nichts mehr zu spüren war.
»Nichts«, entgegnete das Mädchen unsicher. »Ich dachte nur, du wirst uns irgendwann von deinem Plan erzählen. Wir sind bereit dazu.«
»Ja.« Anders nickte. »Aber ich bin es nicht. Hab noch ein wenig Geduld.«
Er machte Anstalten sich abzuwenden, doch Alex stand abrupt auf. »Dann bleib doch etwas und unterhalte dich mit uns.«
Anders Augen huschten zu Eyndor, der hinter Alex saß und ein amüsiertes Lächeln auf den Lippen trug. »Ich würde gerne«, ließ er sie wissen, »aber ich kann nicht.«
»Dann sag mir wenigstens, was du da oben tust. Du lässt dich hier kaum sehen, du erzählst uns nichts und wir sitzen hier und zerbrechen uns den Kopf darüber, wie wir helfen können. Gib uns irgendetwas zu tun. Irgendetwas, damit wir-«
Mit erhobener Hand brachte Anders das Mädchen zum Schweigen. »Gut« entgegnete er und stemmte eine Hand gegen den Türrahmen. »Ich bereite einen Zauber vor, der uns ermöglicht, genau das zu tun, was Darias mit dir gemacht hat.«
»Du willst in einem Traum mit ihm sprechen?«
»Nein«, sagte Anders und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ich gehe hinein und stelle ihn zur Rede. Ich muss wissen, was er plant. Und wenn ich kann, werde ich ihn beobachten und herausfinden, wieso er hier ist, und wer ihn hergebracht hat. Ihr wollt mir helfen? Schön. Für diesen Zauber müssen Vorbereitungen getroffen werden. Ich brauche Wasser, einen Hexenstein und Weidenrinde. Ihr müsst aus diesen Zutaten einen Sud kochen und ziehen lassen. Ihr wärt mir eine große Hilfe, wenn ihr mir den Gang hinaus ersparen könntet. Bis auf die Weidenrinde befindet sich alles in meinem Besitz.«
»Sicher«, sagte Alex. Doch seine Worte lösten Unbehagen in ihr aus. »Aber dieser Plan gefällt mir nicht.«
»Er gefällt mir auch nicht, aber wir haben keine Wahl. Wir können nicht hier herumsitzen und darauf warten, dass Isay oder Darias einen Fehler begehen und wir rechtzeitig davon erfahren.« Mit einem Seufzen kam er in den Speisesaal zurück, trat Alex gegenüber und bettete die rechte Hand auf ihre Schulter. »Und ich kann euch auch nicht mitnehmen. Ich brauche euch hier, denn ich werde meinen Körper zurücklassen müssen und er wird schutzlos und angreifbar sein. Dieser Zauber bringt nicht alles von mir auf die andere Seite. Ich brauche euch hier. Ihr müsst das Schloss bewachen und Augen und Ohren für mich sein, und wenn etwas misslingt, dann müsst ihr den Zauber beenden und mich zurückholen. Ich kann das nicht alleine tun.«
»Dann gehen wir dir Weidenrinde suchen«, versprach das Mädchen. »Und deinen Sud kochen.«
Ein Lächeln ließ Anders Mundwinkel zucken. »Einverstanden. Morgen setzen wir diesen Plan in die Tat um. Gleich nach Sonnenuntergang. Wir haben Vollmond, und ich brauche jede magische Unterstützung, die ich bekommen kann. Und jetzt..«
Alex biss sich auf die Unterlippe. »Jetzt gehst du wieder? Würde es dir so weh tun, ein paar Minuten zu bleiben und uns ein wenig Normalität vorzugaukeln?« Sie schämte sich, wandte den Blick ab. »Dir bedeutet es vielleicht nicht viel, aber uns.«
»Ja.« Anders wandte sich ab, und ihm war anzusehen, dass ihm sein Vorhaben missfiel. »Alex«, setzte er langsam an. »Besser, du gewöhnst dich nicht allzu sehr an meine Gegenwart. Halte dich an Eyndor. Er wird dir ein Freund sein und zu dir stehen. Ich bin eine schlechte Wahl, und niemand weiß, wie diese Schlacht enden wird. Ich bin eine schlechte Wahl, und ich werde dir wehtun und dich verletzen, wenn du dich emotional von mir abhängig machst. Ich habe keine Zeit, um mich um das kleine Herz eines Menschen zu kümmern, während die Welt unter meinen Fingern stirbt und ich machtlos zusehen muss. Besser ist, wir sind keine Freunde. Nicht in diesem Leben.«
»Aber-« Rasch ging Eyndor dazwischen. Er nahm das Mädchen bei der Hand und zog sie fort, und als Alex den Kopf gedreht hatte, war Anders abermals spurlos verschwunden. »Aber..«, fuhr sie fort. »Was meint er nur?«
»Er meint es gut«, versicherte ihr der junge Mann mit einem betretenen Lächeln.
»Er entfernt sich von uns. Er zieht sich zurück, er verleugnet sich.«
»Er tut, was er tun muss. Die meisten Helden haben nicht viele Freunde. Komm jetzt. Du wolltest eine Aufgabe. Jetzt hast du sie.«