Aus goldenen Augen
Zwischen den Zweigen fielen einzelne Sonnenstrahlen hindurch. Alex blinzelte den Schleier fort, der auf ihren Augen gelegen hatte, und schaute hinauf in den beinahe wolkenlosen Himmel. Über ihr ragte die knöcherne Krone eines Baumes auf, der keine Blätter trug. Seine Struktur war uneben, seine Rinde schlohweiß und er strahlte etwas ab, das kalt und nicht lebendig war. Mühevoll setzte sie sich auf, stemmte sich hoch und schaute um sich.
Die dicken Wurzeln des trostlosen Baumes wuchsen krumm über die Erde, bis sie im harten Untergrund verschwanden. Hier, in diesem seltsamen Wald reihe sich ein verknöcherter Baum an den nächsten. Ihre Äste waren dünn, wirkten, wie brüchiger Gips und wippten leise knarrend im Wind. Dabei verursachten sie ein Geräusch, das wie das Prasseln eines Feuers klang.
Angespannt versuchte das Mädchen, zwischen den Bäumen hindurchzusehen. Sie erinnerte sich daran, abgestürzt und gefallen zu sein. Wie war sie in den Wald gekommen?
Ein leises Fiepen erweckte ihr Interesse. Sie drehte sich nach dem Laut um und sah, dass unweit hinter ihr ein Geschöpf auf dem Boden lag. Etwas, das genauso unwirklich war, wie das Wesen, das sie gezeichnet hatte. Eine große Kreatur, deren Körper mit braunem Fell bedeckt war. Zwei große, zusammengefaltete Vogelschwingen mit goldenen Federn ruhten auf ihrem Rücken und hoben und senkten sich träge, wenn das Wesen atmete.
Was auch immer es war, es war groß wie ein Elefant. Dort, wo Sonnenstrahlen auf das weiche Fell fielen, erschien es golden zu sein, wie die riesigen Flügel. Alex wich zurück. Sie duckte sich hinter einen Baum und spähte zwischen den Zweigen hindurch. Dort, auf einer der großen Pranken, des eigenartigen Geschöpfes saß die kleine, weiße Ratte mit geschlossenen Augen. Joshua lebte. Und er saß geradewegs auf dem Körper des Untiers.
Wieso konnte nicht ein einziges Mal alles einfach sein? Wieso nicht einmal alles funktionieren?
Alex wusste es. Insgeheim kannte sie die Antwort. Irgendjemand hatte sie großzügig mit einer Gabe beschenkt, von der viele Menschen nur träumen konnten. Man hatte ihr eine Aufgabe anvertraut und diese forderte ihren Preis. Nicht auf einmal, sondern gestückelt, immer mal wieder. Deshalb würde, solange sie lebte, niemals irgendetwas einfach sein.
Angesichts dessen, dass dies nicht das erste Mal war, dass sie etwas sah, was sie nicht glauben konnte, erholte sie sich schneller als gedacht von dem anfänglichen Schrecken. Ihre Augen waren an ungewöhnliche Dinge gewöhnt, ihr Kopf hatte sich damit abgefunden und inzwischen reagierten ihre Instinkte schneller auf neue Situationen. Ja, nach all den seltsamen Dingen, die ihr bislang widerfahren waren, hatte sie eine zweite Gabe entwickelt: die Akzeptanz gegenüber dem Befremdlichen. Im Grunde hatte sie niemals eine Wahl gehabt. Vom ersten Tage an, seit sich ihre Gabe entwickelte, war sie gezwungen gewesen, sich mit all den Eigenwilligkeiten des Lebens irgendwie zu arrangieren, und mit der Zeit, war es immer leichter geworden.
Sie schloss die Augen, atmete zweimal tief durch und schlug die Lider hoch. Das Wesen war noch immer da und Joshua lag noch immer auf dieser gewaltigen Pranke.
