»Ich werde also in dieses Schloss marschieren und ein vollkommen verrückt gewordenes Geschöpf darum bitten müssen, seinen Spiegel benutzen zu dürfen, oder ich bleibe für immer hier?« Inzwischen war das Mädchen mehrere hundert Male in der Höhle auf und ab gegangen und hatte sich zahlreiche Szenarien überlegt. Doch in keinem, das ihr plausibel erschien, würde ihr der Kerub ihr Vorhaben erlauben.
Anders zuckte die Achseln und warf Nuin einen raschen Blick zu. Es war offensichtlich, dass sich der Greif und er nicht wirklich über den Weg trauten. Gleich nachdem Nuin aufgewacht war, hatte er sich umgedreht und den Krieger nicht mehr aus den Augen gelassen. Und Anders Reaktion war ähnlich. Sie saßen in unterschiedlichen Ecken und musterten einander abschätzend. Unwissend, was sie von ihrem Gegenüber halten sollten. Und da Anders Alex zur Verschwiegenheit verpflichtet hatte, waren ihr bislang keine glaubwürdigen Worte eingefallen, um ihm zu erklären, dass sie einander kannten.
»Vielleicht verrückt geworden«, korrigierte sie der Greif. »Aber ich werde dir nicht helfen, sein Schloss oder ihn zu finden. Dein Plan ist verrückt. Verrückter noch, als der, nach dem du suchst.« Er hielt einen Augenblick die Luft an. »Nach allem, was ich dir erzählt habe, glaubst du wirklich, dass er dir helfen wird?«
»Nein. Aber Anders sagt, es könnte der letzte Spiegel sein.« Sie zuckte die Achseln. »Wann hast du den letzten Spiegel gesehen, bevor ich aufgetaucht bin? Sei ehrlich.«
»Es ist sehr lange her«, überlegte er. »Aber ich meide Städte und lebe abgeschieden. Ich verstecke mich in Höhlen und jage nachts. Ich wandle nur in den Schatten. Wo, fernab aller menschlichen Wesen, soll ich einem Spiegel begegnen?«
»Du hast nie erwähnt, dass du Städte meidest.«
»In den wenigen Stunden, seit du mir auf den Kopf gefallen bist, hast du mir sicherlich auch nicht jedes noch so kleine Detail über dich verraten.« Nuin sah sie vorwurfsvoll an. »Alex, glaub mir, sobald du die schwarze Festung betrittst, bist du verloren. Sobald du auch nur einen Fuß auf sein Territorium gesetzt hast, gehörst du mit Leib und Seele ihm. Er weiß zu jeder Zeit, wer sich wann innerhalb seines Schlosses bewegt. Er kann jeden deiner Schritte verfolgen, und wird nicht müde werden, dir überall tödliche Fallen zu stellen. Bitte denk nicht einmal daran, ihn aufzusuchen. Der Krähenprinz wird dir nicht helfen. Er sperrt dich ein, setzt dich fest, und lässt dich nie mehr gehen. Er ist kein gutes Wesen. In seinem Herzen gibt es keine Güte und auch kein Licht. Wenn er dich erkennt, bist du verloren. Oder er schickt dich zu Isay. Es gibt einen Grund, weshalb er sich versteckt. Er will nicht gefunden werden. Wenn du bis zu ihm durchkommst, hast du Glück, aber wenn du ihn triffst, ist es aus mit dir.«
»Woher willst du das wissen?«, mischte sich Anders ein. »Bist du ihm je begegnet?«
Nuin schnaubte verächtlich. »Nein. Und die Götter mögen dafür sorgen, dass es auch niemals so weit kommen wird. Selbst als Ausgestoßener mag ich mein Leben und werfe es nicht weg.«
Als Ausgestoßener? »Meidest du deshalb Städte?«, hakte das Mädchen nach und musterte das Untier mit großen Augen. Nach allem, was sie bislang wusste, war Nuin ein sanftmütiges, kluges Wesen. Aus welchem Grund sollte man ihn ausstoßen? Er nickte, und Alex fuhr fort: »Das tut mir leid. Was ist passiert?«
»Als Jungvogel«, sagte der Greif, »bin ich aus dem Nest gefallen, und meine Mutter ist mit meinen Brüdern weitergezogen. Sie hat mich zurückgelassen. Ich wurde von Menschen aufgezogen. Von einem alten Priester, der in einem Tempel, sehr weit fort von hier lebte. Die anderen Greife kennen mich nicht, sie wollen mich nicht, und sie meiden mich. Ich gehe ihnen schon mein ganzes Leben lang aus dem Weg. Für gewöhnlich leben wir in der Nähe von Dörfern. Wir suchen die Nähe der Menschen nicht, aber wir profitieren von ihnen. Die Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind, waren immer gut zu mir, aber sie haben mich verändert. Ich bin ihnen ähnlich, ohne wie sie zu sein. Als ich ausgewachsen war, habe ich ein einziges Mal versucht, mich einer Gruppe Greife anzuschließen. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens. Und wäre mir danach nicht Eyndor begegnet, ich wüsste nicht, wo ich heute stünde.«
