Alex stieg auf. Ihre Finger fuhren durch das weiche Fell des Greifen, bis an seinem Hals die Federn einsetzten. Weich kitzelten sie ihre Handfläche und fühlten sich warm und seidig an. Angespannt und mit wild klopfendem Herzen krallte das Mädchen seine Finger in die Federn und wartete, ob Nuin etwas sagen oder tun würde, doch offenbar zog und zerrte sie nicht annähernd so sehr an ihm, wie sie angenommen hatte. Ihr Herz vollführte indessen Luftsprünge in ihrer Brust. Nur noch wenige Augenblicke, und sie hob zum ersten Mal vom Boden ab. Zum ersten Mal in diesem Leben würde sie den Boden unter den Füßen verlieren. Sie war nervös und aufgeregt, und wäre es nicht Nuin gewesen, auf dem sie saß, sondern ein anderes, fliegendes Ungeheuer, wäre sie möglicherweise in Panik ausgebrochen. Doch Nuins ruhiges Wesen, seine gelassene Art und die Ausdauer, mit der er ihr entgegenkam, beruhigten sie ein wenig.
»Geht es dir gut?«, fragte er so plötzlich, dass sich das Mädchen zum ersten Mal fragte, ob er vielleicht Gedanken lesen konnte.
»Etwas aufgeregt«, gestand sie, senkte den Kopf und schaute nach Joshua. Die Ratte hatte sich endgültig in ihr Oberteil verkeilt. Sein Kopf schaute nicht mehr heraus, und seine Atmung war ruhiger geworden, als würde er schlafen. »Aber ich glaube, ich bin bereit. Was jetzt?«
»Halt dich fest. Sehr fest. Dort oben geht ein wenig mehr Wind, als hier. Wenn er dir ins Gesicht peitscht, duck dich in mein Fell und versuch dich zu entspannen. Das wird alles leichter machen. Und vielleicht kannst du es sogar genießen.«
Ohne größere Vorwarnungen setzte sich der Greif in Bewegung. Obwohl er groß und schwerfällig aussah, trommelten seine Pranken so weich über den Grund wie Katzenpfoten. Sie stampften eine sanfte, beruhigende Melodie in den Boden und dann war es plötzlich vorüber. Der Übergang zwischen Laufen und Fliegen geschah so gleitend und sanft, dass Alex nichts davon mitbekam. Erst, als ihr bewusst wurde, dass sich seine goldenen Schwingen rechts und links neben ihr aufgespreizt hatten und sich sacht hinauf- und hinabbewegten, wusste sie mit Sicherheit, dass sie flogen.
Der Wind strömte ihr sanft entgegen. Anders, als Nuin ihr prophezeit hatte, war er eher wie ein Streicheln. Er blies ihr die Haare aus dem Gesicht und kühlte den Schweiß, der sich auf ihrer Stirn gesammelt hatte.
Für einen Augenblick stoppte ihr Herzschlag. Dann setzte das sanfte Pochen wieder ein. Zwar schneller als gewöhnlich, aber dennoch nur halb so panisch, wie sie angenommen hatte. Sie schlug die Lider hoch, atmete mehrmals tief durch und neigte sich zur Seite, um vorbei an Nuins Schwingen, einen Blick in die Tiefe werfen zu können. Sie waren noch nicht sehr hoch gekommen. Die knochigen Bäume zeichneten sich deutlich unter ihnen ab, wie Skelettfinger, die nach ihnen ausgestreckt waren. Als Alex aufsah bemerkte sie, dass die zwei Sonnen, die Andhera regierten, in gerader Linie standen, sodass augenblicklich nur eine von ihnen zu sehen war.
»Gibt es auch zwei Monde hier?«, rief sie dem Greifen zu und neigte sich vor, um seinen Ohren näher zu sein. Doch selbst jetzt fraß der Wind den Großteil ihrer Worte auf.