Vor ihrem geistigen Auge zählte das Mädchen bis drei. Dann huschte sie flink hinter dem Baum hervor und wenige Meter weiter hinter den nächsten, duckte sich und wartete. Von der Seite konnte sie die Umrisse des Geschöpfes nun klarer erkennen. Es war riesig. Vom Körperbau glich es einem groß geratenen Löwen. Ein dünner, nicht buschiger Schwanz bewegte sich hin und wieder. Seine Pranken waren groß wie Hufe. Das Wesen atmete tief, als ob es schlief. Doch sein Kopf war hinter dem mächtigen Schultergelenk verborgen, sodass Alex nur erahnen konnte, ob seine Augen geschlossen waren oder nicht. Was sie jedoch sah, war der weiche Übergang am Hals der Kreatur von Fell zu Federn. Die goldenen Federn, die seine Flügel bildeten, setzten oberhalb des Genicks erneut an und zogen sich nach obenhin fort. Es war kein Löwe und es war auch kein Vogel.
Eine Stimme erwachte hinter Alex Stirn und erinnerte sie daran, dass sie von einem solchen Wesen schon einmal gehört hatte. Halb Vogel, halb Löwe und beides nicht genug, um ihnen zugehörig zu sein.
Dieses Wesen war ein Greif. Ein, der Fabel entstammendes Wesen, das es nicht wirklich gab. Nicht in ihrer Welt.
Sie schluckte, huschte ein paar Meter weiter nach rechts und reckte den Kopf, bis sie das Haupt des Untiers sehen konnte. Ruhig lag ein großer Kopf auf einer der mächtigen Löwenpranken. Es war der Kopf eines Adlers; eines großen Raubvogels mit angelegten, glänzenden Federn, einem krummgebogenen, bronzefarbenen Schnabel und luchsähnlichen Ohren, an deren Spitzen winzige Fellbüschel hingen.
Joshua bewegte sich. Flink flitzte die Ratte über die Pranke des Untiers zu dessen Körper hin und war urplötzlich verschwunden.
Alex seufzte. Sie ließ sich zu Boden sinken, duckte sich hinter eine besonders dicke Wurzel und grübelte nach. Ihre Situation war einfach: Wenn sie fortlief, solange das Greifenwesen schlief, hatte sie vielleicht eine Chance zu entkommen. Der Haken an der Sache war, dass sie alleine gehen und Josh zurücklassen musste. Ihn zu suchen, bedeutete das Wesen möglicherweise aufzuwecken und sie wusste nicht annähernd, welchen Dämon sie damit befreite. Aber das konnte sie nicht. Nach allem, was bisher geschehen war, nachdem sie beinahe abgestürzt war beim Versuch, die dumme Ratte zu retten, war es undenkbar, dass sie jetzt einfach ging und Josh zurückließ.
Es ging einfach nicht.
Gedanken fluteten ihr Bewusstsein. Ein Plan musste her. Sie hatte nur dann eine Chance, wenn es ihr gelang, das Ungeheuer abzulenken, sodass sie Joshua holen konnte. Und dann? Mit den Augen suchte sie den Himmel nach irgendetwas ab, das ihr bekannt vorkam, doch weit und breit war nichts anderes zu sehen, als strahlendes Blau. Sie war nicht einfach nur abgestürzt. Sie war abgestürzt und von dort weggebracht worden. Irgendjemand hatte ihr das Leben gerettet und sie dann mit diesem Ungeheuer alleine gelassen.
Sie musste irgendetwas tun. Schnell. Mit den Augen suchte sie den Boden ab und fand einen abgebrochenen Ast. Mit zwei Fingern bekam sie ihn zu fassen, zog ihn näher zu sich und betrachtete ihn kurz. Was sie vorhatte, war gefährlich und dumm. Sie holte weit aus, zielte auf den Kopf des Greifen und warf. Sofort duckte sie sich tiefer ins Unterholz und wartete.
