Das ganze Schloss schien den Atem anzuhalten. Es war still geworden. Eine seltsame Ruhe legte sich über die menschenleeren Gänge und Korridore, auf denen noch vor Kurzem heftige Kämpfe getobt hatten. Nach und nach kamen sie aus ihren Löchern gekrochen; zuerst Nuin, dann Reyndra, und kurz darauf sogar der Drache. Es zog sie wie Motten zum Licht. Und der hellste Lichtkegel innerhalb der Schlossmauern schien das kleine Zimmer zu sein, in dem Alex saß, und noch immer nicht glauben konnte, dass ihr Plan ein Erfolg gewesen war. Sie schaute hoch und bemerkte, dass Eyndor Anders freigegeben hatte, während der Kerub mit einem gütigen Lächeln einen Arm und Reyndra schlang und den Krieger zu sich zog, bis sich ihre Stirn berührte. Ihre Gespräche waren dumpf und nicht von Wert. Sie gingen lautlos an dem Mädchen vorüber, wie Gespensterworte. Begrüßungen, Danksagungen, leere Worte in einem leeren Zimmer. Alles, was zählte, waren die Geste und Blicke.
Nie zuvor war eines der Zimmer hier von mehr Freude, von mehr größerer Erleichterung und tieferer Zufriedenheit erfüllt gewesen. Sie alle hatten den Angriff mehr oder weniger gut überstanden. Nuins Gefieder war zerzaust. Er hatte viel abbekommen und doch wirkte er zufrieden. Sein Blick huschte durch das Zimmer, und als er Anders traf, wurde er seltsam steif, doch er blieb, und brachte sogar fertig, dem Kerub zuzunicken.
Ihnen allen war gemeinsam gelungen, ein Leben zu retten. Gemeinsam. Und das, was sie getan hatten, schweißte sie umso mehr zusammen.
»Alex.«
Hinter ihrer Stirn rauschte das große Nichts. Was immer sie zu fühlen erhofft hatte, wenn der Kampf vorüber war, das war es nicht gewesen. Sie empfand keine Freude, keinen Übermut, keine Überschwänglichkeit, sondern nur sachlichen Seelenfrieden. Sie waren Anders ein Leben schuldig gewesen und nun war ihre Schuld getilgt und alle auf freiem Fuß. Was Alex nie zu Hoffen gewagt hätte, war nun eingetreten. Alle Wesen, denen sie im Laufe der letzten Wochen ihr Herz geschenkt hatte, waren hier. Sie waren gemeinsam hier und tiefer verbunden als je zuvor.
»Alex.«
Eine Hand berührte sie an der Schulter und riss den Geist des Mädchens zurück ins Diesseits. Sie blinzelte, hob den Blick und sah, dass Anders, der noch immer halb auf ihren Beinen lag, so, wie sie ihn aus dem Spiegel gezogen hatte, den Blick auf sie gerichtet hielt.
»Hey«, sagte er mit einem müden Lächeln. »Wo warst du?«
»Ich hab«, begann das Mädchen schleppend, »einfach noch nicht verarbeitet, dass wir..«
»Dass du mein Leben gerettet hast«, beendete Anders den Satz und drehte sich sitzend langsam ein wenig zu ihr herum. Alle anderen im Zimmer schwiegen. Alex fühlte, wie ihre Augen zu ihr wanderten, wie jedes einzelne Wesen zu ihr sah und schwieg. Sie schluckte und fühlte sich plötzlich zerbrechlich wie Glas. Als würde sie in tausend Teile zerspringen, sobald irgendwer das Wort an sie richtete.
Zaghaft schaute sie auf, tastete nach Anders Blick und sah ihm tief in die Augen. Das Band, das nie zuvor zwischen ihnen gewesen war und dennoch auf einmal existierte, hielt und Erleichterung machte sich in ihren Gedanken breit.