»Nein«, antwortete Nuin mit erhobener Stimme. »Nur einen. Gibt es in deiner Welt etwa zwei Monde, Menschenkind?«
Alex verschwieg ihm, was immer sie über Monde, Planeten und Sterne wusste und schüttelte stattdessen den Kopf. »Nur einen. Was bedeutet das?«
»Es bedeutet gar nichts«, entgegnete der Greif beiläufig. »Kannst du dich erinnern, wo du heruntergefallen bist?«
Die Blicke des Mädchens glitten in die Höhe. Hoch über den Gipfeln blattloser Knochenbäume ragten Felswände in die Höhe. Kahler, toter Stein erstreckte sich, so weit das Mädchen sehen konnte. Sie tastete mit den Augen die abgesplitterten Felsvorsprünge ab. »Der Spiegel steht oberhalb der Klippen auf einer Blumenwiese«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, wo ich heruntergefallen bin. Aber wir müssen nach oben.« Und dort sollte es eigentlich ein Kinderspiel sein, auf einer einfachen Wiese einen großen Spiegel ausfindig zu machen. »Es ging alles so schnell.«
»Ich wollte dich nicht daran erinnern«, sagte Nuin. »In Ordnung. Ich bringe dich hoch und du sagst mir, wo ich dich absetzen soll.«
Falls der Spiegel auf sie gewartet hatte. Alex ließ den Blick schweifen. Das Land, das sich vor ihr auftat war groß und weit und schien so sanft und unberührt zu sein, dass sie sich kaum vorstellen konnte, wie ein Krieg hier tobte. Und doch waren die Anzeichen da. In sehr weiter Ferne war der Himmel dunkel. Schwere, schwarze Wolken hingen über einem Teil des Landes, den das Mädchen nicht betreten wollte. Und nirgends waren Vögel zu hören. Nirgendwo sah sie einen Hasen laufen oder hörte Stimmen. Das Land war ausgestorben. Es lebte, aber es lebte in Furcht und Sorge. Nuins Worte hatten ihr den Zustand dieser Welt klar aufgezeigt. Sie wiegte sich in trügerischer Sicherheit, obwohl jedermann wusste, dass dieser Krieg Opfer fordern würde. Und jene, die sich geopfert hatten, fehlten nun an den richtigen Stellen, um die Schäden zu beheben, die der Krieg hinterlassen hatte.
»Kannst du noch ein Stückchen höher?«
Mit einem Nicken schraubte sich der Greif mehr und mehr den Wolken entgegen. Er schoss wie ein Goldpfeil an den Klippen vorüber und über ihnen hinaus. Seine Schwingen spreizten sich zu voller Größer und warfen einen großen, unförmigen Schatten auf die Blumenwiese. Doch die Blumen waren verschwunden, und das Gras hatte sich in Asche verwandelt. Die stolze Schönheit dieses sanften Ortes war in Schall und Rauch aufgegangen und dort, wo sich noch vor wenigen Stunden Knospen der Sonne entgegen gereckt hatten, kräuselten sich nun die letzten feinen Rauchfäden und trugen das erloschene Leben der Wiese in den Himmel hinauf.
Alex konnte ihren Augen kaum trauen. Mit einem Satz zog sich ihr Magen zu einem Klumpen zusammen. Der Enthusiasmus, den ihr erster Flug in ihren Gedanken hinterlassen hatte, verpuffte schlagartig. All ihre Gedanken wurden von einer Welle Frust und Trostlosigkeit eingeschlossen und unter ihr begraben.
»Nuin, was-«
In diesem Augenblick fiel ihr Blick auf den großen Spiegel. Das Sonnenlicht stürzte auf seine glatte Oberfläche und warf einen Widerhall auf die ausgebrannte Graslandschaft. Doch sie bekam keine Gelegenheit dazu, in Jubelstürme auszubrechen. Denn dort, wo der Spiegel seinen Schatten auf das tote Land warf, war ein Krieg entbrannt. Eine Kreatur, so schwarz wie der Tod, lang und dürr wie eine Gottesanbeterin und hager wie ein hungriges Raubtier, kämpfte dort, nur wenige Meter entfernt mir einem Mann, der sich mit bloßen Händen und einem Schwert zu verteidigen versuchte.