Mit einem dumpfen Schlag traf der Ast den Kopf des Untiers. Sein stolzes Adlerhaupt fuhr in die Höhe, gepaart mit einem wütenden Schnauben. Regung fuhr durch seinen schlanken Leib. Es schlug die ockerbraunen Augen auf und sah sich wachsam um. Die Ohren seitlich an seinem Kopf zuckten, dann beruhigte sich sein Blick. Die Kreatur hielt inne, senkte den Kopf und zog mit dem Schnabel die weiße Ratte am Schwanz zwischen seinen verschränkten Pfoten hervor.
»Mädchen!«, erschallte eine tiefe, dunkle Stimme, die wie Donnergrollen klang. »Hier ist dein Freund.« Alex stutzte. Aus ihrem Versteck heraus sah sie, wie sich der Greif langsam aufrichtete. Sein Kopf neigte sich herab, sein Rückgrad spannte sich; er streckte sich nach einem tiefen Schlaf. »Meine Nase ist etwas besser als deine. Du willst nicht, dass ich anfange, nach dir zu suchen und ich will dich nicht mehr erschrecken, als ich scheinbar schon getan habe.«
»Du kannst sprechen?«, rief Alex aus ihrem Versteck heraus. In ihrer Brust klang das Herz wie ein Trommelspieler. Es schlug Rhythmen, die nicht dorthin gehörten, und jagte hektisch Blut durch ihre Venen. In all den Jahren, die sie nun schon durch Spiegel sprang, war sie nie einem Geschöpf begegnet, das ihre Sprache verstanden hätte.
»Du doch auch?«, fragte der Greif, während sich sein Kopf verwirrt, aber wachsam, zur Seite neigte. »Ich habe deine Ratte gefunden. Möchtest du deinen Freund nicht wiederhaben?«
Alex hielt den Atem an. War das sein Ernst? Sollte sie ihr schützendes Versteck aufgeben und tun, als würde sie diesem riesen Ungeheuer vertrauen? »Wer sagt mir, dass du mich nicht frisst, wenn ich herauskomme?«
»Dich fressen?« Der Greif lachte. Ein dunkles Glucksen schob sich aus seiner Kehle und klang dabei beinahe wie ein Gackern. »Ich fresse Füchse, Katzen, Vögel und vielleicht mal einen Dachs. Aber ganz bestimmt keine Menschen. Ihr seid schwer bekömmlich und nicht halb so schmackhaft, wie klug. Wieso sollte ich eine Beute jagen, die es mir so schwer machen kann, wie du?«
»Dann«, entschied sie, dachte an Joshua und daran, wie er sich in Gegenwart eines so großen Jägers wohl fühlen musste, »komme ich jetzt raus. Bleib, wo du bist!« Obwohl ihr alle Instinkte dazu rieten, einfach kehrt zu machen und durch das Unterholz zu rennen, setzte sie sich langsam auf. Ihre Finger bebten. Sie kam auf die Füße und blieb einen Augenblick völlig reglos stehen. Der Blick des Greifen fuhr in ihre Richtung, als würde er sie eingehend und genau betrachten.
»Du bist von einem Felsen gefallen«, sagte der Greif langsam. Seine Augen musterten sie schrittweise von Kopf bis Fuß. Es schien Alex jedoch nicht der Blick eines Wesens zu sein, dass sie im nächsten Augenblick anspringen und verspeisen wollte. Irgendetwas an der Art seines Blickes, der Ruhe in seinem Wesen und der Ausstrahlung, die er verströmte, kam ihr vertraut vor. Das Tier blieb völlig regungslos. Nur sein Blick bewegte sich, als Alex letztendlich den ersten Schritt wagte.
Langsam schob sie sich zwischen den Bäumen hervor, Schritt für Schritt. Die Anspannung fiel langsam von ihren Gliedern ab, aber ganz wollte sie diesem Wesen nicht vertrauen.
