Alex sah dem Mädchen entgegen, dessen Brust sich so schwer hob und senkte, dass sie erwartete, es würde ersticken. Genauso fühlte es sich an. Die Luft um sie herum wurde stetig dünner, während ihr Herz immer schneller schlug. Eyndor war fort. Reyndra war fort, und auch Nuin war gegangen. Alle Drei hatten eine Aufgabe, die sie erledigen mussten, damit Alex letztendlich ihren Plan in die Tat umsetzen konnte. Und obwohl sie alle gegangen waren, spürte das Mädchen noch immer ihre Blicke auf sich. Ihre Erwartungen.
Ihr Herz reagierte so stark auf den Glauben in ihre Freunde, dass sie beinahe körperlich anwesend waren. Die Luft um sie herum schwirrte. Nur, dass niemand da war. Sie waren alle gegangen. Nur Halla nicht.
Reyndras Frau saß neben der Tür auf einem Schemel, die Hände im Schoß gefaltet, das Haupt gesenkt, aber den Blick Alex hoffnungsvoll entgegen gestreckt. »Du weißt, dass es funktionieren wird«, ermutigte sie das Mädchen, zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen und warf dem Spiegelbild der jungen Frau einen vielsagenden Blick zu.
»Ja«, entgegnete Alex. »Ich weiß. Aber ich wünschte, ich wäre jetzt nicht alleine. Eigentlich wünschte ich, wir müssten diesen Weg alle nicht alleine gehen.«
»Manchmal ist es besser, etwas allein und richtig zu machen, als wie ein Rudel Krähen über etwas herzufallen und damit mehr Aufsehen zu erregen, als nötig wäre. Alles wird gutgehen, Kind. Du bist bereit, mein Mann ist bereit, und Eyndor und Nuin sind niemals entschlossener gewesen, einen Plan umzusetzen, als jetzt. Ich bin sicher, dass du dir keine Sorgen machen musst. Wenn du durch den Spiegel gehst, ist alles bereits geschehen. Dann hat Eyndor das Portal aufgebrochen und hält mit aller Macht die Wachen von dir fern, Nuin bietet dir den größtmöglichen Schutz aus der Luft, den du haben könntest, und mein Mann ist ein ausgezeichneter Stratege. Er ist er beste Mann, den du unterhalb des Schlosses haben kannst.«
Ihr Lächeln wurde gütig. Für einen Moment flog ihr Blick zum Fenster hinüber. Alex musste nicht hinsehen, um zu spüren, dass sich der Himmel bereits rot färbte. Es war soweit. Die Zeit war gekommen. Sobald die Sonne untergegangen war, starteten ihre Freunde gemeinsam einen Angriff, den Isay unmöglich vorhersehen konnte. Halla schien ihre Gedanken zu bemerken, denn sie breitete ein letztes Mal die Arme aus und winkte das Mädchen zu sich.
Erleichtert und bestürzt zugleich, huschte Alex zu ihr, schloss die gütige Frau in ihre Arme und drückte ihr Gesicht in das weiche Fell der Weste, die sie trug. Tränen kamen keine. Sie war aufgeregt, viel zu unausgeglichen und zu angespannt, um zu weinen, aber ihr Herz wurde ruhiger. Hallas seltsame Gabe, im richtigen Augenblick die besten Dinge zu sagen, vollbrachte das Unfassbare: Sie gab dem Mädchen die Kraft, durchzuatmen und sich klar darüber zu werden, dass die Alte vollkommen recht hatte. Isay hatte nur einen Bruchteil seiner Männer mit ins Schwarze Schloss genommen. Sie wurden aus der Luft, vom Tor her, und von unterhalb des Schlosses angegriffen. Nicht einmal Isays Männer waren in der Lage, all diese Baustellen gleichzeitig zu stemmen. Sie musste nur noch durch den Spiegel gehen und sich einen Weg zu Anders bahnen. Den Rest würde er erledigen. So, wie er es immer getan hatte.
