Es war kalt im Inneren des Spiegels. Die Zeit, die Alex im Herzen der schwarzen Welt verbrachte, erschien ihr diesmal eine Ewigkeit lang zu währen. Ein eisiger Hauch streichelte ihre Haut wie ein Atemzug, der aus dem Nichts kam. Als sie die Augen aufschlug, war der Schritt geschehen und um sie herum bildete sich, jenseits des Spiegels, eine neue, finstere Wirklichkeit.
Sie hob den Blick und sah, dass sich Anders in einem ganz entscheidenden Punkt geirrt hatte: Der Spiegel lag keinesfalls an einem verlassenen, menschenleeren Ort. Und als sie aufsah, begegnete ihr der Blick eines Mannes, der mit fast teuflischem Grinsen ihr gegenüber auf einem Thron saß, der dem eines Königs gleichkam. Seine stahlgrauen Augen waren leicht zusammengekniffen, die Beine lässig übereinandergeschlagen und doch bemerkte das Mädchen unweigerlich, dass seine Aura rabenschwarz war, seine seelenlosen Augen viel kälter als Eis und auch, dass er etwas abstrahlte, dass in ihr das Gefühl weckte, für alle Zeiten verdorben zu sein. Sie fühlte sich in seiner Nähe unwohl, als würde sie seine Bösartigkeit atmen und mit jedem Atemzug mehr daran erkranken.
»Schön, dass du kommen konntest«, wisperte er ihr schließlich so leise entgegen, dass sie beinahe verwundert war, dass die Luft jeden Laut an ihr Ohr katapultierte.
Vor ihrem inneren Auge hörte die Welt auf, sich zu drehen. Alex sah Bewegungen, doch sie schienen plötzlich nicht mehr wirklich, nicht mehr echt und viel zu langsam zu sein. Der Augenblick, in dem sie begriff, dass Anders sie hatte ins offene Messer laufen lassen, war jener, in dem ihr Herz zu schlagen aufhörte.
›Bist du in drei Tagen nicht zurück, dann stirbt der Greif‹, hallte die Stimme des Kerubs in ihren Gedanken wider. ›Und du mit ihm.‹
Gelogen. Alles gelogen. Und alles nur, weil er gewusst hatte, dass sie, sobald sie den Spiegel passierte, Isay selbst gegenüberstehen würde. Und er musste es gewusst haben.
Sofort machte das Mädchen auf dem Absatz kehrt, spannte sich und wollte durch den Spiegel zurückspringen, als sich unmittelbar vor dem Spiegelglas zwei von Dämonen geführte Schwerter kreuzten und ihr den Weg zurück versperrten. Augenblicklich drang eine Hand aus der Finsternis, packte sie an der Schulter und schleuderte sie mit solcher Wucht vom Spiegel fort, dass sie wenige Meter entfernt zu Boden stürzte. Der Aufprall traf ihre Schulter am Härtesten. Es knirschte darin und sofort schossen heiße Tränen in ihre Augen. Doch sie wusste, zeigte sie in diesem Moment Schwäche, war ihr Schicksal augenblicklich besiegelt.
Mit zusammengebissenen Zähnen und innerlich fast wahnsinnig vor Angst und Zorn, hob sie den Kopf und sah zu dem Dämon auf, der aus seinem Thron gesprungen war und wie ein Raubtier im scharlachroten Umhang vor ihr auf und ab lief. Sein Blick musterte sie mit der Intensität eines Jägers; eines Geschöpfes, das finden, jagen und reißen wollte, weil es dazu geboren war. Isay war eines der perfektesten Raubtiere.
Sein wildes Gesicht war angespannt. Aus seiner Stirn pulsierte eine Ader. Sein stechender Blick, kannte keine Ablenkung, keine Drohung. Isay kannte keine Gefahr. Er tastete den Körper des Kindes Zentimeter für Zentimeter ab, orientierte sich, studierte sie. Und Alex fühlte sich währenddessen, als würde ihre Haut, überall dort, wo er sie angesehen hatte, aschfahl und leblos werden.