»Alex«, sagte Anders sanft. In seiner Stimme schwang nun deutlich die Erschöpfung mit, die in seinen Bewegungen und seinem Blick schon länger klar zu sehen waren. Er beugte sich vor und hielt ihr seine Hand entgegen. Behutsam und ein wenig zurückhaltend streckte Alex ihre Finger vor und ließ sie in seine gleiten. Der Schwarze Engel senkte lächelnd die Lippen auf ihren Handrücken und berührte ihn mit ihnen. Seine Lippen waren rau, seine Haut noch immer kalt und er fühlte sich fremd an. »Ich weiß, was ich dir angetan habe, kann ich nicht durch Worte wieder gut machen. Ich habe dich rekrutiert, im Stich gelassen, ich habe dich belogen und mich von dir ferngehalten. Ich war dir kein Freund und noch weniger eine Hilfe, als ich gern gewesen wäre. Ich wollte das beste für alle und habe dabei ganz aus den Augen verloren, dass du selbst weißt, was das Beste für dich ist. Als du um meine Freundschaft gebeten hast, habe ich dich stehenlassen und geglaubt, ich würde es einfacher für dich machen. Ich war überzeugt davon, dass der sicherste Weg für dich und alle anderen der ist, der euch am weitesten von mir fortführt. Aber als Isay mich gefangen nahm und ich wusste, ich würde vielleicht keine zweite Chance bekommen, mich zu erklären, da habe ich verstanden, dass mein Weg nicht der einfachste für euch war, sondern nur für mich. Was ich tat, war egoistisch, ich war eingebildet und im Unrecht. Und trotz allem bist du gekommen, um mir zu helfen, als ich dich brauchte.« Er drückte ihre Finger fester und wie auf ein unsichtbares Signal hin, fiel die letzte Schwere von Alex Körper ab. Sie zog die Nase hoch, spürte, wie ihre Augen feucht wurden, und beschloss, den Anstand hinter sich zu lassen. Ungestüm und voller Freude warf sie sich in die Arme des Kerubs und presste ihr Gesicht an das feuchte Hemd, das wie eine zweite Haut an ihm klebte.
»Du hast mir gefehlt«, hauchte ihr der Schwarze Prinz ins Ohr. Seine Hand erschien auf ihrem Rücken und berührte zart ihr Schulterblatt. Er hielt sie nicht fest, seine Geste war nicht besitzergreifend, aber er stützte sie wie ein Freund. »Ich danke dir, dass du an mich geglaubt hast, als ich mich aufgegeben habe.«
»In Wahrheit«, sagte das Mädchen, »habe ich, nachdem das Eis erst gebrochen war, niemals mehr nicht an dich geglaubt. Ich wusste, du schaffst es. Und ich wusste, wir sehen uns wieder.«
»Ohne euch hätte ich es nicht geschafft.«
Als seine Hand von ihrem Rücken verschwand, löste sich Alex aus seinen Armen und musterte seine hellen Augen lange. »Wohin hast du Isay geschickt? Du hast gesagt, es gibt keine Spiegel mehr dort draußen. Wie ist es möglich, dass er fort ist? Ist er..?«
Ein spitzbübisches Grinsen machte sich auf Anders Lippen breit. »Mit viel Übung lässt sich die Gabe, die du und ich besitzen, auch auf andere spiegelnde Oberflächen anwenden. Seen, Flüsse, ein Teich, eine Pfütze. Alles, was groß genug ist, um uns hindurchzulassen.« Langsam verschwand sein Lächeln und er straffte sich abermals, um das Wort an alle zu richten. »Das bedeutet aber auch, dass Isay nicht für immer fort ist. Ich habe ihn irgendwohin geschickt. Ans Ufer eines Sees. Ich weiß nicht, wohin. Ich habe Eis gesehen, Schnee und weiße Berge. Es wird eine Weile dauern, bis er zurück ist, oder ihn jemand findet, aber ich zweifel keinen Augenblick daran, dass er zurückkommen wird. Wir müssen auf alles gefasst sein. Wir-«
»Jetzt«, fiel ihm Reyndra ins Wort, »werden wir erst einmal ausruhen, neue Kraft finden und zur Ruhe kommen. Die letzten Tage waren nervenaufreibend. Wir haben uns etwas Frieden verdient. Isay wird nicht morgen vor der Tür stehen, und er wird auch übermorgen nicht kommen. Wir haben ihm gezeigt, wie viel wir ihm entgegenzusetzen haben. Er wird sich einen neuen Plan zurechtlegen müssen. Und das wird dauern.«
»Er hat die Truhe«, erinnerte Anders den Krieger und hob den Blick zu ihm empor.
