Sie musste es gewusst haben. Nicht mit Sicherheit, aber geahnt hatte sie es auf jeden Fall. Kaum, dass Reyndra ihnen offenbart hatte, was sich in der Kiste befand, die Anders mit seinem Leben beschützt und mit all seiner Macht versiegelt und unzugänglich gemacht hatte, war sie sich darüber im Klaren gewesen, dass sie irgendwie gespürt haben musste, was sich in ihrem Inneren befand. Der Spiegel hatte ihr das Geheimnis mitteilen wollen, und obwohl sie zugehört und seine Botschaft aufgenommen hatte, war ihr nicht gleich klar geworden, was es bedeutete. Anders besaß kein Herz. Aus diesem Grund waren ihm Dinge leichtgefallen, die ihn hätten zerreißen sollen. Er war in der Lage gewesen, grausame Taten ganz ohne Reue zu vollbringen und das Leben zahlreicher Kreaturen aufs Spiel zu setzen. Und auch nur, weil er kein Herz besaß, war es ihm möglich gewesen, Isay zu widerstehen und dem Drang, alles für Eyndors Freiheit zu opfern. Nur, weil er ein herzloser Mann war, war es ihm gelungen, so lange durchzuhalten und stark zu bleiben. Und dennoch hatte er auf etwas verzichtet, ohne das ein Leben in Alex Augen keinen Sinn mehr machte. Er hatte der Freude, dem Lachen, der Trauer und dem Glück entsagt, um sich selbst treu zu bleiben. Und im Nachhinein begriff das Mädchen, dass der Schwarze Engel mehr als einmal versucht hatte, ihr seine Situation klarzumachen. Er konnte weder für sie noch für Eyndor etwas empfinden. Er teilte ihren Schmerz und ihre Sorgen nicht, und auch Nuins Schicksal und das Andheras ließen ihn kalt. Aus ihm war eine funktionierende Maschine geworden, die lebte und atmete, aber nicht mehr. Und eben dies war ihm zum Verhängnis geworden. Hatte er nicht selbst mehrfach beteuert, dass das Herz der Welt in der Lage war, ihm die Macht zu verleihen, die er brauchte, um mit Isay fertigzuwerden?
Weshalb hatte er sich selbst dieser Macht beraubt und dafür gesorgt, dass er niemals mehr über sie verfügen konnte? Es wäre doch einfach gewesen, mit ihr darüber zu sprechen, und dem Mädchen den Inhalt der versiegelten Truhe zu offenbaren? Glaubte er, sie hätte ihm den Zugriff auf sein eigenes Herz verwehrt?
Sie ließ den Fuß ins Wasser sinken und betrachtete die kleinen Wellen, die sich um ihren Zeh herum bildeten, größer wurden und in der Weite des Teiches verebbten. War sein Vertrauen in sie letztendlich doch so gering gewesen, dass er um sein Leben fürchtete, wenn er sein verborgenes Wissen mit ihr oder Eyndor teilte?
Gleich nachdem Reyndra ihnen die schaurige Botschaft übermittelt hatte, war Alex Blick zu dem jungen Krieger gewandert, denn insgeheim hatte sie damit gerechnet, dass er möglicherweise vom Inhalt der Truhe wusste, aber auch er war ratlos, entsetzt und erschüttert gewesen. Anders hatte sein Geheimnis bestens gehütet. Möglicherweise wusste nicht einmal Isay, was sich im Inneren der Kiste befand, und mit welcher Waffe Anders ihn letztendlich bezwingen wollte.
Und sie fragte sich wieder und wieder, ob sie ihm inzwischen genug vertrauen konnte, um dann, wenn es nötig war, an seiner Stelle eine Entscheidung zu treffen. Reyndras Worte waren nicht nur eine Offenbarung, sondern auch eine ganz direkte Drohung gewesen. Er versuchte nicht, sie zu überzeugen. Er wusste, dass Anders so lange er lebte, eine Gefahr sein würde. Da sein Herz für keine Seite schlug, und er sowohl ein Wesen des Lichts, als auch der Finsternis war, gab es für ihn keine endgültige Entscheidung. Für ihn existierte nur der Zwiespalt zwischen den beiden Seelen, die sich seinen Körper teilten. Der Engel, der zum Licht gezogen war, und er Dämon, der in den Schatten auf jeden schwachen Augenblick lauerte.