»Weißt du«, sagte er nach einer Weile, jedoch ohne stehenzubleiben und blickte fast glücklich auf sie herab, »wer ich bin?«
»Ich vermute, dass du Isay bist«, flüsterte das Mädchen.
Ihre Stimme bebte so heftig, dass sich die Tränen, die in ihren Augen versiegt waren, nun in ihren Worten zeigten. Ihr Zittern war nicht zu verbergen, alles an ihr wurde von eiskalten Schauern geschüttelt.
»Und wie ist dein Name?«
»Alexandra«, würgte sie hervor, und wagte nicht, den Blick von ihm abzuwenden.
Wenn sie nur für einen Augenblick fortsah, dachte sie, würde sie tot sein. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, dass sich noch weitere Schattenwesen im Raum befanden. Aus ihren Mäulern drangen gequälte Laute und sie dünsteten Gestank und Schwefel aus. Anders selbst hatte ihr gesagt, dass man keinem Dunkelwesen gegenüber seinen wahren Namen nannte, doch aus irgendeinem Grund war sie sicher, dass Isay diese Macht nicht gegen sie verwenden konnte. In seiner Gegenwart spürte sie Finsternis, Niederträchtigkeit, aber keine Magie.
»Wieso bist du hier, Alexandra aus der Anderswelt?«
»Ich bin vor dem Krähenprinzen hierher geflohen.«
»Weshalb?«
Dies war der Augenblick, den das Mädchen am allermeisten gefürchtet hatte. Der Moment, in dem sie sich für eine Seite entscheiden musste: Kooperierte sie nun mit Isay und verriet Anders, wie er sie betrogen hatte, oder gab sie die Hoffnung nicht auf, dass sie Nuin retten konnte, und versuchte es mit einer Lüge? Konnte man einen Dämon überhaupt belügen?
»Er hat versucht, mich zu töten«, log sie mit so heftig bebender Stimme, dass sie hoffte, der Vampir würde die Lüge nicht erkennen. »Ich bin durch den Spiegel gesprungen und..«
»Ein Engel«, fuhr der Dämon ihr ins Wort, trat einen Schritt näher und ließ sich langsam vor ihr in die Hocke sinken. »Könnte niemals ein unschuldiges Kind töten. Es ist Teil seines Wesens, dass er so etwas nicht kann, ganz gleich, wie oft man ihn dazu treibt oder wie sehr man ihn zwingt. Er wird immer einen Weg finden, es nicht tun zu müssen. Deshalb bist du hier. Ich weiß, dass er dich unter irgendeinem Vorwand zu mir geschickt hat. Der Grund ist mir gleich, denn du bist hier. Du kennst die Prophezeiung nicht, aber ich weiß, dass er sie kennt. Und als er dich gehenließ, als er dich zwang, hierher zu kommen, hat er auf seinen Sieg verzichtet. Er gab dich frei, mit dem Wissen, dass er ohne deine Hilfe nicht in der Lage ist, mich zu besiegen. Und er muss gedacht haben, dass ich dich nicht anrühren werde, weil du wichtig bist für ihn und Andhera.«
»Er sagte, ich wäre sein Tod.«
»Er sagte es, weil ich ihn dazu gebracht habe, es zu sagen.« Ein Lächeln, so kalt, dass kein Gesicht je so lächeln durfte, zog über die blassen Lippen des Schattenwesens hinweg. »Aber es ist nicht wahr. Du allein wärst die Rettung gewesen, für ihn und ganz Andhera. Meine Seher haben es vorausgeahnt. Sie sahen dich kommen und sie sahen, dass du mein Verderben bist, wenn du am Leben bleibst. Mein Reich würde fallen und meine Macht versiegen. Du hast etwas bei dir, das die Kraft unseres Freundes zu neuem Leben erwecken kann. Und er hat dich gehenlassen und auf diese Macht verzichtet. Ist er nicht edelmütig, unser Freund? Heldenhaft? Berührt es dich nicht, dass er das Schicksal einer ganzen Welt verspielt, nur für deine Sicherheit?«
»Ich verstehe nicht..«
Anders hatte sie belogen und betrogen. Und augenscheinlich seine ganze Welt hintergangen. Doch zu welchem Zweck? Welchen Grund konnte er haben, alles über den Haufen zu werfen und sich selbst und Alex zu opfern? Weshalb war er bereit, diesen Preis zu zahlen?