»Eyndor?« Anders war plötzlich hellhörig geworden. »Der Eyndor? Der Krieger an der Seite unseres verrückten Kerubs?«
»Damals nicht«, erwiderte Nuin. »Damals war er nur ein Kind, das voller dummer Ideen steckte. Aber ja, genau der. Er hat mir geholfen, mich in der Welt zurechtzufinden. Ich war froh, ihn zu kennen.«
»Ist das der Mann, den Isay entführt und als Druckmittel verwendet hat?«, fragte Alex und dachte über den Namen nach. Sie konnte sich erinnern, dass Nuin ihn bereits erwähnt hatte, doch in einem anderen Zusammenhang. »Wieso hast du nicht gesagt, dass du ihn kennst?«
»Ja, der.«
»Ich wusste nicht, dass er dein Freund war.«
»Dass wir uns kennen, ändert gar nichts«, entgegnete der Greif, plötzlich bissig. In seinen Augen funkelte es düster, und ein wenig von der gewohnten Freundlichkeit war aus seinem Blick verschwunden. »Er ist weg, ich kann nichts für ihn tun, und ich werde ihn nicht wiedersehen. Wir sind damals im Streit auseinandergegangen, und haben uns nie wieder gesehen. Er ging, um dem Krähenprinzen beizustehen. Er glaubte an ihn. Ich habe ihn verhöhnt, weil ich den Gedanken albern fand, dass er zu Höherem ausersehen sein könnte. Als ich begriff, wie sehr ich mich geirrt habe, war es zu spät. Eyndor war fort, der Kerub war besiegt und Isay gewann ein Druckmittel, das ihm den Sieg sichern wird. Es ist, wie es ist.«
»Trotzdem war er dein Freund«, entschied das Mädchen und schenkte dem Greifen ein Lächeln. »Ich bin sicher, dass euer Streit heute keine Bedeutung mehr für ihn hat, und solltet ihr euch je wiedersehen, wirst du erkennen, dass er auch für dich belanglos ist.« Dann wurde sie ernst, und ihr Lächeln verschwand. »Es tut mir wirklich leid.«
»Das muss es nicht.«
»Aber du hast einen Freund verloren, an dem du sehr gehangen hast.«
»Nur, bis er ging, um jemanden zu unterstützen, der schon damals verloren war. Ich konnte ihm nicht verzeihen, dass er mir diesen Verräter vorzog, und wir stritten wieder und wieder. Irgendwann ging er, und ich habe sehr lange darauf gewartet, dass er wiederkommt. Vergebens. Für mich ist Eyndor schon seit vielen Jahren tot. Ob Isay ihn gefangen hält, oder sein vermeidlicher Freund, spielt keine Rolle für mich. Wen kümmert es schon, aus welchem Grund, eine Seele verloren ist?«
»Du bist verbittert.« Anders schmunzelte. »Wie könntest du auch nicht? Auch mir hat der Schattenprinz etwas weggenommen.« Sein Blick huschte zu Alex hinüber. »Er hat mir meinen Frieden geraubt. Mein Leben. Ich kann gut verstehen, was du empfindest.«
»So?«, hakte der Greif nach und spitzte die Ohren. Sein Kopf neigte sich leicht zur Seite. »Du bist nicht einmal ein Mensch. Wer sagt, dass du in der Lage bist, Gefühle zu hegen?« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schnupperte er demonstrativ in Richtung des Kriegers und verzog dann das Gesicht. »Was bist du eigentlich, Fremder? Ein Dämonenblut? Ein Mischwesen? Bist du ein Zauberer? Und auf wessen Seite stehst du überhaupt?«
Alex konnte sich nur mühsam beherrschen. Obwohl ihre Situation alles andere als komisch war, stimmte sie das Gehabe der beiden Wesen fröhlich. Anders hegte offensichtlich ein gewaltiges Misstrauen dem Greifen gegenüber, das nur von seiner Neugier überschattet wurde. Denn nach eigener Aussage war er nie zuvor einem Greifen begegnet. Während Nuin immerfort den Kopf in die Höhe reckte und keine Gelegenheit ausließ, um Anders mit der Nase darauf zu stoßen, dass er offenbar nicht sonderlich gut für ihn roch.