»Und?«, rief sie zu ihm hinüber. »Hast du mich gerettet?«
»Ja, ich glaube schon. Wenn du es so nennen magst. Ihr seid mir in die Arme gefallen. Du und dein Rattenfreund.«
»Sein Name ist Joshua.«
»Nun«, erwiderte der Greif, »wir haben bereits darüber gesprochen. Er ist eine sehr kluge Ratte. Und er hat mir auch verraten, dass dein Name Alexandra ist. Du bist durch einen Spiegel hierhergekommen und du wirst durch einen Spiegel zurück nach Hause gehen. Ratten sind äußerst gesprächige Geschöpfe, wenn man sie nicht gleich verspeist. Das wissen nur die wenigsten.«
In diesem Moment kam die kleine weiße Ratte auf den Kopf des Greifen gekrabbelt. Ihre Krallen waren in die weichen Federn geschlungen und so gelang es Joshua spielend leicht, sich daran in die Höhe zu ziehen. Für eine unscheinbare, kleine Ratte, hatte er für meinen Geschmack zu viel zu erzählen.
»Und du?«, hörte sich Alex fragen. »Wie ist dein Name?«
»Nuin.«
Als Alex und das Wesen nur noch wenige Meter trennten, streckte sie sich, um nicht noch näherkommen zu müssen so weit vor, dass sie bei dem Versuch, nach Joshua zu greifen, beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Mit einem Satz sprang die Ratte auf ihre Hand, krabbelte ihren Arm hinauf und schlug sich vorne in eine Falte ihres Pullovers. Sein kleines Herz klopfte so wild, dass das Mädchen es an ihrer Haut trommeln spüren konnte.
Er war müde. Seine schwarzen Knopfaugen blinzelten.
»Vielen Dank, dass du meine Ratte und mich gerettet hast. Aber ich fürchte, wir müssen jetzt gehen. Man wird bemerken, dass ich fort bin und Fragen stellen. Und ich habe in letzter Zeit so viel gelogen, dass ich es kaum ertragen kann.«
»Und wohin gedenkst du, zu gehen?«
»Nur noch nach Hause«, erwiderte das Mädchen. Mit dem letzten gesprochenen Wort spürte sie, wie sehr der Tag an ihren Kräften genagt hatte und wie angegriffen sie sich fühlte. »Durch den Spiegel, durch den ich gekommen bin. Genau wie Joshua sagte.«
Da die Zeit nicht in allen Welten gleich lief, war es möglich, dass in ihrer Welt bereits Nacht war und ihre Mutter inzwischen bemerkt hatte, dass sie nicht auf ihrem Zimmer war. Sie musste nach Hause, Josh in seinen Käfig zurückbringen und sich ausruhen.Nach diesem kräftezehrenden Ausflug, war sie sich selbst eine kleine Pause schuldig.
Der Greif musterte sie angestrengt. »Ich will dich nicht entmutigen, Mädchen, aber ich habe schon seit einer Ewigkeit keinen Spiegel mehr gesehen. Wenn du ihn aus deiner Welt mitgebracht hast, dann hatte er vielleicht keine Zeit mehr, um auf dich zu warten.«
»Nein, nein«, sagte das Mädchen schnell. »Er stand auf den Klippen, auf einer großen Wiese.«
Nuins Augen wurden schmal. »Ich kann dich dorthin bringen, aber ich habe keinen Spiegel gesehen, und ich bin weit und hoch geflogen. Manchmal sind Spiegel launisch und verschwinden, wenn sie nicht festgeschraubt sind. Ich kann mich irren, aber ich glaube nicht, dass er auf dich warten wird.«
»Wenn du sprichst, dann hört es sich an, als hätten Spiegel ein Eigenleben.«
»Und einen eigenen Willen«, setzte der Greif hinzu. »Wie du, wie ich, und wie die kleine Ratte. Hast du das nicht gewusst?«
»Nein. Bei mir zu Hause sind Spiegel nur Gegenstände, die an Wänden hängen. Ich habe nie einen denken sehen.«