»Anders folgt schon lange jedem meiner Worte. Ich kontrolliere seine Handlungen, sein Denken, seine Strategien. Und ich wusste, dass er dich, früher oder später aufgeben und hersenden würde. Es ist immer das gleiche Spiel. Er wehrt sich, kämpft und ringt mit sich, doch Letztenendes bekomme ich, was ich will. Und das warst du. Ich wollte dich aus seiner Nähe wissen, weit genug fort, dass er dich nicht haben kann. Und er hat gehorcht, so wie er es immer tut. Zweifelsohne«, fügte er mit einem hinterhältigen Grinsen hinzu, »um dein Leben zu retten. Eine sehr törichte Entscheidung, wenn du mich fragst.«
Hinter der Stirn des Mädchens begannen Zahnräder, quälend langsam ineinanderzugreifen. Alle Geschichten, die man ihr erzählt hatte, drangen auf sie ein. Bilder fluteten ihren Verstand und plötzlich wusste sie, dass Anders nicht mehr zu retten war. Ein Wesen, das sich so mühelos unter Kontrolle halten ließ und letztendlich so wenig Widerstand leistete, war für alle Zeiten verloren.
»Weißt du«, sagte der Krieger, streckte die Hand vor und strich dem Mädchen eine einzelne Haarsträhne aus dem Gesicht. Dort, wo seine Fingerspitzen Alex Haut streiften, fühlte es sich an, als würde sie verwelken. »Die Wahrheit ist einfach: Leg den Fuchs an die Kette und er vertilgt sich selbst.« Langsam ließ er von ihr ab, hob den Blick und winkte zwei seiner Dämonen herbei. »Sperrt sie weg! Macht mit ihr, was ihr wollt. Unser Freund hat sich geirrt. Sie hat keinerlei Bedeutung für mich. Tötet sie bei Morgengrauen.« Dann erstarb sein Lächeln und er zog die Hand mit einem grimmigen Lächeln zurück. »Es ist nichts Persönliches, aber ich brauche dich nicht mehr.«
Er stand auf und wandte sich ab und seine letzten Worte sickerten nur langsam in den Verstand des Mädchens. Eine plötzliche Taubheit breitete sich über ihren Körper und ihre Seele aus. Sie verfiel, um sich zu schützen, in eine Starre und plötzlich fühlte es sich an, als wären all die Menschen bei ihr, die sie mit dem Eintritt in diese Welt verloren hatte. Sie glaubte, die Wärme ihrer Mutter und ihres Vaters zu spüren, während zwei Dämonen sie grob packten und fortzerrten.
Ihr Blick berührte Isay. Den Mann, der mit einem Wort ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte, und begegnete ihm völlig emotionslos. Alles war warm geworden. Ihre Gedanken waren verbrannt. Jedes Licht dahin.
Man brachte sie an einen Ort, wo es kalt, dunkel und feucht war. An einen Ort, an dem sie tatsächlich niemand mehr sehen würde und sie für alle Zeiten namenlos und unbekannt blieb. Und erst, als hinter ihr eine schwere Zellentür zugeworfen wurde, begannen ihre Gedanken zu rasen.
