»Denkst du, er ist hier?«, fragte Alex und blickte in das zwischen den Felsen klaffende Loch, aus dem ihr die Dunkelheit entgegen spie. »Er sagte, er habe den Drachen in eine Höhle eingesperrt. Es ist noch ein gutes Stück bis zum Schloss hin.«
»Es ist die einzige Höhle weit und breit«, gab Eyndor zu bedenken, kam näher und beugte sich vor, um mit zusammengekniffenen Augen in die Schwärze zu blicken. Die Fackel in seiner Hand reichte kaum aus, um den Eingang auszuleuchten; ein riesiges im Fels klaffendes Loch aus unendlicher Finsternis. »Ich kenne diese Gegend wie meine Westentasche. Er muss diese hier gemeint haben.«
Alex fand es seltsam, dem Schloss, in dem man Anders gefangen hielt so nahe zu sein, und doch mit leeren Händen dazustehen. Sie sah zurück und bemerkte, dass Reyndra und Nuin respektvoll Abstand zu ihnen hielten. »Die beiden werden uns keine große Hilfe sein«, bemerkte sie gedankenverloren.
»Sie werden versuchen, den Drachen zu fangen, und wir treiben ihn hinaus.« Eyndor zuckte die Achseln. »Es war deine Idee. Hältst du den Plan nicht mehr für ausreichend?«
»Doch, doch«, wehrte das Mädchen ab. Doch tief in ihrem Inneren glaubte sie nicht an das, was sie sagte.
Sie begegnete dem fragenden Blick des Kriegers - und hatte plötzlich das Gefühl, Anders anzusehen. Rasch sah sie fort und konzentrierte sich auf einen Punkt in der Ferne. Es stimmte. Tief in sich wusste sie, dass das, was sie gesehen und gehört hatte, die Wahrheit wahr. Der Verdacht hatte sich ihr erstmals aufgedrängt, als Anders sie und Eyndor losgeschickt hatte, um die Zutaten für den Zauber einzusammeln. Doch damals hatte sie ihre Ähnlichkeit abgetan und sich gezwungen, nicht weiter darüber nachzudenken. Nun, nachdem sie die Wahrheit kannte, konnte sie das nicht mehr. In jeder seiner Bewegungen, in jedem Gedanken, jedem Wort und jedem Atemzug spürte sie die Verbundenheit zwischen dem Krieger und dem Engel. Eyndor ahnte nichts davon, und Alex beschloss, sie würde keinesfalls diejenige sein, die es ihm sagen würde.
Mit einem Mal fügten sich all die losen Puzzleteile zusammen. Anders hatte nach dem Tod seiner Liebsten einen bösen Zauber ausgesprochen und die Götter hatten seinen Sohn zur Strafe verflucht. Sie hatten ihm die Aufgabe überantwortet, das Chaos zu bereinigen, das der Engel angerichtet hatte. Und als Anders schließlich davon erfuhr, hatte er seinerseits alles daran gesetzt, dieses Unrecht aus der Welt zu schaffen. Er hatte die Schuld für sein Handeln auf sich genommen und die Götter erzürnt. Der Plan des Schicksals war zunichtegemacht und plötzlich war das ganze Machtgefüge Andheras durcheinandergeraten. Unwissentlich hatte Anders selbst das Unheil in Gang gesetzt, das nun dafür verantwortlich war, dass ihm so viel Unrecht widerfuhr. Und nun machte es auch Sinn, dass er seiner eigenen Gefühle nicht mehr Herr geworden war, nachdem er erfahren hatte, dass Isay ihm weggenommen hatte, was ihm das Wichtigste auf dieser Welt war: die letzte Erinnerung an die Frau, die er so sehr geliebt hatte, dass er nach ihrem Tod in ein Loch gefallen war, aus dem er allein nie hätte entkommen können. Plötzlich verstand sie die Distanz, die er zu dem jungen Krieger wahren musste, um sich und ihn zu beschützen und auch die vielen Geheimnisse, die er nicht mit ihm teilen konnte. Sie versuchte nicht sich vorzustellen, was Anders erlitten hatte, als Isay ihm das Leben seines eigenen Kindes im Tausch für das Niederlegen seines Kampfes angeboten hatte. Aber der Gedanke war allgegenwärtig.