Der Krieger war groß. Er trug einen Umhang mit weiten Ärmeln, die es ihm ermöglichten, zu kämpfen, ohne mit dem Schwert in den vielen Falten seiner Kleider hängen zu bleiben. Unter dem Umhang lugte die Kleidung eines Mannes hervor, der mehr Zeit auf dem Schlachtfeld verbracht hatte, als an einem anderen Ort. Er trug eine Rüstung aus schwarzem Stahl, einen Brustharnisch, Schoner an Knien und Handschuhe aus dunklem Leder. Sein Haar reichte ihm bis zur Mitte seines Rückens, war dick, rabenschwarz und zu einem zerzausten Zopf geflochten. Seine Statur war unter all den Kleidern schwer auszumachen, doch Alex ging davon aus, dass sich Muskeln unter seinem Umhang verbargen. Er war groß, doch die Kreatur, die ihm gegenüberstand, war um ein Vielfaches größer. Sein oval geschnittenes Gesicht war mit einer Mischung aus Ruß, Schweiß und Blut verklebt und als Nuins Schatten über die Wiesen fiel, hob er für einen Augenblick den Kopf, um aufzusehen. Der Blick seiner bernsteinfarbenen Feueraugen berührte Alex und durchstach sie heftiger, als sein Schwert es gekonnt hätte. Und dann geschah es.
Dieser kleine Moment der Unachtsamkeit gestattete es der Kreatur, sich auf ihn zu stürzen. Zwei zu Klauen geformte Pranken, mit schier unendlich langen Fingern, schossen auf ihn zu und durchstachen mit einem widerlich schleifenden Geräusch seinen Brustpanzer, als bestünde er nur aus Papier.
Ein Schrei löste sich von Alex Lippen und zog gänzlich die Aufmerksamkeit des Monsters auf sich. Doch alles, wofür sie Augen hatte, war der schockstarre Blick des Kriegers, noch immer fest in den ihren gebrannt. In seinen funkelnden Augen erlosch mit einem Schlag jedes Licht. Jeder Hauch von Leben, von Verständnis und Hoffnung, ging darin verloren. Und als das Monster den Kopf wandte, zu Nuin aufsah und ruckartig seine Klauen aus dem Leib des Mannes zurückriss, taumelte er wie ein Stein nach hinten, fiel auf die gepanzerten Knie herab und beugte sich vor. Wie im Zeitraffer sah Alex, wie seine Hände zu den Löchern in seiner Rüstung wanderten, sich auf die darunter liegenden Wunden legten und zu Beben begannen. Im nächsten Augenblick brach ihr Blickkontakt.
Mit einem wilden Knurren hatte sich das Monster von seinem bezwungenen Gegner abgewandt, war herumgefahren und hatte die tödlichen Klauen erhoben, um nach dem Greifen zu schlagen, der über seinem Kopf hinwegrauschte.
»Alex!«, hörte sie Nuins Stimme das Pochen ihres Blutes im Inneren ihrer Ohren übertönen. »Halt dich fest, ich-«
Er verlor so schnell an Höhe, dass es dem Mädchen den Boden unter den Füßen fortriss. Sie schrie auf, schloss die Augen und drohte für einen Sekundenbruchteil zu vergessen, dass sie eben gerade gesehen hatte, wie dieses Untier einen Mann mit bloßen Händen tödlich verwundet hatte. Hastig presste sie ihr Gesicht tief in das Gefieder ihres Beschützers und hoffte inständig, dass ihre zitternden Finger in der Lage sein würden, sie lange genug festzuhalten.
Das Geschöpf, das nun direkt unter ihnen stand, war zwei, vielleicht auch drei Meter groß, unnatürlich dürr und sein ganzer Leib war mit einer reflektierenden, rabenschwarzen Haut überspannt, die wie Latex aussah und das Sonnenlicht reflektierte. Dort, wo das Wesen ein Gesicht hätte haben sollen, lagen leere Höhlen. Zwei blutrote Murmeln, in denen sich keine sichtbare Pupille befand, waren seine Augen. In ihrem Zentrum sah Alex mehr als deutlich, wie das Wesen sie anfixierte und zu seinen nächsten Opfern auserkoren hatte. Nuin drehte ab, was Alex ermöglichte, noch einmal einen Blick auf den schwer verwundeten Krieger zu werfen. Auf allem Vieren kauernd kämpfte er nicht nur mit der Ohnmacht, sondern mit dem Tod. Sein Blick glitt kein weiteres Mal in die Höhe, denn er wusste, niemand konnte ihn mehr retten. Er glitt zu dem Spiegel hinüber. Und dann sammelte er ein letztes Mal all seine verbliebenen Kräfte, um sich auf die Füße hochzukämpfen. Blut rann ihm das Hosenbein hinab und tropfte bei jedem langsamen Schritt von seinen Stiefeln. Er bückte sich nach dem Schwert, das ihm aus den Fingern gefallen war, hob das Haupt und vergewisserte sich, dass das Untier noch immer so mit den fliegenden Eindringlingen beschäftigt war, dass es keinerlei Notiz von ihm nahm. Mit zwei Schritten hatte er den Spiegel erreicht, die Arme mit dem Schwert bis zum Anschlag erhoben.