Kälte brach wie ein Sturm über ihr herein. Sie huschte, so schnell sie konnte, von der Tür fort, quetschte sich in die hinterste Ecke und machte sich so klein wie möglich. Sie sank zu Boden, zog die Beine an und umklammerte sie mit ihren Händen, als würde sie andernfalls verloren gehen. In ihrem Kopf wisperten leise Stimmen wild durcheinander und wiederholten Sätze, die ihr in den letzten Stunden so oft an den Kopf geworfen wurden.
›Dann stirbt der Greif. Und du mit ihm.‹
›Es ist nichts Persönliches, aber ich brauche dich nicht mehr.‹
›Das ist Anders. Ein Mann, dessen Wort nichts bedeutet.‹
›Nichts bedeutet mir irgendetwas.‹
Ihre ganze Welt war in sich zusammengebrochen, von jenem Augenblick an, in dem sie beschlossen hatte, ihr Zimmer durch diesen Spiegel zu verlassen. Sie war kein Kind mehr. Sie war eine Frau geworden, viel zu schnell und zu hart. In nur wenigen Stunden hatte sie lernen müssen, wie grausam das Leben sein konnte und wie unehrlich und kalt.
Man hatte sie tausendfach davor gewarnt, dem Leben den Rücken zu kehren und sich von den Dingen, die man liebt, abzuwenden. Doch wieso hatte ihr niemand davon abgeraten, das Leben als das anzunehmen, was es war?
Heiße Tränen drangen aus ihren Augenwinkeln hervor und liefen in Strömen über ihre Wangen hinab. Doch anders als gewöhnlich, wollten sie diese nicht befreien. Sie wollten ihr den Schmerz nicht nehmen und davonwaschen. Sie wollten sie nicht erlösen.
Laut schluchzend weinte das Mädchen vor sich hin. Man hatte sie in ein Verlies gesperrt, tief unter der Erde, wo niemals Sonnenlicht ihre Haut berührte und kein Laut an ihre Ohren drang. Doch dann hielt sie plötzlich inne.
Ein kratzendes Geräusch ließ sie aufhorchen. Etwas bewegte sich im Dunkeln, irgendwo auf der anderen Seite. Etwas, oder jemand.
Sie hob den Blick und sah durch einen wässrigen Tränenschleier hindurch, dass in einer Zelle gegenüber ein Mann saß, ziemlich verwahrlost, bärtig und eingefallen. Durch das Dunkel war sein Gesicht schwer zu erkennen, doch sie vermutete, dass er deutlich jünger war, als es den Anschein machte. Mitte oder Ende zwanzig vielleicht, höchstens ein Jahrzehnt älter als sie selbst. Seine Haare waren lang und dunkel, ebenso sein Bart. Er hatte den Blick auf sie gerichtet und sich langsam zur Gittertür vorgearbeitet. Dort war er auf die Knie gesunken, hatte die Hände um zwei der Eisenstäbe geklammert und den Kopf an die Gitter gelehnt.
»Hallo, kleines Mädchen«, drang seine Stimme rau und freundlich zu ihr hinüber. Seine Augen bewegten sich über ihren Körper. Er musterte sie eindringlich, so gut es im Halbdunkel möglich war. Dann zuckte sein Gesicht und Alex glaubte fast, dass er lächelte. »Nicht weinen.«
Alex sah auf, nahm den Kopf von ihren Knien und betrachtete den fremden Mann so gut, es ihr möglich war. Seine Augen waren sanft und mild, umrahmt von dunklen Brauen. Er streckte die Hand vor, und da der Gang zwischen den Zellen sehr schmal war, kam er beinahe bis an ihre Zelle heran. Alex jedoch bewegte sich nicht.
»Hast du einen Namen?«, fuhr der Fremde fort. »Einen Namen, den du mir verraten möchtest?«
»Alex«, erwiderte das Kind und brach zum zweiten Mal die von Anders aufgestellte Regel.