Das Mädchen rief sich in Erinnerung, wie eiskalt der Engel mit ihr und Nuin abgerechnet hatte, wie leicht es ihm gefallen war, sie auszutricksen und mit ihnen zu spielen, und wie wenig Bedeutung ein einzelnes Leben für ihn besaß. Ohne das Wissen, über das sie nun verfügte, waren ihr seine Handlungen nicht immer bewusst geworden. Oftmals hätte sie viel dafür gegeben, einen Blick in seine Seele werfen zu können, um dort sein einzig wahres Wesen ausfindig zu machen. Nun suchte sie nicht mehr danach. Denn sie ahnte, was sie vorfinden würde, musste ihr Angst machen. Anders selbst hatte nie versucht, ein Geheimnis aus seinem Kampf mit der Dunkelheit zu machen. Er hatte nie gelogen und mehr als einmal über sein verlorenes Seelenheil gesprochen, aber erst jetzt machten all seine Versuche für Alex wirklich Sinn. Sie hatte das Offensichtliche nicht glauben wollen, und stand nun mit dem Rücken an der Wand.
Isay hatte ihnen viel mehr genommen, als nur einen Verbündeten und Freund. Er hielt das Schicksal der ganzen Welt in der Hand und wusste vielleicht nicht einmal davon.
Was würde geschehen, wenn er keinen Weg fand, um an den Inhalt der Truhe zu gelangen? Was, wenn er verstand, dass Anders ihm nie gehören würde? Oder schlimmer noch, was wenn es ihm tatsächlich gelänge, Anders vollends in ein Wesen der Finsternis zu wandeln? Anders war stark, aber jede Kreatur war berechenbar. Und jeder Wille konnte gebrochen werden.
Vor allem, wenn man ein dunkles, falsches Herz besaß.
Mit einem Seufzen betrachtete Alex ihr eigenes Spiegelbild. Was sollte sie noch glauben, nachdem sich alles, woran sie hatte festhalten wollen, ganz langsam in Luft auflöste? Erst ihr Elternhaus, dann ihr Weltbild und nun drohte auch Anders für sie in einem Geflecht aus Wirrungen und Unwissenheit zu versinken. Wer war er wirklich? Was war wahr und was nur Illusion gewesen? Weshalb hatte er ihnen die Freiheit geschenkt, wenn er doch wusste, wie viel für ihn auf dem Spiel stand? Erwartete er, dass sie ihn retteten? Hatte er aufgegeben? Nahte sein Untergang?
Sie schnippte mit dem Zeh ins kalte Wasser und spürte, wie ihr die Taubheit den Fuß hinauf kroch. Was erwarteten nun alle von ihr? Musste sie die Entscheidung, ob Anders eines Tages mit seinem Herz vereint sein würde, ganz alleine treffen?