»Nein!«, schrie Alex aus, doch die Klinge sauste nieder, berührte die spiegelnde Oberfläche ihres einzigen Heimwegs und tausend Scherben stürzten in allen Regenbogenfarben auf die Wiese hinab. Ein Meer aus Glas, Licht und Farben ergoss sich über ihn.
Das Schwert fiel ihm erneut aus den Fingern, und er bückte sich kein zweites Mal danach.
Nuin brüllte zornig auf. Er fuhr in der Luft herum, schraubte sich höher und offenbarte Alex mit einem Schlag all die Macht, die ihm innewohnte. Aus seinen Pfoten schossen Krallen hervor. Wie ein Pfeil sauste er herab. Seine Klauen berührten das Monster und dieses stieß ein tiefes, grollendes Brüllen aus. Blut quoll aus einer Wunde hervor, die ihm Nuin an der Kehle zugefügt hatte.
»Nuin..!«, sagte das Mädchen, doch der Greif fauchte lediglich: »Festhalten!«, und startete einen zweiten Angriff auf das Monster. Wieder stachen seine Klauen mühelos durch das weiche Fleisch des Ungeheuers.
Vor den Augen des Mädchens fiel der verwundete Krieger erneut auf die Knie, konnte sich dort für einen Augenblick noch halten, ehe er zur Seite kippte und reglos liegenblieb. Und in diesem Moment keimte ein Gedanke im Kopf des Mädchens auf. Eine alte Erinnerung machte sich breit und ihr Gedächtnis rief ihr noch einmal seine strahlenden Bernsteinaugen in Erinnerung.
Angespannt sog sie Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch ein. Sie kannte diesen Krieger.
»Nuin!«, rief sie aus. »Was ist das für ein Wesen?«
»Ein Schattenkrieger! Pass auf seine Krallen auf.«
»Kannst du ihn loswerden?«
»Wenn ich will«, grollte der Greif, »kann ich ihn in Stücke reißen!«
Das war alles, was sie zu wissen brauchte. »Ich vertraue darauf«, murmelte das Mädchen. Doch der Wind fraß ihre Worte. Angespannt, panisch und nun wieder mit einem Herzen in der Brust, das an eine Trommel erinnerte, schwang sie ihr rechtes Bein auf die andere Seite, klammerte sich mit aller Macht an Nuins Federn fest und positionierte sich so auf seinem Rücken, dass sie am besten beeinflussen konnte, wie sie landen würde.
»Alex, nein!«
Dann ließ sie los. Nuin brüllte, machte jedoch keinerlei Anstalten, sie aufzufangen. Sie bewegten sich in einer Höhe, die Alex nicht gefährlich werden konnte. Sie ließ los und fiel. Kaum, dass ihre Sohlen den Grund berührten, vibrierte die Wucht des Aufpralls durch ihre Glieder. Alle Muskeln, Sehnen und Knochen in ihrem Körper sangen. Joshua, der sich an ihre Brust gedrückt hatte, quietschte plötzlich. Aber weder ihm noch dem Mädchen blieb Zeit, um darüber nachzudenken, ob sie verletzt waren oder nicht. Sofort rannte sie los und stürzte zu dem zu Boden gegangenen Krieger hin. Sie warf keinen Blick zurück, sondern vertraute darauf, dass das Knurren und Kreischen hinter ihr, das Geräusch von Klauen, die Fleisch zerteilten, und das Grollen zwischen gefletschten Zähnen von einem Kampf her rührte, der zwischen Nuin und dem Monster entbrannt war.