»Bist du wirklich in Ordnung?«, fragte der Krieger. Seine Stimme durchdrang den zähen Schleier ihrer ungeordneten Gedanken und zwang sie zurück ins Hier und Jetzt. »Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Nein, wirklich«, wehrte sie ab. »Alles gut. Lass uns schauen, ob der Drache noch hier ist.«
Aber ansehen konnte sie ihn nicht mehr. Sein Blick, sein Stolz, die klugen Gedanken hinter seiner Stirn - alles erinnerte sie daran, dass sie selbst gesehen hatte, wie schlecht es um den Schwarzen Engel stand. Was, wenn er je erfuhr, was sie längst wusste?
Eyndor wusste, dass eines seiner Elternteile viel mehr als ein Mensch gewesen war. Doch was, wenn ihm klar wurde, dass er zur Hälfte Engel, zur Hälfte Dämon, und auch halb Mensch war? Verbarg sich das Dunkle, das seit jeher Anders Leben dominierte, auch in ihm?
Mit einem Nicken wandte sich der verunsicherte Krieger von ihr ab und verschwand in dem tiefdunklen Loch. Der Schein seiner Fackel verteilte ein flackerndes, unbeständiges Licht, das an den Wänden nur als schwacher Schein erkennbar war. Der Gang, in den sie eintauchten, war riesig. So gewaltig, dass Alex keinen Augenblick daran zweifelte, dass ein Drache hier Platz finden konnte.
Sie versuchte sich die seelenlosen Augen des Ungeheuers in Erinnerung zu rufen und es funktionierte. Ihr Bewusstsein verdrängte all die schlimmen Gedanken rund um Eyndors Herkunft und konzentrierte sich ganz auf das Ungeheuer, nach dem sie suchten. War er hier? Lauerte das Ungeheuer in den Schatten und beobachtete sie möglicherweise?
»Du schnaufst«, ließ Eyndor sie wissen. »Atme ruhig, sonst wirst du uns verraten. Es gibt Kreaturen, die deinen Herzschlag hören und deine Angst wittern können. Entspann dich.«
»Du sagst das so einfach«, seufzte das Mädchen. »Und wenn der Drache hier ist?«
»Dann treiben wir ihn hinaus und überlassen ihn Reyndra und Nuin. Er wird ihnen nicht entkommen.«
»Wie werden sie ihn einfangen?«
»Das«, erwiderte der Krieger zufrieden, »überlass Reyndra. Er hat schon ganz andere Kreaturen für Isay gefangen.«
Sie versuchte, seinen Worten zu lauschen, aber das Blut pochte lauthals in ihren Ohren. Und plötzlich war ihre Selbstkontrolle wie weggeblasen. Ihre Muskeln spannten sich. Sie achtete konzentrierter auf ihre Atmung, aber ihr schien, sie würde niemals mehr entspannt ausatmen können.
»Hat Isay ihm vertraut?«
»Reyndra war sein bester Mann.«
»Und jetzt? Ist er ihm zu alt geworden?«
»Reyndra hat Anders schon vor langer Zeit darum gebeten, gehen zu können, sollte ich ihn dort nicht mehr brauchen. Und Anders gewährte ihm diesen Wunsch. Ihre Freundschaft war ohnehin alles, was Ryndra davon abhielt, die Flucht zu ergreifen. Inzwischen scheint Isay ja glücklicherweise Ersatz gefunden zu haben. In Darias.«
Darias. Der Darias, der mit dem Methoden seines Herrn alles andere als einverstanden war? Doch wie sollte sie Eyndor davon erzählen, ohne auch den Rest ihres Traums zu offenbaren? Alex kaute angespannt auf ihrer Unterlippe herum, während sie den Gang hinab spähte, so weit das Licht reichte. Vor ihnen gabelte sich der Weg und führte in zwei Gängen tiefer in den Berg hinein. Der rotgoldene Lichtkegel tanzte zuckend über die Felswände. In seinem Schein zeichneten sich hier und da die Konturen von Spinnenbeinen und Mäusen ab, die über die Pfade huschten. Doch bisher gab es keinerlei Anzeichen für Drachen.