Ein Schatten fiel auf das Wasser. Sie hob den Kopf und sah, wie Eyndors Abbild neben ihr auf der bewegten Oberfläche erschien. »Hier steckst du«, sagte er und setzte sich neben sie. Der Blick seines Spiegel-Ichs berührte das ihre. Er war so ein warmes Wesen, so eine herzliche Kreatur. Wie konnte er all die unausgesprochenen Wahrheiten über Anders ertragen, ohne daran zu zerschellen? »Was bedrückt dich?«
»Aufzuzählen, was mich nicht bedrückt, wäre einfacher«, gab das Mädchen zurück, flüchtete sich jedoch in ein Lächeln und neigte dem Kopf, um ihm selbst ins Gesicht zu blicken. »Hast du denn gar keine Angst, nach dem was Reyndra uns eben erzählt hat? Wie kann man hier noch die richtigen Entscheidungen treffen?«
»Hast du Angst, dass Anders uns verraten wird?«
»Nein«, gab sie zurück und war seltsam überzeugt von dieser Antwort. »Eigentlich nicht. Ich glaube ihm wirklich, dass er all das nur getan hat, um durchhalten zu können. Und ich denke, er wusste, was er verloren hat. Um ihn und seine Überzeugung mache ich mir keine Sorgen.«
»Aber um seine Standhaftigkeit.« Eyndor nickte und ließ seine Gedanken sichtlich in die Ferne schweifen. »Irgendwie«, fuhr er fort, »muss ich es gewusst haben. Oder geahnt. Ich war mir sicher, dass er meinen Verlust nicht bewältigen konnte, ohne eine Dummheit zu begehen. Und als ich zurückkam, und ihn so verändert und kalt vorfand, dachte ich, er wäre bloß böse mit mir. Aber insgeheim habe ich geahnt, dass mehr dahinter steckt. Und spätestens, als er das erste Mal Magie gegen mich anwandte, hätte ich wissen müssen, dass der Mann, den ich von früher kannte, zu so etwas nicht in der Lage gewesen wäre. Deshalb ist es irgendwie meine Schuld. Ich hätte erkennen müssen, dass etwas nicht mehr stimmte.«
»Und ich habe es erkannt, und mir eingeredet, dass ich mich irren muss.«
»Wir alle haben Fehler gemacht.«
»Und jetzt kostet sie uns alles.« Alex fühlte, wie ihre Trauer wuchs. Irgendwann, ohne dass sie es wirklich mitbekommen hatte, war Anders ihr Freund geworden. Nun war er fort. Und sie trug eine Teilschuld, weil sie sich selbst nicht treu gewesen war. »Anders wird nicht nachgeben. Also wird Isay früher oder später den Zauber auf der Truhe brechen, oder das Engelsschwert nehmen und sich seines lästigen Widersachers entledigen müssen. Und wir sind schuld daran.«
»Ich denke, ich muss dir etwas über die gemeinsame Vergangenheit von Anders und Isay erzählen.« Ohne Vorwarnung rutschte der Krieger näher an das Mädchen heran, schlang seinen Arm um ihre Schulter und zog Alex Kopf an seine Schulter. »Anders war nicht immer der Mann, der er heute ist. Es gab eine Zeit, in der er und Isay gleichauf waren. Anders hat seine Frau verloren. Er spricht nicht von ihr, aber ich weiß, dass ihr Tod einen Haufen Dämonen in ihm entfesselt hat. Es war schwer für ihn, und er war allein. In dieser Zeit traf er auf Isay und ich weiß, er glaubte, seine Finsternis würde ihn befreien. Er ließ sich gehen und dachte, der Schmerz ginge irgendwann vorüber. Er entsagte seinen Gefühlen und drängte seine Seele zurück in die Schatten. Er hat mir mal gesagt, dass er frei sein wollte. Nicht mehr und nicht weniger. Aber Isays Nähe hat ihn nicht befreit. Sie trieb ihn in einen Konflikt mit seinen Gefühlen, aus dem es letztendlich nur einen Ausweg gab: Er musste Isay entkommen. Seit ihrer allerersten Begegnung ist Isay alledem verfallen, was Anders ausmacht. Er hat sich dem Schwur verschrieben, alles dafür zu tun, um die alten Zeiten zurückzuholen. Denn für Isay steht fest, dass Anders damals einen Fehler begangen hat. Bis heute. Weshalb denkst du, hat er sich die Mühe gemacht, Anders im Schlaf zu fangen? Er besitzt ausreichend Männer und Magier, um ihn offen anzugreifen. Aber er wollte nicht riskieren, dass Anders verletzt oder getötet wird. Er will ihn lebend, und er will ihn zurück. Ich denke, insgeheim wünscht er sich, eine alte Freundschaft aufleben lassen zu können.«