Das Mädchen schloss die Augen, atmete den blumigen Geruch der alten Dame ein und löste sich von ihr. »Danke dir, Halla«, sagte sie erleichtert zu ihr und drehte sich um, dem Spiegel entgegen. »Das hat mir sehr geholfen. Und eigentlich weiß ich auch, dass es nichts gibt, was uns aus der Bahn werfen könnte. Wir werden Anders holen, und alles in Ordnung bringen. Kannst du auf Josh aufpassen? Er schläft auf dem Küchentisch.«
Die Alte nickte. Alex sah ihr Spiegelbild an, dann wanderte ihr Blick zu dem Abbild ihres eigenen Gesichts. Sie atmete durch, streckte die Hand aus und betrachtete sie, während sie durch das Glas hindurchglitt und es in eine sich bewegende Oberfläche verwandelte. Der Ort, an den ihre Hand gegangen war, fühlte sich gewohnt kalt an. Alex Körper kribbelte. Sie sah ein letztes Mal ihrem Spiegelbild in die entschlossen funkelnden Augen, griff nach dem Stab, den Eyndor ihr gegeben hatte und trat durch den Spiegel.
Diesmal fühlte es sich an, als wollte der Spiegel ihr Inneres nach Außen kehren. Er zog sie aus und blickte bis auf den Grund ihrer Seele hinab. Es wurde kalt und unangenehm. Die Luft wurde dünn, ein eiskalter Hauch streifte ihre Haut und stellte all die kleinen Härchen auf, die sich auf ihrem Arm befanden. Sie öffnete die Augen nicht, hielt sie fest geschlossen und wartete, bis der Schritt abgeschlossen war. Bis wieder Wärme in ihre Glieder sickerte und sie endlich die Augen öffnen konnte. Wenn man sie zuvor gefragt hätte, durch welchen Spiegel sie wohl ins Innere des Schlosses gelangen würde, hätte sie vermutet, dass es der sein würde, durch den Anders sie und Eyndor gestoßen hatte. Doch der war es nicht. Es war der Große in seinem Turmzimmer.
Aus dem unteren Teil des Schlosses hörte ich Geräusche. Klappernde Rüstungen, klirrende Schwerter, dumpfes Grollen und ein Brüllen, das eindeutig nicht menschlicher Natur war. Das Schloss war in heller Aufruhr. Es tobte. Es krampfte. Es erwährte sich zu allen Seiten hin eines Feindes, den niemand kommen sah. Alex hielt inne und lauschte. Da waren Stimmen, die sie nicht kannte, die Worte riefen, die sie nicht verstehen konnte. Aber sie alle klangen, als wären sie weit entfernt und unerreichbar. Sie klangen wie-
Ein schleifender Laut erklang inmitten des Zimmers. Schnell wollte Alex herumfahren, doch ein aus dem Nichts erscheinendes Schwert schob sich an ihrer Kehle entlang und ließ den Atem in ihren Lungenflügeln stocken.
»Weg von dem Spiegel«, sagte eine Stimme, dann: »Ich will dein Blut nicht vergießen, aber wenn du mich dazu zwingst, bin ich bereit.«
Behutsam machte das Mädchen zwei Schritte vom Spiegel fort. Die Schwertklinge an ihrem Hals blieb und drückte leicht aber unangenehm gegen ihren Kehlkopf. Langsam wandte das Mädchen den Kopf zur Seite und richtete den Blick auf ihren Angreifer. Auf den Einzigen, der geahnt hatte, dass sie zurückkommen würde. Ein blonder Mann mit starrem, eiskalten Blick hatte hinter ihr Stellung bezogen. Es dauerte kurz, bis ihr sein Gesicht bekannt vorkam, doch dann schlang Alex ihre Angst hinunter. »Du bist Darias«, sagte sie ihm ins Gesicht. »Ich kenne deine Geschichte.«