Fasziniert hob das Mädchen die Hand und ließ ihren Zeigefinger über die felsigen Wände streichen. Der Stein war rau und kratzte angenehm an ihrem Finger. Und er war warm.
»Eyndor?« Abrupt blieb sie stehen, lief zur Wand auf der anderen Seite und berührte diese ebenfalls. Sie wirkte kühler. »Sieh mal.« Sie deutete ein Nicken in Richtung ihrer auf dem Stein ruhenden Hand an und Eyndor tat es ihr gleich.
Schmunzelnd kam er auf sie zu, zog sie an sich und berührte mit den Lippen flüchtig ihren Scheitelansatz. »Kluges Mädchen. Von dir kann selbst ich noch eine Menge lernen.« Er löste sich rasch von ihr und huschte in den Gang hinein, dessen Wände Drachenfeuer erahnen ließen, und ließ Alex mit einem seltsamen Gefühl im Bauch zurück.
Es fühlte sich ungerecht an, ihn im Ungewissen zu lassen, denn er schien, genau wie sie, die Verbindung zu spüren, die sie vom ersten Augenblick an durchströmte. Etwas zog sie mit jedem Tag mehr zueinander hin, wie ein Sog, den die Götter befehligten, um ihnen noch mehr Steine in den Weg zu legen. Wieso musste ausgerechnet er ein so grausiges Erbe antreten? Weshalb musste er der Sohn eines gefallenen Engels sein?
Ihr Weg wurde schmaler, doch er war noch immer breit genug, um einem schlangenähnlichen Drachenleib Durchlass zu gewähren. Sie ließ die Finger über die Felsen streichen und spürte, dass der Berg wärmer wurde, je tiefer sie in sein Inneres vordrangen. War dies ein erstes Anzeichen dafür, dass der Drache tatsächlich hier war?
Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie in die Ferne. Weit vor sich wurde es heller. Nicht, dass die Finsternis durchbrochen wurde, nein, sie wandelte sich nur. Aus der rabenschwarzen Dunkelheit bildete sich ein Reich aus unterschiedlichen Grautönen, was darauf hindeutete, dass hinter diesem Gang eine Kammer liegen musste, in die von irgendwo Tageslicht fiel. Und so war es.
»Bleib hinter mir«, bat Eyndor sie, während er sich aus dem Gang in die angrenzende Kammer schob und die Hand mit der Fackel hob. Doch ihr winziges Licht verlor sich in der Weite der Höhle.
Die Decke lag so weit oben, dass Alex nur mit zusammengekniffenen Augen Stalagtiten sehen konnte, die über Jahre hinweg gebildet worden waren. An einigen von ihnen hingen glänzende Wassertropfen, die sich in die pechschwarze Haut eines lichtlosen Sees ergossen, der im Herzen der gewaltigen Höhle lag. Er maß gut dreißig Schritte in jede Richtung. Seine Oberfläche schien zu schlafen und erwachte nur dann kurz zum Leben, wenn ein Tropfen auf ihre zarte Haut traf und mit ihr verschmolz. Großer werdende Ringe tanzten über das Wasser und verebbten danach wie geisterhafte Schatten. Durch ein großes, in der Decke klaffendes Loch war der Himmel zu sehen. Ein breiter Lichtstrahl traf auf Wasser und Felsen und schien fast vollkommen von ihnen verschluckt zu werden. Lediglich ein Ableger des Sonnenlichts fiel auf den großen Schemen, der am Wasser lag. Der gewaltige Schuppenschwanz hing in die dunklen Fluten hinab, der Leib des Drachen schien reglos und sein Kopf war hinter seinem zusammengekauerten Leib verborgen. Lediglich seine Brust, die sich sehr langsam hob und senkte, verriet, dass er am Leben war. Unter seinem Bauch hatte sich ein See aus rubinrotem Blut gesammelt. Er lag darin, und obwohl er nicht mehr zu bluten schien, wartete der Tod bereits auf ihn.