Es lag in der Aura des Fremden: etwas Sanftes, Liebevolles, beinahe Väterliches, das sie trösten wollte. Und es zeigte Wirkung. Obwohl sich die Gedanken des Mädchens überschlugen, fühlte sie sich mit ihrem Schicksal plötzlich nicht mehr so einsam. Sie war nicht alleine hier und dies allein, war tröstend. Jemand teilte den dunkelsten Ort, an dem sie je gewesen war mit ihr.»Hör zu, Alex«, erklang die Stimme des Fremden leise. »Ich muss dir eine Frage stellen und ich hoffe, dass du sie mit Nein beantworten kannst. Doch für den Fall, dass ich mich nicht irre, möchte ich vornweg nehmen, dass wir auf der selben Seite stehen. Bist du ein Kind der anderen Welt?«
In den vergangenen Tagen hatte Alex diese Frage zu hassen gelernt. Dennoch erwiderte sie mit einem Nicken und sah, wie der Krieger tief seufzend seine Finger um die Gitter klammerte, bis sich seine Knöchel weiß verfärbten.
»Dann muss ich dir etwas sagen.« Er hob den Kopf, zog sein Lächeln in die Länge und berührte mit der Stirn einen der Stäbe. »Ich habe gewusst, dass du mich finden würdest. Wir haben einen gemeinsamen Freund. Und ich vermute, er war derjenige, der dich hergeschickt hat.«
Seine Worte hämmerten in ihrem Verstand. Eyndor. Der Eyndor. Der Mann, für den Anders den Kampf niederlegte. Und dieser Eyndor war heute ein verwilderter Mann in einem Verlies, der aussah, als hätte er seit Jahren kein Tageslicht mehr gesehen.
»Ich weiß wer du bist. Du heißt Eyndor und bist ein Freund des Krähenprinzen.«
Er nickte, während sich sein Gesicht grimmig verzog. »Nennen sie ihn wirklich so? Grauenhaft. Aber ja, ich bin Eyndor. Ich habe schon auf dich gewartet.« Langsam hob er die Hand und öffnete sie, damit das Mädchen etwas Winziges darin funkeln sehen konnte. »Jemand hat mir gesagt, dass du kommen würdest und ich bin bereit dafür. Wenn du mir vertraust, bringe ich uns beide hier raus. Aber du musst mir helfen, denn es wird ohne dich nicht funktionieren. Ich kann dich zu Anders zurückbringen.«
»Ich gehe nicht zurück«, entschied das Mädchen sofort. Allein der Gedanke, zu Anders zurückzukehren, nachdem er sie mutwillig in Gefahr gebracht und ihr Leben riskiert hatte, trieb ihr erneut Tränen in die Augen. »Er wollte mich töten. Er hat meine Freunde gefangen genommen und er wird sie töten. Aber ich kann nicht zurück. Ich will nicht sterben!«
»Er tut all diese Dinge nicht, weil er es möchte. Bitte glaub mir, ich kenne sein Herz so viel besser, als jeder Andere. Ich weiß, dass all die Geschichten, die man dir erzählt hat, dich verwirrt und dir Angst gemacht haben, aber ich brauche dich. Ohne dich sterben wir vielleicht beide.« Er seufzte, schloss die Finger um den Schlüssel und zog die Hand zurück. Sein Blick traf den des Mädchens mit so viel Ehrlichkeit, dass sie kurzzeitig innehielt. »Alex, Isay hat Anders in den letzten Jahren immer wieder und wieder damit gedroht, mich zu töten, wenn er ihm nicht gehorcht.«
»Er wollte dich retten«, sagte das Mädchen. »Und war bereit, mich im Gegenzug zu opfern. Verstehst du?«
»Er wird dich verschonen, wenn du mir hilfst, zu ihm zurückzufinden. Er wird dich beschützen und Isay endlich in die Schranken weisen. Bitte hilf mir. Ich gebe dir mein Wort, dass es mir, ganz gleich, wie schlimm es um ihn steht, gelingen wird, ihn zu erreichen.«