»Denkst du, er wird nicht versuchen, ihm etwas antun?«
»Ich bin sicher, er wird um jeden Preis versuchen, genau das zu verhindern. Anders ist sein Schlüssel zum Herzen Andheras. Er ist sein Bindeglied zu dieser Welt und Isay weiß, tötet er ihn, verliert er sein Zuhause. Was nützt ihm eine Welt, die in Schutt und Asche liegt? Du bist dir nicht im Klaren darüber, wie sehr Anders mit dieser Welt verwurzelt ist. Aber Isay weiß es. Er weiß, dass er mit seinem Tod alles verlieren wird. Aus diesem Grund wird er alles daran setzen, ihn unversehrt zu halten, solange er kann.«
»Dann gewinnen wir Zeit«, schlussfolgerte Alex. Sie schloss die Augen und schmiegte sich an die Schulter des Kriegers, als wäre sie das letzte Bindeglied auf der Welt, zwischen ihr und allem, was richtig war. Sie hielt den Atem an und wusste plötzlich, dass sie dabei war, sich in einen Mann zu verlieben, dessen Herz nur einer einzigen Aufgabe folgte - für einen Kampf zu leben, der eigentlich seiner war. Und wenn Anders schon kein Herz besaß, und Eyndors dem Kampf gehörte, durfte sie ihres nicht auch noch verlieren. Sie spielte mit dem Feuer und wusste um die Gefahr. Und dennoch war sie nicht in der Lage, sich von Eyndor zu lösen. »Hast du denn gar keine Angst?«
»Das sieht nur so aus«, erklärte er ihr. »Innerlich sterbe ich vor Sorge. Ich glaube Reyndra jedes Wort, aber seine Zuversicht fehlt mir. Und ich bin wütend auf Anders, weil er versucht hat, diesen Weg alleine zu gehen. Er hätte es mir sagen müssen. Aber sein Vertrauen in mich ist zu sehr erschüttert.«
Alex schlug die Lider hoch und sah aus den Augenwinkeln, wie der Krieger den Kopf hängen ließ. Dies war der Moment, in dem sie gezwungen war, alle Brücken einstürzen zu lassen. Jetzt mussten sie einander vertrauen, und das bedeutete, keine Geheimnisse mehr voreinander zu haben. »In der Nacht, bevor ich diesen Traum hatte, habe ich ihn in seinem Gemach aufgesucht, und ein Gespräch belauscht. Als ich ihn damit konfrontierte, sagte er nicht viel, außer, dass eine Göttin bei ihm war.« Eyndor schaute sie an. Seine Stirn legte sich in Falten und er musterte sie hart und vorwurfsvoll. »Ich hätte dir alles sagen sollen, aber Anders bat mich, es nicht zu tun. Aber jetzt denke ich, wir können es uns nicht leisten, gegeneinander zu arbeiten.«
»Was hast du gehört?«
»Nicht viel, aber ich habe ihn damit konfrontiert, dass ich etwas gehört habe, und er war zum ersten Mal ehrlich zu mir. Anders hat damals, als seine Geliebte starb, einen Schwur geleistet, und damit einen Zauber gewirkt, der für das Zerbrechen Andheras verantwortlich ist. Er hat selbst dafür gesorgt, dass diese Welt untergeht, dass Schattenwesen freigelassen wurden und das Böse zurückgekehrt ist. Es ist nicht deine Schuld, und sein Vertrauen in dich ist unerschütterlich. Es war von jeher seine eigene Schuld. Du wurdest nur in einen Kampf verwickelt, der dich nichts angeht. Du bist alles für ihn. Nur deshalb tut er, was er tut. Nur deshalb hält er durch, obwohl es einfach wäre, aufzugeben. Nur für dich. Das war schon immer so.« Sie versuchte, ihm aufmunternd zuzulächeln, aber ihre Zuversicht war erschüttert. »Er hat sein Vertrauen in dich nie verloren, und er wird immer an dir festhalten. Du warst ihm stets das Wichtigste, und er würde für dich diesen elenden Kampf niederlegen. Aber ihr bringt euch gegenseitig in Gefahr, weil ihr nicht loslassen könnt. Du bringst ihn in Gefahr, weil du ihn vor etwas schützen willst, mit dem nur er allein fertigwerden kann. Und er beschützt dich mit allem, was er hat.«