Mit einem Grollen hob das riesige Tier den Kopf. Seine matten Augen öffneten sich und richteten sich auf die Eindringlinge, ehe das Haupt des Wesens wieder auf den Steinboden niedersank. Sein gewaltiges Maul öffnete sich und Rauch drang daraus hervor, doch er spie kein Feuer mehr.
»Offenbar hat Anders ganze Arbeit geleistet«, fluchte Eyndor. »Sieht nicht so aus, als würde er uns noch viel nützen.«
Alex zuckte die Achseln. Sie erinnerte sich an den Angriff zurück und an die Frucht, die sie im Angesicht des Ungeheuers verspürt hatte. Nun war von alledem nichts mehr geblieben. Sie fühlte, wie das Leben aus dem Schlangenleib glitt und wusste, seine Zeit war abgelaufen. Die Begegnung mit Anders Engelsmacht, würde ihn das Leben kosten und ihnen die letzte Möglichkeit nehmen, Eyndor ins Schloss zu bringen.
Trauer übermannte sie. Sie trat einen Schritt auf den Drachen zu und Eyndor packte sie entsetzt am Arm. »Was hast du vor?«, fuhr er sie an. »Ein in die Enge getriebenes Tier ist gefährlich, und er stirbt sowieso.«
»Er ist aber noch nicht tot.« Rasch riss sich das Mädchen los und näherte sich dem Drachen vorsichtig. Der Blick seiner lichtlosen Augen ruhte auf ihr. Es fühlte sich an, als schaute er durch ihre Haut hindurch geradewegs in ihre Seele hinein. Doch nachdem sie Anders kennengelernt hatte, wusste sie, dass dieses Gefühl ein anderes war. Konnte ein Drache überhaupt so weit denken? Besaß er ein Bewusstsein und Intelligenz oder agierte er lediglich wie ein Tier, das seinen Instinkten folgte?
Je näher sie kam, desto interessierter schien der sterbende Drache an ihr. Sein schmaler Hals machte sich lang, reckte sich ihr entgegen, und als sie die Hand ausstreckte, berührte sein Maul ganz kurz ihre Finger. Seine Haut kochte. Unter seinen Schuppen schwelte es. Er blinzelte.
»Alex, bitte geh da weg.« Eyndors Stimme zitterte.
»Denkst du nicht, wenn er uns hätte umbringen können, hätte er es nicht längst getan?«
»Mir wäre dennoch wohler, wenn du aufhören würdest, ihn zu ärgern.«
»Ihn ärgern?!« Alex fuhr herum und funkelte den Krieger wütend an. »Er stirbt. Schau ihn dir doch an. Ich ärger ihn nicht. Ich will ihm zeigen, dass er keine Angst haben muss.«
»Du hingegen solltest Angst haben!«
Das Mädchen rollte mit den Augen, fuhr herum und streckte erneut die Hand aus. Sie hielt so weit Abstand, dass sie mit einem Sprung von dem Drachen fortkommen konnte, doch das Ungeheuer atmete träge. Es blinzelte, als wären seine Augen müde und berührte kurz erneut ihre Hand, ehe es den Kopf auf einen Felsen bettete und keine Anstalten machte, ihn noch einmal zu heben.
»Hast du denn keine Angst?«
Alex schrak zusammen, und zog die Hand zurück. Sofort riss Eyndor sein Schwert hervor und schritt an ihre Seite. Die Stimme, die eben aus dem Nichts gekommen war, gehörte nicht ihnen. Jemand war hier. In den Schatten blitzte es auf. Zwei smaragdgrüne Augen funkelten in der Halbfinsternis. Blinzelten.