»Du hast auch mit Sicherheit noch keinen Greifen denken sehen, und trotzdem bin ich da, und stelle dir Fragen, die dich in Verlegenheit führen. Glaubst du nicht, dass ein Spiegel ebenso im Stillen vor sich hindenken kann, wie ein Mensch?« Kopfschüttelnd musterte das Untier das Mädchen, doch seine Empörung schien gespielt zu sein. »Du bist ein kluges Mädchen, aber du schaust scheinbar nicht über die Länge deiner eigenen Nase hinaus.«
Alex schmunzelte. Etwas an seiner Art gefiel ihr. Selbst wenn ihr der Gedanke, dass sie vor einem echten Greifen stand, in unregelmäßigen Abständen eiskalte Schauer über die Haut laufen ließ, fühlte sie sich in seiner Gegenwart ein wenig beruhigt. Sie war bereits in Welten gelandet, in denen sie möglicherweise die einzige Lebensform gewesen war. Sich mit jemandem unterhalten zu können, war ein Anfang. Vor allem, wenn er sie verstand, und sogar witzig war. »Kannst du mir jetzt verraten, wie ich zu dem Spiegel zurückkomme?«
»Wenn er nicht auf dich gewartet hat«, begann Nuin, »gar nicht. Wenn er noch dort steht, wo du ihn zurückgelassen hast, ist es kein Problem für mich, dich und deinen haarigen Freund, dorthin zu bringen.«
»Du meinst..«
Nuin nickte, und der nächste, eiskalte Schauer kündigte sich an. »Du sprichst vom Fliegen«, stellte das Mädchen fest und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Alex war bei weitem kein ängstlicher Mensch. In ihrem Leben hatte sie oftmals spielend leicht Situationen gemeistert, an denen andere Menschen verzweifelt wären oder aufgegeben hätten, aber geflogen war sie noch nie. Ihre Eltern arbeiteten viel und nutzten ihren Urlaub hauptsächlich, um einmal im Jahr den Rest der Familie zu besuchen, sich mit allen Großeltern, Tanten und Onkel zu vereinen und gemütlich beisammenzusitzen. Zeit für einen Urlaub in einem weit entfernten Land, hatte es nie gegeben. Und deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass Alex trotz ihres Wissens, dass Flugzeuge als ausgesprochen sicher galten, furchtbare Angst davor hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Manchmal ertappte sie sich sogar dabei, dass sie sich für ihre Flugangst schämte. Aber wie sollte man sich seiner Furcht stellen, wenn man nie die Möglichkeit dazu bekam?
Alex schluckte geräuschvoll ihre Angst hinunter. »Ich bin noch nie geflogen«, ließ sie den Greifen schließlich wissen, der sie die ganze Zeit über angespannt beäugt hatte. »Ich weiß überhaupt nicht, ob ich das kann.«
»Du musst es auch nicht können«, erwiderte Nuin daraufhin und zog die Stirn in Falten. »Ich kann es doch. Du musst dich nur festhalten und versuchen, mir keine Federn auszureißen. Den Rest erledige ich.« Sein Kopf neigte sich zur Seite, während er sie musterte. In seinen Augen lag ein seltsames Unverständnis für die Zweifel des Mädchens. Wusste er denn nicht, dass es Menschen gab, die sich vor dem Unbekannten fürchteten? »Also, was sagst du? Andernfalls liegt ein 2-Tages-Marsch vor dir, wenn du auf den Berg hinauf willst. Du müsstest den steinernen Wald verlassen, der dir Schutz bietet, und dich in freies Gelände wagen. Dort bist für jedermann leichte Beute, und ich will mir kaum vorstellen, was geschieht, wenn dich einer von den Dunklen in die Hände bekommt.«
»Die Dunklen?«