»Hätte er mich in seine verrückten Pläne eingeweiht, hätte ich helfen können.«
»Nein, das hättest du nicht! Tief in deinem Herzen bist du genau wie er. Ihr seid stur und selbstverliebt, und jeder von euch will die Schuld des Anderen auf sich laden, um dessen Leiden zu lindern. Ihr müsst endlich aufhören, euch gegenseitig schützen zu wollen, und alles riskieren. Selbst wenn ihr einander verliert, ist dies der Zeitpunkt, um sich darüber klar zu werden, dass ihr nur dann weiterkommt, wenn einer von euch den Mut hat, diesen Kreislauf zu durchbrechen.« Sie atmete tief durch. »Ich denke, wir müssen Anders befreien und uns mit dem Gedanken anfreunden, dass ich ihm sein Herz zurückgeben werde. Wenn es der einzige Weg ist, Isay zu besiegen, wird er es tun müssen. Und wenn er fällt, werden wir da sein, um ihn aufzufangen.«
»Und welche Rolle spiele ich dabei?«
»Du musst loslassen, und dich mit dem Gedanken abfinden, dass du nicht alle Schuld an seinem Handeln trägst. Er hat dich nicht gefragt, als er deinen Platz einnahm, und auch nicht, als er sein Herz verschwinden ließ. Er hat dich nicht gefragt, weil du nichts hättest tun können, um es zu verhindern. Und wir werden ihn befreien, ohne ihn zu fragen, ob er es will. Und dann werden wir zusehen, wie er Isay in den Hintern tritt, und uns alle rettet. Selbst wenn er danach ein Anderer ist.«
»Du meinst, ich soll vergessen, dass ich ihm mein ganzes Leben schulde und ihn allein in die Schlacht ziehen lassen? Was wäre ich für ein Freund, wenn ich es könnte?«
»Einer, der ihm vielleicht das Leben rettet.« Alex suchte nach seinen Fingern und drückte sie mit ihrer Hand. »Überleg doch mal.. Wenn er nicht versucht hätte, deines zu retten, wäre es nie so weit gekommen. Der einzige Grund, aus dem Anders Isay nicht längst bezwungen hat, ist seine eigene Zerrissenheit. Er stand sich selbst im Weg. Immer. Und wärst du an seiner Stelle gewesen, ohne jede Bindung zu Isay, wäre es dir vielleicht leichter gefallen, den letzten Schritt zu gehen.«
Eyndor schaute sie an, als hätte er ihre letzten Worte wie im Traum wahrgenommen. »Du hast recht. Hätte er mich meinem Schicksal überlassen, wäre mir Isay gleich gewesen. Ich hätte ihm ohne Reue nach dem Leben trachten können. Dann wäre ich weder gefangen genommen worden, noch würde Anders jetzt im Kerker sitzen.«
»Und den Rückhalt der Götter hätte er auch. Sie haben sich von ihm abgewandt, als er ihren Plan durchkreuzte und mit dir getauscht hat. Und genau das ist euer großes Problem. Ihr wollt euch gegenseitig vor der Welt beschützen, anstatt euch zusammenzutun und gemeinsam zu kämpfen.«
»Für dein Alter bist du erstaunlich weise«, raunte ihr der Krieger freundlich zu. »Wärst du nur eher in unser Leben getreten. Und was, kluges Mädchen, tun wir jetzt? Wir stehen mit dem Rücken an der Wand. Isay hat alles. Er hat das Herz in einer verschlossenen Truhe. Völlig unzugänglich für Anders, solange du nicht bei ihm bist. Er hat Anders und das Schwert. Und selbst wenn er ihm nichts antun wird, kommen wir ohne unseren Freund im Augenblick nicht weiter. Weder du noch ich können Isay aufhalten, und ich fürchte, er ist auch nicht allein. Darias steht ihm zur Seite. Also? Was schlägst du vor?«
»Ich verstehe nicht ganz, was Isay bezweckt. Er hatte zehn Jahre Zeit, um die Truhe zu öffnen. Wenn Reyndra recht hat, und das seine Absicht ist, wieso hat er es nicht längst getan?«