»Wer ist da?«, rief Eyndor mit erhobener Stimme in die Weite der Grotte. »Zeige dich!«
»Nicht, solange du mit einer Waffe auf mich zielen würdest«, erwiderte die Stimme und plötzlich dämmerte Alex, dass sie diese schon einmal gehört hatte. Damals, als sie noch nicht ganz überzeugt davon gewesen war, auf welcher Seite Anders stehen würde. In seinem Gemach.
»Eyndor, nimm die Waffe runter«, bat sie den Krieger mit einem leisen Flüstern, drehte den Kopf und schaute ihn an. »Bitte.«
»Alex, ich-«
»Ich weiß genau, wer das ist«, ließ sie ihn wissen und wandte sich erstmals von dem schwer atmenden Drachen ab. »Ich kenne dich!«, ließ sie die Stimme wissen, sah sich um und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Ich habe deine Stimme gehört, als du ihn im Schloss aufgesucht hast. Und ich weiß, dass du ein Freund bist. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Wenn ich Angst hätte«, fuhr die Stimme fort und plötzlich strich etwas schnurrend um die Beine des Mädchens, »wäre ich dann hier, um zu helfen?«
»Um zu helfen?«, wiederholte Eyndor mit zweifelhaftem Verständnis. Er sah sich mit zusammengekniffenen Augen um und schien selbst nicht mehr zu sehen, als Alex selbst. Doch das Schwert war aus seinen Fingern verschwunden und Alex spürte, wie sich Erleichterung in ihm breitmachte. »Wer bist du?«
»Ich bin Meliar«, antwortete die Stimme leise. »Ich bin die Hüterin aller sterblichen Träume. Die einzige Göttin, die nach dem großen Göttersterben und ihrem Verschwinden zurückgekehrt ist.« Ein Seufzen dicht hinter ihr ließ Alex herumfahren. Und da saß sie. Auf einem abgeflachten Stalagtiten hatte es sich eine große, weiße Katze mit sehr viel Fell und strahlenden, grünen Augen bequem gemacht. Ihr buschiger Schwanz pendelte leicht hin und her, während sie die rechte Pfote vors Gesicht gehoben hatte, und langsam ihren Handrücken leckte. Dabei spähte sie, über ihre Pfote hinweg den beiden Eindringlingen entgegen. »Du musst Eyndor sein. Ich bedaure sehr, dir nicht eher begegnet zu sein, aber ich bin bereits ein hohes Risiko eingegangen, als ich mich dem Duklen Prinzen zu erkennen gab. Und du..« Ihr Blick flog in Richtung des Mädchens und blieb dort liegen. »Du bist der unheilvolle Schlüssel, den Anders erschaffen hat, um mich und meinesgleichen noch einmal zu verspotten. Wie ist dein Name?«
»Alexandra.«
»Wenn ich euch betrachte«, sagte die Kätzin, »dann kann ich begreifen, weshalb der Schwarze Engel voller Zuversicht in seiner Zelle sitzt und sich weigert, den Glauben in euch aufzugeben.«
Eyndor keuchte hörbar. »Du hast ihn gesehen? Wie-«
»Es geht ihm gut«, gab die Katze zurück. Sie zwinkerte spitzbübisch. »Er ist sehr stark und Isay weiß, dass er ihn nicht brechen kann. Er wird es nicht versuchen und direkt den falschen Weg wählen. Ihm liegt daran, die Kiste aufzubrechen, in der zu Unrecht das Herz eures missratenen Freundes liegt. Ich bin kein Verfechter des Pfades, den Anders für sich und sein Leben gewählt hat. Ich halte es für zweifelhaft und falsch, sich seiner eigenen Gefühle zu berauben, aber mich hat niemand nach meiner Meinung gefragt. Und auch, wenn es die Dinge nicht einfacher macht, muss ich seine Entscheidung akzeptieren. Was ich aber nicht dulden kann, ist der Umstand, dass dieses Herz in den falschen Händen schier unendliche Zerstörung anrichten und den Tod bringen kann.«
»Aber es.. ist nur ein Herz.« Alex zuckte die Achseln. »Irgendwie kann ich nicht verstehen, wie ein Herz über diese Macht verfügen soll.«