»Schluss jetzt!«, fuhr sie dennoch dazwischen und stampfte mit dem Fuß auf. Nicht, dass irgendeiner der beiden Streithähne ihre Wut hätte fürchten müssen, dennoch zeigte ihre Geste Wirkung. »Aber Nuin hat recht«, erinnerte sie sich, drehte sich um und musterte den Krieger lange. »Wenn du kein Mensch bist, Anders, was genau bist du eigentlich?«
»Anders«, murmelte der Greif kopfschüttelnd. »Ist das überhaupt ein Name?«
»Ein Halbwesen«, erwiderte der Krieger grinsend. »Ich habe meine Eltern nie kennengelernt, aber einer von ihnen muss etwas Nichtmenschliches gewesen sein. Ein Elf, ein Zwerg oder etwas Ähnliches. Meine Eltern haben mich nicht großgezogen. Sie gaben mich weg, und die Magd, bei der lebte, hat nie über sie gesprochen. Nicht einmal, wenn ich fragte.« Achselzuckend erwiderte er den Blick des Mädchens. »Aber wir sprechen nicht über mich, und eigentlich auch nicht über Eyndor. Was tust du, wenn du dem Dämon gegenübertrittst, und er dir den Durchgang nicht gewährt? Du allein hast ihm und seiner Macht nichts entgegenzusetzen. Er ist ein machtvolles Wesen. Man munkelt, er trägt Götterblut in sich.« Unbeholfen die Hände gegen den Grund stemmend rappelte sich der Krieger noch immer angeschlagen auf. »Nimm mich mit. Ich kann dich begleiten, und selbst wenn ich mir nicht anmaße zu behaupten, dem Kerub gewachsen zu sein, so mag ich ihn im Notfall vielleicht wenigstens einige Minuten hinhalten können. Das«, murmelte er und warf Alex einen vielsagenden Blick zu, »bin ich dir schuldig.«
Sie nickte und drehte sich um. In Wahrheit hatte sie inständig gehofft, dass Nuin und er mit ihr gehen würden, die Hoffnung jedoch angesichts der Gefahr schnell verloren. Jeder von ihnen schien auf seine eigene Weise irgendwie in die Geschichte des Kerubs verwickelt zu sein. So wie sie selbst. Durch einen Zufall war sie in einen Konflikt verstrickt worden, der viel größer war, als sie sich ausmalen konnte. Und allein gab es kein Entkommen.