»Offenbar bist du mir gegenüber da im Vorteil, denn niemand hat sich bisher die Zeit genommen, mir deine Geschichte zu erzählen. Aber ich weiß, weshalb du gekommen bist, und ich weiß, wo du es finden kannst.« Mit einem bösartigen Grinsen wiegte er das Schwert in seiner Hand. »Ich sage das ungern, denn ich stehe normalerweise nicht auf der Seite derer, die das Richtige tun, aber ich werde dir sagen, wo du Anders finden, und wie du ihn befreien kannst.«
»Und wieso solltest du das tun?«, hakte das Alex nach. Erstaunt bemerkte sie, wie fest und furchtlos ihre Stimme klang, obwohl ihr Inneres aufgewühlt war, und die Angst hatte. Aber irgendetwas, und vielleicht auch nur das Wissen, dass überall um sie herum ihre Freunde in der Nähe waren, gab ihr die Kraft, dem Krieger gegenüber stolz und entschlossen zu erscheinen. »Du hast Isay geholfen, ins Schloss zu kommen. Du hast ihm Anders ausgeliefert. Wie könnte ich dir vertrauen, nach allem was du uns angetan hast?«
»Ich habe einen Fehler begangen. Einen schweren, unbezahlbaren Fehler.« Er blinzelte, musterte das Mädchen ehrfürchtig und senkte das Schwert. Langsam drehte er es um und reichte es Alex mit dem Griff voran. »Dieses Schwert gehört Anders. Er ist ohnehin der Einzige, der es führen kann. Bring es ihm und sag ihm, eines Tages werde ich einfordern, was er mir verwehrt hat und Isay mir nehmen wollte.«
»Einen Kampf mit ihm?«
»Ja.« Darias schmunzelte und senkte den Blick, während er nach irgendetwas suchte, das sich in seiner Manteltasche versteckte. Mit Mittel- und Zeigefinger seiner rechten Hand zog er etwas hervor und streckte es Alex auf seiner Handfläche liegend entgegen. Es war ein kleiner, silberner Schlüssel mit einer Kerbe. »Ich habe Isay diesen Schlüssel gestohlen, als ich mit ihm aneinandergeraten bin. Du wirst ihn brauchen, denn Anders Fesseln lassen sich durch Magie nicht öffnen. Dafür hat dieser wahnsinnige Magier gesorgt.«
Alex folgte seiner Geste und betrachtete wankelmütig den kleinen Schlüssel. »Wieso tust du das?«
»Ich wollte niemals mehr, als eine gerechte Chance, mich Anders entgegenzustellen und ihn für sein Handeln mir gegenüber zur Rechenschaft zu ziehen. Wir sind Krieger und verdienen es, einander respektvoll zu behandeln. Auch er hat sich mir gegenüber ehrenhaft verhalten. Nimm den Schlüssel, lass ihn frei und sag ihm, ich werde irgendwann einfordern, was mir zusteht. Das hier habe ich nie gewollt.«
Vorsichtig nahm Alex den Schlüssel aus seiner Hand und schloss ihre zur Faust geballte Hand darum. Der Krieger nickte ihr zu, und wollte sich abwenden, doch das Mädchen hielt ihn mit einer Geste zurück. »Ich danke dir«, sagte sie. »Warte noch! Hast du ihn gesehen? Weißt du, wie es ihm geht? Hat Isay...?«
»Als ich ihn das letzte Mal sah, war es Isay noch nicht gelungen, die Truhe zu öffnen. Er konnte Anders nicht brechen, und wenn du mich fragst, dann wird er es auch heute nicht mehr schaffen. Anders wird bis zu seinem letzten Atemzug zum Wohle Andheras kämpfen. Das weiß ich, weil er mir eine Wahrheit offenbarte, die er gerne versteckt gehalten hätte.«
Das Mädchen schaute dem blonden Krieger fest in die Augen und las in dessen entschlossenem Blick, dass sie nun beide Mitwisser eines dunklen Geheimnisses waren. Er musste es nicht benennen, das Mädchen wusste es. Sie konnte im Funkeln seiner Augen erkennen, dass Anders ihn eingeweiht hatte, um sein Herz zu erreichen. Und irgendwie musste es ihm gelungen sein.