»Weil es eben nicht nur ein Herz ist. Und es gehörte auch nicht irgendeinem Engel. Es gehörte ihm. Und es ist stark. Es ist das Herz eines ganz besonderen Kerubs. Anders ist ein..« Sie schmunzelte amüsiert, »launischer Fehler der Natur. Der eine, der fühlen kann, der Leid und Liebe, Sehnsucht und Hoffnung kennt. Der, der nie wie die anderen sein wird, weil dieses Herz ihn von allen anderen trennt.«
»Ich verstehe nicht..«
»Natürlich nicht«, gab die Göttin trocken zurück. »Wie könntest du auch, Erdenmädchen? Die Geschichte eures Freundes ist kompliziert. Dieses Herz ist einzigartig. Dass ihm diese Gefühle zum Geschenk gemacht wurden, war ein fataler Fehler, der sich niemals wiederholt hat. Wir Unsterblichen, wir Schöpfer des Himmels und der Erde, wir fühlen nicht, wie ihr. Wir lieben nicht, wir trauern nicht, wir fühlen weder Scham noch Schuld. Aber Anders fühlt es. Seit jeher wandelt er zwischen unserer und eurer Welt und war keiner von ihnen je zugehörig. Es gibt, es gab, und es wird niemals mehr ein Herz wie seines geben.«
»Er sagte, er kann sich an nichts erinnern, was vor seinem Erwachen in dieser Welt geschah.«
Die Kätzin nickte. »Und er hat nicht gelogen. Seine Erinnerungen sind fort, und wir dachten, auch der Kampf, den er in sich austrägt, würde enden, aber wir irrten uns. Es wurde nur kurzzeitig besser, weil er jemanden fand, der ihn für eine Weile ins Licht ziehen konnte.«
»Seine Geliebte«, vermutete Alex und fügte in Gedanken Eyndors Mutter hinzu, wagte jedoch nicht, es auszusprechen. Doch ihr Blick glitt unweigerlich zu dem Krieger hinüber und mit einem Mal fühlte es sich an, als würde sie ihn wissentlich betrügen.
»Anders beschloss, dass es am tiefsten Punkt seines Kampfes Zeit war, das Handtuch zu werfen. Er erschuf einen Zauber, der im Stande dazu war, ihn und sein Herz zu trennen und um sicherzugehen, dass er selbst nie in Versuchung geriet, all seine unheilvollen Kräfte erneut zu entfesseln, sorgte er mit einem Zauber dafür, dass er der Letzte war, der diesen Bann brechen konnte. Aber dazu muss ich dir nicht viel sagen, Mädchen. Nicht wahr? Er nahm in Kauf, dass Andhera langsam zu Grunde ging, und zog sich zurück. Es war nicht der beste Weg, aber es war seine Entscheidung. Und nun versucht Isay fieberhaft, alles zunichte zu machen, was Anders aufgebaut hat. Er hat große Magier an seiner Seite, und mit genügend Zeit und Ausdauer werden sie irgendwann den Bann brechen, den Anders auf die Kiste gelegt hat. Gelingt es Isay, den Schwarzen Engel mit all seinen dunklen Gefühlen erneut zu vereinen, wird Anders vielleicht eine Weile durchhalten, aber es wird wieder geschehen. Es wird ihn ins Dunkel ziehen und er weiß, als es das letzte Mal geschah, schuldete er die Frau, die ihn rettete, einem großen Zufall. So war es nicht gedacht.«
»Dann ist das verborgene Wesen des Schwarzen Engels so finster, wie alle behaupten.« Ein Hauch von Kälte kroch Alex die Beine hinauf und manifestierte sich im Zentrum ihrer Eingeweide. »Und Isay plant, zurückzuholen, was Anders ihm weggenommen hat. Er will wieder einen Verbündeten haben.«
Die Katze antwortete diesmal nicht gleich, sondern kniff die Augen zusammen und musterte das Mädchen schweigend. Mit einem grazilen Sprung huschte sie von dem Felsen hinunter und durch die Halbschatten zu dem Drachen hin. »Ihr müsst mir euer Wort geben, dass ihr es zu verhindern versucht, denn ich gab Anders mein Versprechen, dass ich ihm helfen würde. Ihr müsst ihn befreien, und zwar bevor Isay diesen Zauber bricht, und Anders nicht mehr zu retten ist.«
»Wir-«, setzte Alex an, doch Eyndor fuhr ihr ins Wort.