»Schattendiener«, sagte der Greif sanft. Ein seltsamer Hauch vom Melancholie machte sich in seiner Stimme breit. »Hast du nicht die Feuer gesehen, als du an den Klippen standest?«
»Ich habe Rauch gesehen. Was bedeutet das? Gibt es Krieg hier?«
Mit einem Nicken drehte der Greif seinen Kopf in eine gerade, aufrechte Position zurück. »Andhera ist vom Schicksal der Götter entzweigerissen, und ihre Wunden zu flicken, erweist sich als schwieriger als erhofft.«
»Andhera?«
»Das ist der Name meiner Welt. Vor einigen Jahren ist sie auseinandergebrochen. Etwas Dunkles, das tief in der Erde geschlafen hat, ist aufgewacht und hat uns alle in Finsternis gehüllt. Die Wesen, die hier leben, sind zwiegespalten und zerstritten. Die meisten von ihnen trauen einander nicht oder haben bislang keinen Weg für ein Miteinander gefunden. Dies sind schwere Zeiten, und seit Krieg herrscht, ist es noch anstrengender geworden, sich zurechtzufinden. Die Schattendiener schleichen umher und bedrohen alles, was ihnen in die Hände fällt. Sie haben keine Seele, kennen keine Gnade und folgen keinem Gebot, nur dem Wort ihres Herrn.« Als er Alex Ratlosigkeit bemerkte, flüchtete er sich in ein Lächeln, schüttelte seine Scheu ab, und sagte: »Hier funktionieren einige Dinge möglicherweise etwas anders, als du es gewohnt bist. Unsere Götter sind vor langer Zeit verschwunden. Sie haben uns im Stich gelassen, noch ehe die ersten Schattendiener aufgetaucht sind. Das sind Wesen von enormer Bösartigkeit, die aus der Finsternis geboren werden. Sie haben Andhera überrannt, sich der Seelen der Schwachen bemächtigt, und drohen, alles zu zerstören. Der Zusammenhalt ist verschwunden, die Königin verliert zunehmend an Macht und ihr Reich zerfällt. Wir sind ein zerrissenes Land, zerklüftet von wunderschöner und grausamer Natur und Magie. Aber bislang ist es niemandem gelungen, diese Welt zu befreien.« Er seufzte. »Ich wünschte, du könntest die gewaltigen Eisberge im Norden und die knochigen Wälder, die kristallklaren Flüsse und die Landstriche aus Stein und Grün sehen.« Er seufzte und driftete mit seinen Gedanken in die Ferne ab. »Einiges davon ist inzwischen verlorengegangen und nichts und niemand bringt es uns zurück.«
»Und wieso wehrt sich niemand?«
»Weil alle, die es versucht haben, eingesperrt sind oder ihr Leben auf dem Schlachtfeld lassen. Es gibt seit jeher nur einen Weg, um dem Ende zu entgehen, aber diese Tür hat sich uns schon vor Jahren verschlossen. Es geht nicht mehr um das Gewinnen eines Krieges. Es geht nur noch um unser Überleben. Die Mauern, die alle Wesen hier trennen, scheinen unüberwindbar zu sein, weil wir nicht an einem Strang ziehen.«
Für Alex, die einer Welt entstammte, in der es zwar Krieg gab, den es aber niemals vor ihre Haustür getragen hatte, zeichneten sich schaurige Bilder vor ihrem inneren Auge ab. Nuins Stimme war eine Nuance tiefer geworden. Alle Freude war aus seinen Worten verschwunden, und eine eigenwillige Trauer hatte sich breitgemacht. Plötzlich wirkte er nicht mehr, wie ein freundliches Fabelwesen aus einem Märchen, sondern wie ein gefallener Krieger, dem vor seinem Sturz heftig die Flügel gestutzt worden waren. Der mächtige, unbezwingbare Eindruck, den er anfangs auf das Mädchen gemacht hatte, war dahin.