»Was«, fragte sie leise, »wirst du jetzt tun?«
Darias zückte mit einem feixen Grinsen sein Schwert. »Ich werde mich ein wenig einmischen und Unruhe stiften. Das konnte ich schon immer am besten. Und Isay hat mir allen Grund dazugegeben, wütend auf ihn zu sein. Zieh zu, dass du verschwindest. Geh ins Verlies! Anders wird dort sein. Sobald du ihn von seinen Fesseln befreit hast, sollte seine Kraft schnell zurückkehren. Er wird dich retten, wenn du es so weit schaffst. Dich und alle, die mit dir gekommen sind.«
»Wieso kommst du nicht mit uns? Anders wird dir vergeben. Er-«
»Ich will seine Vergebung nicht«, wehrte der Krieger ab. »Ich könnte ihm nie vergeben. Und ich will es auch nicht. Alles, was ich suche, ist Gerechtigkeit. Für uns alle.«
»Wo finde ich die Truhe?«
»Sie ist bei ihm. Und er wird nicht alleine sein. Isay hat einen sehr gefährlichen Mann auf Anders angesetzt, um den Fluch aufzuheben, der auf dieser Kiste liegt. Sei auf alles gefasst.« Darias winkte ab. »Los jetzt!«, zischte er, während er ungehalten mit der Hand herumwedelte. »Verschwinde endlich!«
Wie von der Tarantel gestochen ließ Alex den Stab fallen, klammerte sich an das Engelsschwert und machte auf dem Absatz kehrt, um aus dem Raum und die Treppe hinab zu stürmen. Es war lauter geworden, im Inneren des Schlosses. Stiefel scharrten auf Stein, Klingen klirrten und Rüstungen schepperten. Hin und wieder durchbrach der Klang eines tiefen, dröhnenden Grollens die Stille und ein Schwall Wärme schien durch die Flure zu brausen. Alex ließ sich von alledem nicht beirren. Sie wusste, wohin sie gehen, wie sie sich verstecken und vor wem sie fortlaufen musste. Und sie vertraute darauf, dass die Ablenkung ihrer Freund ausreichen würde, um Isay in Schach zu halten, bis sie Anders gefunden hatte.
Er, dessen war sie sich sicher, wusste ohnehin bereits, dass sie alle hier waren. Anders war so tief mit dem Schloss verwurzelt, dass er jeden ihrer Schritte erspüren konnte, ehe sie ihn machte.
Er würde nicht alleine sein. Irgendjemand war bei ihm. Jemand, der sich ihr möglicherweise in den Weg stellen und versuchen würde, sie aufzuhalten. Jemand, den sie vielleicht überwinden musste. Der Magen des Mädchens krampfte. Alex versuchte, sich innerlich zur Ruhe zu zwingen, doch nun schien undenkbar, dass sie jemals wieder Frieden finden würde. Sie war aufgewühlt. Das kurze, aber intensive Gespräch mit Darias offenbarte ihr, wie wichtig die Verbindung zwischen ihm und Eyndor eines Tages sein könnte und wie gefährlich es war, dieses Geheimnis zu kennen.
Sie huschte fast lautlos die Stufen hinab. Niemand war zu sehen. Alle Krieger mussten von Isay an vorderste Front geschickt worden sein, um das Schloss zu verteidigen. Genau, wie sie es vorhergesehen hatten.
Ihr Herz pochte aufgeregt. Sie kam am Ende der Treppe ins Stocken, warf einen Blick um die Ecke und spähte den Gang hinunter. Nichts. Langsam flüchtete sie sich auf die nächste Treppe. Die, die sie hinab ins Verlies und zu Anders bringen würde. Von irgendwo tief aus dem Inneren der Festung erklang ein dumpfes Pochen, wie ein einzelner Herzschlag. Dicht gefolgt von einer Erschütterung, die die Festung packte und Staub aus den Ritzen rieseln ließ. Ein Lächeln machte sich auf Alex Lippen breit. Reyndra. Tief unter dem Schloss war das, was er mittels Zauberbeitel und Schwarzpulver anstellte mit Sicherheit das, was Isay am meisten auf die Palme brachte, denn von den geheimen Gängen unterhalb des Schlosses gab es keine Aufzeichnungen und niemand, der davon wusste, würde ihm helfen. Das schwarze Schloss trug einen Feind in seinen Eingeweiden, den der Dämon unmöglich erreichen konnte.
Hastig stieß das Mädchen die knarrende Holztür auf, die hinab in die Verliese führte, und registrierte vor allem anderen, dass die Fackeln brannten, dass Licht die Korridore flutete und eindeutig jemand hier war. Jemand, der Anders bewachte und bei ihm geblieben war, nachdem der Tumult losgegangen war.
Sie stieg Stufe für Stufe hinab, bis sie den Gang vor sich sah. Lang, groß und von Licht und Schatten verschlungen. Niemand war dort. Keine Wachen, die auf den Gängen standen, keine Späher, die in Ecken auf sie lauerten. Niemand.
»Anders?«, flüsterte sie in die Stille. Das Knistern der Fackeln war der einzige Laut, der die Leere füllte. »Anders, bist du hier?«
Sie trat auf den Gang, ließ den Blick schweifen und gewahr, dass alle Zellen offen standen. Hier war niemand mehr. Darias hatte sich geirrt. Und sie auch. Isay war offenbar ein Gegner, den sie in ihrem Anflug von Übermut unterschätzt hatten.