»Und wieso habt ihr, wenn alles so einfach ist, entschieden, das Schicksal Andheras in meine Hände zu legen?«
Alex drehte sich vollends zu ihm um und bemerkte erst jetzt, dass der Krieger vor Anspannung am ganzen Leib bebte.
»Weil niemand wusste, dass der Schwarze Prinz so sehr die Kontrolle verlieren und Andhera ins Verderben stürzen würde. Es brauchte einen Helden, der sein Unrecht sühnen konnte, ohne seine Vergangenheit zu teilen. Jemanden, der im schlimmsten aller Fälle, vielleicht auch ihm eines Tages Einhalt gebieten könnte.« Die Katzengöttin wandte sich von ihm ab, ohne seiner Erregung Interesse beizumessen. »Aber dein Freund durchkreuzte dieses Vorhaben. Er wollte dich retten, und nun musst du ihn vor seinem Schicksal bewahren.«
Stolz tänzelte sie zu dem Drachen hinüber. Was genau sie bei ihm tat, war für Alex und Eyndor nicht zu erkennen. Doch irgendetwas geschah mit dem Untier. Etwas bewegte sich in ihm und um ihn herum. Die Luft flirrte, Wärme breitete sich um ihn herum aus, und plötzlich waren seine Augen nicht mehr matt, sondern loderten hell und strahlend. Die Echse bewegte sich nicht, aber ihr Herz schlug stärker, ihre Atmung wurde tiefer und kräftiger und als er schließlich den Kopf hob, war er wieder ganz das bedrohliche Raubtier, das Anders und Alex angegriffen hatte.
»Nun«, sagte die Katze, »wird euch der Drache folgen. Wartet, bis es Morgen wird, und dann holt den Schwarzen Engel aus dem Verlies, in dem er sitzt. Und denkt an meine Worte: Versagt ihr, werdet ihr Anders vielleicht nicht retten können.«
»Wir werden nicht versagen. Wir werden Isays Herrschaft stürzen und Anders befreien«, entschied Alex, aber die Katze war bereits verschwunden und nur die klugen, auflodernden Augen des Drachen musterten sie, während sie sich mit einem triumphierenden Grinsen zu Eyndor umwandte. »Und du denkst immer, Wunder passieren nicht, wenn man sie am nötigsten hat.«
»Ich glaube nicht, dass man das Erscheinen einer Göttin als zufälliges Wunder bezeichnen kann.«
Augenrollend trat Alex an ihm vorüber und näherte sich mit ausgestreckter Hand dem Drachen. »Du könntest auch einfach mal etwas als Zufall hinnehmen, ganz egal, ob es einer war. Würde dir guttun, ein wenig Hoffnung in das Schicksal zu haben.«
Der Krieger schwenkte die Fackel in der Hand hin und her. »Wenn Anders wüsste, was ich mir alles von einem Erdenkind bieten lassen muss, seit er fort ist, würde er-«
»Er würde mir danken«, entschied Alex und bettete mit angespannten Muskeln eine Hand auf die Schnauze des Drachen. »Dass wenigstens ich noch daran glaube, dass wir es schaffen können.« Sie zwinkerte dem Krieger zu, wurde dann aber schlagartig wieder ernst. »Los, es gibt viel zu tun.«