»Und es gibt nichts, was ihr dagegen tun könnt?«
»Es gibt einen Weg«, sagte der Greif, »aber wir gehen ihn nicht, weil er nicht unbedingt die beste Option ist, die uns bleibt. Bevor die Götter verschwunden sind, haben sie uns mit dem Schwur zurückgelassen, dass in Andheras dunkelster Stunde ein Mann erscheinen würde, der die Macht besitzt, das Sterben unserer Welt zu verhindern. Einen Krieger, dem die Macht innewohnt, gegen unseren unsichtbaren Feind zu kämpfen und diesem die Stirn zu bieten. Die Legenden sind eindeutig. Nur er kann diesen schwierigen Pfad beschreiten und siegen.«
»Aber?«
»Als die ersten Dunklen erschienen, trat aus den Schatten ein Geschöpf hervor, auf das die Prophezeiung zutreffen könnte. Niemand weiß, ob er schon vorher da war, oder erst mit ihnen auftauchte. Ein Dämon mit großen, dunklen Flügeln. Ein Kerub - halb Engel, halb Irgendetwas, aber viel mehr als jeder Mensch und jedes Tier. Er focht einen erbitterten Kampf gegen die Schergen der Finsternis aus. Doch als die Jahre vergingen, versiegte sein Widerstand mehr und mehr. Er hat aus einer anderen Zeit seine eigenen Dämonen mitgebracht, und irgendwann haben sie ihn bezwungen, sagt man. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken will, hat er vergessen, wie man Gut und Böse unterscheidet, und ist zu dem geworden, was er mit aller Macht zu bekämpfen versuchte. Und dann, irgendwann, ist er ganz verschwunden. Böse Zungen sprechen davon, er hätte den Verstand verloren und sich von einem Dämon namens Isay in die schwarzen Schluchten zurückdrängen lassen. Dort, in den Katakomben seines eigenen Schlosses lebt er, dem Wahnsinn verfallen in seiner selbstgewählten Einöde und interessiert sich nicht mehr dafür, was mit der Welt geschehen ist.« Ein tiefer Seufzer drang aus der Kehle des Greifen. »Manche behaupten, er wisse nicht einmal, dass Andhera im Sterben liegt, Andere denken, er selbst ist an ihrem Untergang schuld und es ist nur recht, dass er diese Bürde nun zu tragen hat. Andere sagen, selbst wenn es ihm bekannt wäre, es würde rein gar nichts für ihn ändern. Wie viel Wahrheit in diesen Behauptungen und Legenden steckt, kann ich dir nicht sagen, aber ich weiß, es gibt augenblicklich keinen Widerstand, und die Schatten schleichen überall herum.«
»Und was denkst du?«, fragte das Mädchen, tief berührt von dieser traurigen Geschichte.
»Ich glaube, dass alle Geschichten, die sich um den Schwarzen Prinzen oder den Krähenkönig - so nennt man ihn mancherorts - ragen, irgendwo einen Funken Wahrheit beinhalten. Was ich aber mit Sicherheit weiß ist, dass meine Welt langsam in Chaos und Krieg versinkt, und wir nicht fähig dazu sind, es aufzuhalten. Dieses Schicksal ist wohl ihm vorbehalten. Man sagt, er habe einst Frau und Kind besessen und alles verloren. Man sagt auch, dass er nach einem langen, erbitterten Kampf mit seiner eigenen Vergangenheit Isay in die Hände gefallen ist und unter dessen Herrschaft beinahe den Verstand verloren hat.«
»Und dieser Isay ist..?«
»Ein Dämon. Ein Anführer der Schattenwesen. Er ist aufgetaucht, als die ersten Schergen der Finsternis über das Land gezogen sind, und hat sich unter ihnen einen Namen wegen seiner Rücksichtslosigkeit gemacht. Ich glaube, er kämpft seine eigene Schlacht. Früher herrschte zwischen ihm und dem Schwarzen Prinzen ein Bündnis. Sie haben sich respektiert und Grenzen eingehalten. Man sagt sogar, sie waren Freunde und hätten alles für den Anderen getan. Aber Isays Machtgier kennt keine Grenzen. Angeblich hat sie einst ein Streit entzweit und seither gehen sie ihre eigenen Wege. Wenn du mich fragst, brauch ich nicht mehr darüber zu wissen.«