»Er hat mich hierher geschickt, unter dem Vorwand, dass ich ihm zwei Dinge stehlen soll. Wenn ich ihm diese bringe, gibt er meinen Freund frei und zeigt mir, wie ich nach Hause komme.« Trauer, Schmerz und Gram überwältigten sie. All die unterdrückten Gefühle kehrten mit einem Schlag zurück und schienen mächtiger denn je. »Ich will nur nach Hause. Ich will.. einfach alles vergessen und nur noch nach Hause zurück. Meine Mutter und meinen Vater wiedersehen. Und von diesem Krieg nichts mehr wissen. Aber ich werde hier sterben.«
»Nein, Mädchen, das wirst du nicht!« Mit einem Ruck kam Eyndor auf die Füße. Sein Blick glitt zwischen den Gitterstäben hindurch zu Alex hinüber. »Ich gebe dir mein Wort. Wir brauchen dich. Ich brauche dich. Ich habe fast zehn Jahre lang auf dich gewartet. Auf jemanden, der Anders endlich aufwecken kann. Ich werde dir unter keinen Umständen erlauben, hier den Mut zu verlieren und zu vergessen, wer du bist! Verstehst du? Das kommt nicht in Frage.«
Zehn Jahre? War Eyndors Gefangennahme der Zeitpunkt gewesen, an dem Anders sich von ihr und allem, was ihm heilig war, abgewandt hatte? War er deshalb nie zu ihr zurückgekommen? Wieso hatte ein so simples Menschenleben so unendlich viel Macht über den Dunklen Prinzen? Weshalb hatte er nichts gesagt?
»Wenn er gewollt hätte«, fuhr sie fort, »dass ich ihn rette, hätte er mich nicht ausgeliefert. Er konnte nicht wissen, dass Isay mich nicht sofort tötet. Er hat mich hierher geschickt und es war ihm gleich, ob ich lebe oder sterbe!«
»Aber so ist er nicht!«, begehrte Eyndor auf. »Das ist nicht Anders. Nicht der Mann, der er einmal war.«
»Vielleicht ist er tot«, flüsterte Alex. »Der Mann, dem du vertraut hast, vielleicht gibt es den nicht mehr.« Kurz hielt sie den Atem an. Ihre Gedanken rauschten. »Und wenn es ihn gäbe, dann hat er dich ebenso im Stich gelassen, wie mich. Er hätte dich retten können.«
»Er wäre niemals so weit vorgestoßen.« Eyndors Blick senkte sich hinab. »Du kennst ihn nicht. Das Risiko, zu verlieren, wäre er niemals eingegangen. Dafür hat Isay gesorgt. Ich habe seit vielen Jahren kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Das letzte Mal gesehen habe ich ihn, als Isay ein Messer an meinen Hals drückte und ihm befahl, sein Schwert niederzulegen. Ich habe, als er gehorchte, in seinen Augen gesehen, dass der Kampf für ihn vorüber war. Und ich dachte, er würde sterben an seinem Verlust. Du weißt nicht, wer er ist, nicht was er gesehen und erlebt hat. Aber der Mann, den du kennst, ist nicht der Mann, der er einmal war.«
»Und wer sagt dir, dass der Mann, dem du vertraut hast, nicht verschwunden ist?«
»Wenn du sagst, dein Tod hat keine Rolle für ihn gespielt, dann musst du mir schleunigst helfen, ihn zu retten. Irgendetwas stimmt nicht. Und ich schaffe es niemals alleine hier raus.« Er seufzte. »Ich kann mir denken, über welche Gabe du verfügst und leider kann ich nicht einfach durch irgendeinen Spiegel springen. Aber du kannst es. Wenn ich dich zu diesem Spiegel bringe, kannst du mir hier raus helfen. Dann wird Anders deinen Freund verschonen und dich heimkehren lassen. Er wird mir glauben. Ich weiß es einfach.«
»Und wenn du dich irrst?«
»Was hast du zu verlieren?«