»Vielleicht hat sich etwas verändert, ohne dass wir es gemerkt haben. Oder er hat den Plan geändert, als er ins Schloss kam und wir ihm Anders auf einem Silbertablett serviert haben.« Seine Stirn zig Falten. Er war wütend und Alex konnte es in seinen Augen sehen. »Vielleicht hatte er nie vor, mehr zu tun, als die Kiste wieder in seinen Besitz zu bringen.«
»Und dann bot sich ihm die einmalige Gelegenheit, alles in seinen Besitz zu bringen«, murmelte das Mädchen. »Denkst du, Reyndra hat Recht? Ist Anders Herz so gefährlich?« Sie dachte zurück an den Mann, der vor zehn Jahren an ihrem Bett saß, und rief sich in Erinnerung, wie kränklich und entkräftet er auf sie gewirkt hatte. Hatte sie damals das Resultat eines Mannes kennengelernt, der mehr und mehr seinen Dämonen verfiel und sich zu einer folgenschweren Entscheidung gezwungen sah? Hatte er damals noch ein Herz besessen? »Ein unentschlossenes Herz ist eine gefährliche Waffe«, wiederholte sie murmelnd die Worte des Kriegers. »Glaubst du, es stimmt? Kann ein Herz eine Entscheidung treffen, ob es hell oder dunkel sein will?«
»Ich denke, Isay wird versuchen, genau das herauszufinden. Er hat Anders und die Truhe. Und auch wenn er sein Ziel nicht erreicht, besitzt er mit dem Engelsschwert eine unsagbar gefährliche Waffe.«
»Wäre er in der Lage, es zu führen?«
Eyndor zuckte die Achseln, doch zuversichtlich wirkte er nicht. »Ich weiß es nicht. Möglich. Anders sagt, es erfordert Kraft und Willensstärke. Es macht seinen Träger schwach. Wenn es Isay gelingt, den Preis zu zahlen, den das Schwert fordert, besteht die Möglichkeit, dass er es gegen uns einsetzen kann.«
Und das bedeutete, er besaß vielleicht die Macht, Anders nicht nur zu schaden, sondern ihn auch zu töten. Eine kleine Wunde, die zum Tode führte. Unwiderruflich.
Ein dunkler Schatten legte sich auf die Gedanken des Mädchens und genau im rechten Augenblick kam Eyndors Hand aus dem Nichts, um sich auf ihre Schulter zu betten.
»Mach dir keine Sorgen. Auch ohne magische Waffe ist Anders der bessere Kämpfer. Er wird sich etwas einfallen lassen. Das Schwert ist im Augenblick unsere kleinste Sorge. Allerdings geht mir diese Sache mit dem unentschlossenen Herzen nicht aus dem Kopf. Wenn Anders damals so überzeugt davon war, dass er sich seines Herzens entledigen muss, um stark zu sein, hatte er selbst Angst davor.«
Und diese Erkenntnis ließ auch Alex straucheln. Er und Anders kannten einander lange genug, um zu wissen, wie kompromisslos sie waren. Und wenn es Eyndor so schwer fiel, seinem Freund diesmal zu vertrauen, dann war ihre Lage ernst.
»Du glaubst, er hat nicht die Kraft, zu widerstehen?« Ein Wesen mit Anders Kraft, ohne Gewissen und verblendet von unverdauten Gefühlen, war für das Mädchen kaum vorstellbar. War es möglich, dass man Gefühle nachempfinden konnte, die man innerhalb eines Jahrzehnts erlebt und einfach ignoriert hatte, weil man dessen mächtig war? War es möglich, von ihnen überrannt zu werden, wenn sie wie eine Welle alle gleichzeitig über einen herfielen? Konnte Anders etwas so Schreckliches widerfahren? Und was würde das aus ihm machen? Ein Monster? Das Ungeheuer, das er selbst in sich sah?
»Ich weiß, dass er so denken muss. Und ich habe gelernt, ihm in diesen Dingen zu vertrauen.«
Und Alex wusste, dass sie insgeheim ebenso dachte. All die Male, die sie geglaubt hatte, sich in dem Kerub getäuscht zu haben, war sie eines besseren belehrt worden. In Wahrheit hatte er ihr nach ihren anfänglichen Schwierigkeiten miteinander niemals mehr Grund dazugegeben, ihm nicht zu vertrauen. Anders war das besonnenste Wesen unter den Sonnen Andheras, und wenn er selbst in Sorge war, dann bedeutete das etwas. Etwas Schlechtes.