»Aber er lebt?«
»Von Zeit zu Zeit behauptet irgendjemand, ihn gesehen zu haben. Aber niemand weiß es mit Sicherheit. Niemand außer Eyndor, sein einziger Freund und Verbündeter. Als der Krähenprinz auf dem Höhepunkt seiner Macht war, fiel er Isay in die Hände und verschwand. Sie verschwanden beide. Andhera ist schutzlos.«
»Jetzt ziehen böse Wesen umher und versetzen euch alle in Angst und Schrecken?«
Nuin nickte. »Alle, bis auf die, die kämpfen. Nachdem Isays einziger Widersacher fort war, sind überall auf der Welt Krieger erschienen, die sich auserkoren gefühlt haben, dem Bösen die Stirn zu bieten. Aber bislang sind sie alle gescheitert. So sind die Regeln. Entweder der Krähenprinz kämpft, oder keiner. Nur ihm wurde die Macht gegeben, Andheras Untergang zu verhindern, die Schattenwesen zu bezwingen und den Krieg zu beenden. Legenden erzählen von einem Funken uralter Göttermacht, die ihm von Jensara, der Göttin der sterblichen Träume, verliehen worden ist. Aber so sind Geschichten eben. Es gibt keine Beweise und niemanden, der wirklich die Wahrheit kennt. Vielleicht nicht einmal er selbst.«
»Und gegen wen kämpft er?«
»Gegen alles, was ihm das Böse entgegenzusetzen hat. Krieger, Katastrophen, Gefahren, Isay.. vor allem aber gegen sich selbst. Denn auch er ist ein Wesen der Finsternis. In ihm steckt etwas Böses, dem er sich nicht entledigen kann.«
»Und damit ich mich nicht der Gefahr aussetze, entdeckt zu werden«, begann Alex unsicher. Sie wollte das Thema kunstvoll auf den Ausgangspunkt zurückführen. »Würdest du Joshua und mich zu dem Spiegel fliegen? Einfach so?«
Ein Lächeln ließ das Mienenspiel des Fabelwesens zucken. »Findest du, ich sollte etwas dafür verlangen? Kennt man in deiner Welt denn keine Gastfreundschaft? Du hast dich verirrt, und kennst den Rückweg nicht. Natürlich will ich dir helfen.«
»In meiner Welt ist man Fremden gegenüber misstrauischer«, sagte das Mädchen. Sie strich sich eine Strähne zurück, während der Wind diese sofort wieder hinter ihrem Ohr hervorzuholen drohte. Obwohl ihre Familie stets sehr gastfreundlich und aufgeschlossen gewesen war, empfand sie Nuins Fürsorge einer Fremden gegenüber für sonderbar. Aber sie kannte die Gepflogenheiten dieser Welt nicht. Waren alle Wesen so, wie er? »Ich möchte dein Angebot gern annehmen. Meine Eltern vermissen mich sicher schon, und ich muss wirklich nach Hause zurückkehren.«
Nuin nickte hastig. »Gut«, erwiderte er rasch und streckte seine Muskeln. Schließlich senkte er den Kopf, sodass sein Schnabel fast den Boden berührte. »Steig auf und halt dich fest. Es könnte etwas zugig werden.«
»Vielleicht kannst du versuchen, etwas ruhiger als gewöhnlich zu fliegen«, begann das Mädchen, während ihr Röte in die Wangen schoss. »Ich glaube, ich fürchte mich ein wenig.«
Ein Grollen, das beinahe wie ein Lachen klang, löste sich aus der Kehle des Greifen. Seine vielen kleinen Gesten und Geräusche, all die kleinen Falten, die seine Haut kräuselten, wenn er lachten, machten dieses Wesen in Alex Augen unglaublich sympathisch. Er besaß so viele liebenswerte Eigenschaften, dass das Mädchen zu vergessen drohte, wie wenig menschlich er war.
»Gut.« Mit diesen Worten gab Alex Joshua einen Stups. Die Ratte drehte den Kopf, musterte das Mädchen verstehend und huschte flink in ihren Kragen hinein. In die Naht des Kragens gekrallt, streckte er den Kopf oben heraus und blinzelte. »Gehen wir nach Hause.«