»Und du, Nuin?«
»Ich kann nicht an diesen Ort gehen«, erwiderte der Greif abrupt. »Keine zehn Feuer speienden Drachen brächten mich dazu, auch nur einen Fuß in dieses verfluchte Schloss zu setzen!« Aus seinen Augen sprühte Widerwillen. »Und wenn du klug bist, verzichtest du auf diesen Ausweg. Ich verspreche dir, ich werde bei dir bleiben und auf dich Acht geben, aber wenn du diesen Weg wählst, kann dich niemand mehr beschützen. Dann bist du verloren.«
Das wusste sie, und eben diese Gewissheit machten es ihr so unendlich schwer, vernünftig zu sein. Sie dachte an ihre Eltern zurück, an all die kleinen Streitigkeiten, die sich durch die letzten Jahre gezogen hatten. Und obwohl jeder Einzelne dazu in der Lage gewesen wäre, ihr Blutsband zu zerreißen, hatte sie jeder Konflikt nur näher zusammengeschweißt. Alex wusste, dass sie mit ihrer Familie das große Los gezogen hatte. Ihre Mutter wusste immer Rat, wenn ihr eine Frage auf dem Herzen lag. Sie war eine starke, selbstbewusste Frau und hatte sich stets bemüht, ihre Tochter zu einem selbständig denkenden jungen Menschen zu erziehen. Und ihr Vater war ein Grübler, der in seinem Kopf unentwegt neue Pläne entwarf, Ideen austüftelte, und immer ein offenes Ohr für seine Tochter hatte. Natürlich gab es bessere und schlechtere Eltern, aber für Alex waren sie die perfekte Familie. Sie waren alles, was sich ein junger Mensch wünschen konnte, und hatten oftmals mehr Verständnis für ihre seltsamen Spinnereien, als Alex gutheißen konnte. Ja, manchmal waren ihre Eltern ihr vollkommen unverständlich, aber Alex wusste, dass es andersherum ebenso war. Auch der Rest ihrer kleinen, überschaubaren Familie, war ein Glücksgriff. Ihre Tanten, Onkel, Cousinen und Großtanten und entfernte Verwandte bildeten einen bunt zusammengewürfelten Haufen verrückter Menschen, die alle besonders und einzigartig waren. Die nie hinterfragten, wenn Alex spurlos verschwand oder mit den Gedanken woanders war.
Und deshalb musste sie in ihr altes Leben zurückkehren. Um jeden Preis. Damit all diese Menschen wieder Teil dessen sein konnten, was ihr eigenes Leben stets ausgemacht hatte.
»Es ist nicht so, als hätte ich eine Wahl«, erwiderte sie schließlich, dem Greifen ein Lächeln schenkend. »Meine Eltern sterben vor Sorge. Sie werden denken, dass ich fortgelaufen bin, und es nicht verstehen, oder glauben, ich wäre entführt worden, oder gar Schlimmeres. Das kann ich ihnen nicht antun. Und so sehr mich Andhera fasziniert, und ich euch liebgewonnen habe - aber ich gehöre einfach nicht hierher. Ich will ein normales Mädchen sein. Mit Freunden, Büchern und abends vor dem Fernsehen einschlafen. Die Jagd auf ein mystisches Wesen ist eure Aufgabe, nicht meine. Ich bin weder besonders mutig, noch besonders gut in irgendetwas anderem als Spiegelspringen. Ich bin hier völlig fehl am Platz. Also, was ist? Kommst du mit mir, Nuin?«
Schweren Herzens senkte das Wesen den Blick und erwiderte gepresst: »Bis zum Schloss, und nicht weiter. Ich begleite euch ein Stück des Weges und erzähle dir alles, was ich über den Kerub und sein Exil weiß, aber ich gehe keinen Schritt hinein, und ich werde wieder und wieder versuchen, dich zum Bleiben zu bewegen. Weil es ein Fehler ist.«
Mit einem Nicken besiegelte Alex ihr Bündnis. »Einverstanden. Aber zuerst möchte ich sicher sein, dass Anders sein Versprechen halten, und mich beschützen kann. Wir werden heute hier bleiben und uns ausruhen, und morgen aufbrechen. Wie weit ist es bis dorthin?«
»Ein- oder zwei Tage, wenn wir aufgehalten werden.« Anders ruckte an seinem Gürtel herum, bis dieser richtig saß. »Vielleicht weniger, wenn wir schnell gehen. Aber sei dir gewiss, der Krähenprinz wird uns überall Steine in den Weg legen. Er wird uns austricksen und fortjagen wollen.«
»Warum nennt ihr ihn eigentlich so?«
»Wegen seiner Flügel«, antwortete der Krieger verheißungsvoll. »Große, pechschwarze Rabenschwingen. Und Krähen umkreisen seinen Turm. Er ist eine Kreatur, wie aus einem Albtraum gestiegen. Du musst auf alles gefasst sein, und darfst nie die Nerven verlieren.«
»Meine Lehrer behaupten«, sagte das Mädchen, »dass ich Nerven aus Stahl besitze. Und manchmal verzweifeln sie daran.«