»Hast du ihn schon einmal so erlebt?«, fragte sie vorsichtig. »Ich meine, ehe er sein Herz und seine Gefühle verloren hat?«
»Seit ich ihn kenne, hatte er viele Phasen, in denen das Dunkle, wie er es nennt, mehr oder weniger Einfluss auf ihn hatte. Ich habe gesehen, wie er ein Schlachtfeld mit seiner bloßen Anwesenheit erschüttern konnte. Ich war Zeuge, wie er, an einem seiner schlechteren Tage den knöchernen Wald erschuf. Einfach so. Nur durch seine Gedanken. Alle Bäume verloren ihre Blätter, die Erde wurde trocken und nichts wuchs dort mehr.« Achselzuckend schaute sie der Krieger an. »Ich schätze, all das habe ich irgendwann als Teil seines Wesens akzeptiert. Dass er zwei verschiedene Seelen in sich trägt, die einander nur ab und an dulden, habe ich insgeheim wohl immer gewusst. Aber ich war so naiv zu glauben, dass es mit der Zeit besser wird. Ich war damals jung und naiv und dachte, ich könnte seinen Fluch irgendwann mit meiner Hoffnung und meiner Zuversicht ausgleichen.«
»Das ist nicht naiv«, murmelte Alex. »Solches Denken zeugt von Größe. Du wolltest einem Freund helfen, auf deinem eigenen Weg.«
»Und heute schäme ich mich furchtbar dafür, so schnell von diesem Pfad abgekommen zu sein.« Er schüttelte den Kopf und schien mit einem Mal sehr unzufrieden mit sich zu sein. »Schließlich habe ich durch meine Unachtsamkeit den Stein irgendwie erst ins Rollen gebracht. Wäre ich nicht gegangen, wäre Anders nie erpressbar geworden und hätte vielleicht irgendwann wirklich lernen können, den Dämon zu zügeln. Heute ist seine Chance geringer denn je und wir bekommen es vielleicht mit der ganzen Härte des Dämons zu tun, den ich durch eine Unachtsamkeit heraufbeschworen habe.«
Alex seufzte. »Aber das hast du nicht«, versuchte sie dem Krieger Mut zuzusprechen. »Du hast es gut gemeint mit ihm. Immer, soweit ich weiß. Was geschehen ist, war ein Unfall und Anders weiß das. Was denkst du, weshalb er uns gerettet hat? Er hat dich gerettet, weil er dich liebt, ganz gleich, ob du Fehler gemacht hast und mich, weil er wollte, dass ich dich in Sicherheit bringen kann. Wenn du mich fragst, hat er dir deinen Fehltritt schon lange verziehen.« Sie lächelte und besann sich dann auf die vorangegangenen Worte des jungen Mannes. »Du hast gesehen, wie er mit Hilfe seiner Gedanken einen Wald ausgetrocknet hat?«
»Er zeigt sie nicht oft, aber der Spiegelzauber ist nicht einzige magische Kraft, über die er verfügt. Anders kann erstaunliche Dinge tun. Rette ihn mit mir, und er wird sie dir zeigen.«
»Versprochen?«
Eyndor nickte. Ein Lächeln wollte seine Lippen passieren. Das allein zeugte schon ein wenig davon, dass es ihm nach diesem Gespräch besser zu gehen schien. »Versprochen. Und jetzt lass uns überlegen, was wir tun können.«
»Wir spielen also auf Zeit«, vermutete das Mädchen. »Wie können wir Anders Zeit verschaffen? Und uns?«
Alex lächelte hoffnungsvoll. Eyndor schien plötzlich Feuer und Flamme für eine Idee zu sein, die das Mädchen in seinem Blick aufleben sehen konnte. »Komm«, sagte er schnell. »Wir dürfen nicht aufgeben! Und vielleicht habe ich eine Idee.«