Sie hatte etwas anderes zu tun. Rasch nahm sie all ihre Kraft zusammen, packte den Verwundeten und drehte ihn auf den Rücken. Sein Körper war schwer, er war bewusstlos außer Stande, ihr zu helfen. Erst jetzt sah Alex, dass sein Gesicht blasser war, als es von oben gewirkt hatte. Seine Wangen waren am Morgen frisch rasiert worden und zeigten nur eine Andeutung von Bart. Er hatte die Lippen geöffnet. Kurze Atemstöße drangen zwischen ihnen hervor, während sich seine Brust kaum noch hob und senkte. Er lebte, aber es stand sichtlich schlecht um ihn. Sein schwarzer Harnisch war völlig zerfetzt. Die Klauen des Untiers waren tief in den Stahl gedrungen. Blut sickerte unter dem Panzer hervor und bildete am Boden einen kleinen See aus Lebenskraft. Sie schaute auf zu seinem Gesicht. Es wirkte eingefallen und gestresst. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Er musste schon lange vor dem Kampf in denkbar schlechter Verfassung gewesen sein.
Nun, das Leben eines Kriegers, war eben kein Ponyhof. Auch Menschenkinder wussten das.
Doch nicht das hatte die Aufmerksamkeit des Mädchens auf sich gezogen.
Sie hatte ihn erkannt.
Aus einem Traum, den sie als Kind oft geträumt hatte, war ihr sein Gesicht nur allzu gut bekannt. Instinktiv huschte ihre Hand zu der Kette, die sie trug: ein mit Smaragden besetzter Silberschlüssel, nur halb so groß wie ihr kleiner Finger, doch von gewaltiger Bedeutung. Seit sie dem Mann, der nun vor ihren Augen zu verbluten drohte, zum ersten Mal begegnet war, hütete sie diesen kleinen Schlüssel wie einen Schatz. Und genau das war er. Ein Schatz aus ihrer Kindheit, verbunden mit einer Erinnerung an einen Traum, der plötzlich Wirklichkeit geworden war.
Fassungslos sah sie ihn an, unfähig, sich zu rühren, und da geschah es: Urplötzlich riss er die Augen auf. Seine Hand schnellte vor und schloss sich um ihr Handgelenk. Alex schrie auf. Hinter ihr erscholl ein Knurren. Sie riss den Kopf herum und sah, dass Nuin das Schattenwesen niedergerungen hatte. Aus hundert winzigen Wunden blutend, lag das Ungeheuer auf der Erde, krächzte, und schlug mit erhobenen Klauen um sich. Aber Nuin war der Sieger. Auch er sah angeschlagen aus. Seine rechte Pranke blutete stark, aber er würde es wohl überleben.
»Du«, stieß der Krieger so plötzlich hervor. Alex zuckte zusammen Sie senkte den Blick auf seine Finger hinab, die bebend ihr Handgelenk umklammert hielten. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine rissigen Lippen bebten. »Ist der Spiegel zerstört, Kind?«
»Ja«, sagte das Mädchen und registrierte jetzt, dass sie sich dessen bislang nicht wirklich bewusst geworden war.
Der Spiegel war zersplittert, ihr Heimweg verschlossen. Mit dieser einen Entscheidung hatte der fremde Krieger möglicherweise ihr Schicksal besiegelt.
»Und das Monster stirbt«, fügte sie leicht benommen hinzu. Das Wissen, das sie nun in dieser makaberen Welt festsaß, schlich sich lähmend in ihr Bewusstsein ein und verdrängte alle Sorgen, die indes aufkommen wollten. »Alles wird wieder gut.«
Aber das war gelogen. Nichts würde unter diesen Umständen jemals wieder gut werden.
Der namenlose Krieger war schwer verletzt, seine Chancen standen schlecht. Zwar hatte Alex nie zuvor einen Menschen sterben sehen, aber es war nicht schwer, herauszufinden, was zu tun war. Da es für ihn nur wenig Hoffnung gab, war es wichtig, ihm gut zuzureden und an seiner Seite zu bleiben. Egal, wie schwer es ihr fiel.
Um die Lippen des Kriegers kräuselte sich ein Lächeln. Sein Blick suchte ein letztes Mal den Weg in Alex Gesicht, ehe sich die Ohnmacht sein Bewusstsein nahm. Ein letztes Aufbäumen schüttelte die Muskeln in seiner Hand, dann sank sie vom Arm des Mädchens herunter und blieb reglos im Gras liegen. Alex starrte ihn an. Wartend, auf den letzten Atemzug, der über seine Lippen floss. Doch Sein Körper wehrte sich, kämpfte verzweifelt, und als der Kampf zwischen Nuin und dem Monster zum Erliegen kam, waren die leiser werdenden Atemzüge des Sterbenden alles, was die Stille durchbrach.