»Und wir den Schlüssel.« Alex lächelte und schob die Hand unter ihr Hemd, um nach der Kette zu tasten. Ihre Finger strichen über ihr Brustbein und suchten nach der feinen Silberkette, an der der Schlüssel baumelte. Doch er war nicht da. Rasch senkte sie den Blick und sah an sich herab. Der Schlüssel war fort.
Sie schaute auf, traf Eyndors Blick und wusste in jenem Moment, als er sie ansah, dass er die Wahrheit kannte. Sie hatte ihn getragen, als sie den Raum betreten hatten. Auch, als Anders das Spiegelportal geöffnet hatte. Ihre Augen tasteten den Boden ab. Er war nicht da.
»Er..«, murmelte sie. »Ich muss ihn verloren haben, als ich Anders..« Bei ihrer Rettungsaktion im Inneren des Spiegels musste die Kette gerissen sein. Und das bedeutete, er war fort. Verloren, für sie.
»Also ist er bei Isay.« Anders Stimme klang rau, trocken. Es war keine Freundlichkeit mehr darin, und dennoch lächelte er tapfer weiter. »Kopf hoch, Alex.«
»Aber er hat die Truhe und den Schlüssel. Was, wenn er..?«
»Irgendwann muss es passieren. Isay untersteht ein sehr gefährlicher Zauberer. Ein Mann, der über mehr Macht verfügt, als ich je zuvor am eigenen Leib spüren durfte«, erwiderte Anders gelassen. »Irgendwann wird er für Isay die Truhe öffnen und dann muss ich akzeptieren, wer ich bin. Und ihr müsst es auch. Isays Hinterhalt hat mir vor Augen gehalten, dass es unmöglich ist, dem Feind immer einen Schritt voraus zu sein. Irgendwann wird er uns überlisten. Doch bis dahin hat Reyndra recht.« Er löste sich ganz von dem Mädchen und stemmte die Hände gegen den Boden, um sich zu strecken. »Ich bin wahnsinnig müde und verbraucht. In den letzten Tagen habe ich wieder und wieder mit Isays Zauberer gekämpft. Ich bin zu müde, um mir heute Gedanken über das Leben Andheras zu machen. Und ihr seid es auch. Morgen ist auch noch ein Tag, an dem wir uns den Kopf zerbrechen können.«
Aber sein Lächeln und seine Selbstsicherheit hatten Risse bekommen. Alex sah seine Zweifel deutlich auf seinem Gesicht. Doch die Müdigkeit siegte und so nickte sie, und versuchte ebenfalls zu lächeln. »Einverstanden.«
Hinter ihm regten sich die übrigen Anwesenden. Eyndor bückte sich, schlang sich Anders Arm über die Schulter und half dem Kerub auf die Füße. Kaum, dass er stand, gesellte sich auch Reyndra dazu und half Eyndor dabei, den Verwundeten aus dem Zimmer zu führen. Im Spiegel sah Alex, wie ihre Auren leuchteten. Nur die des Engels war dunkel geblieben.
»Bist du in Ordnung?« Eine Stimme, so sanft und leise, dass sich die Lippen des Mädchens kräuselten.
»Ja«, sagte sie, zog die Beine an und sah aus den Augenwinkeln, wie sich Nuin an ihrer Seite zusammenrollte. »Und bei dir? Ich meine, du bist wieder hier. Und dabei wolltest du an diesen Ort niemals mehr zurückkehren.«
»Manchmal irre sogar ich mich.« Der Greif zwinkerte. »Als du mir das erste Mal begegnet bist, hätte ich niemals gedacht, dass ich eines Tages zu dir aufsehen und mich fragen müsste, wie um Himmelswillen du die Kraft aufbringst, so stark zu sein, selbst wenn um dich herum alles zusammenfällt.« Er seufzte. Sein Schnabel stupste ihren Arm an. »Ich bin so froh, dir begegnet zu sein.«
»Das bin ich auch.«
Lächelnd lehnte das Mädchen seinen Kopf an den Leib des Greifen und fühlte sich mehr denn je im schwarzen Schloss zu Hause.