Wann war die Zeit stehengeblieben? Als Nuin seinen Widersacher mit einem letzten Schlag niedergestreckt hatte? Als Joshua auf flinken, kleinen Füßen aus Alex Hemd gekrochen kam und auf die Wiese huschte? Als der Mond begann, sich ganz langsam, aber unaufhaltsam, vor die Sonne zu schieben und das Ende des Tages einläutete? Oder als kein Laut mehr zu hören war? Nur noch die sanften Atemzüge, die immer dünner und kürzer zwischen den Lippen des Kriegers hervordrang?
Irgendwann innerhalb der letzten Minuten hatte Alex ihre Finger gesenkt und auf die des Sterbenden gebettet. Sie spürte ihre Verbindung. Möglicherweise war ihr Gesicht das Letzte, was er je zu sehen bekam, und sie somit die Einzige, die ihm in dieser schweren Zeit zur Seite stehen konnte. Eine große Aufgabe, für ein kleines, schwaches Menschenmädchen.
Nach einer Weile fiel ein Schatten auf sie. Sie neigte den Kopf und warf einen Blick über die Schulter zurück. Nuin war nähergekommen. Er sah zerschunden und struppig aus, aber keine seiner Wunden war tief genug, um einem Wesen von seiner Größe gefährlich werden zu können.
»Sag mir, dass er nicht sterben wird«, bat sie mit dünner Stimme und schloss die Finger fester um die Hand des Kriegers. »Bitte mach mir Hoffnung.«
»Er wird nicht sterben.« Der Greif seufzte. »Ich kann kein frisches Blut riechen. Das bedeutet, dass seine Wunden bereits heilen, und er kein Mensch ist. Hat er irgendetwas zu dir gesagt, bevor er aus den Schuhen gekippt ist?«
Kopfschüttelnd verneinte Alex die Frage. »Meinst du wirklich?«, fragte sie dann. Während ihre Finger flink über den zerschlissenen Harnisch wanderten, stellte sie fest, dass da tatsächlich kein frisches Blut mehr zu finden war. »Wie ist das möglich?«
»Vielleicht ist er ein Magier. Hat er denn irgendwas gesagt? Denk nach, Alex. Er könnte ein Anhänger des Feindes sein und sein Erwachen zu einer großen Gefahr für uns. Jedes Wort kann unser Leben retten, oder unseren Tod bedeuten. Wenn er zu Isay gehört, wäre es besser, ihn zurückzulassen.«
»Er hat nur gefragt, was aus dem Spiegel wurde, den er zerschlagen hat. Moment, was soll das heißen, er ist vielleicht kein Mensch? Er sieht doch aus wie einer.«
»Dass er irgendetwas Anderes sein könnte. Menschen heilen gewöhnlich nicht in dieser Geschwindigkeit. Dass er kein Mensch ist, hat ihm vermutlich das Leben gerettet.«
Wie eine Blume, die langsam ihre Blüten öffnete, wurde Alex Herz weit und ließ Hoffnung hinein. War es möglich, dass der Krieger wirklich überleben konnte? Was war er? Er sah so menschlich aus, dass es ihr schwerfiel, nicht daran zu glauben, dass er genau das auch war. »Was ist er dann?«
»In Andhera gibt es viele Wesen, die menschliche Gestalt annehmen können.« Nuin schnupperte in die Richtung des Kriegers. »Vielleicht fließt in seinen Adern Mischblut. Oder er ist ein Zauberer. Ich kann keine Magie an ihm riechen, aber unter all dem Blut, ist es sowieso schwer, irgendetwas zu erschnüffeln. Und ehe du fragst: Ich weiß nicht, was es mit dem Spiegel auf sich hat. Hat er gesagt, weshalb er ihn zerbrochen hat?«
»Nein.« Sie beugte sich vor und wischte dem Krieger eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Sie war nass und klebrig vor Schweiß. Fieber zermarterte seine Glieder. »Ich denke, er weiß gar nicht, dass er meinen Weg nach Hause zerstört hat.« Mit einem Seufzen hob das Mädchen den Blick und musterte den Greifen lange. Tränen stiegen ihm in die Augen, und fortblinzeln war unmöglich. »Wie komme ich denn jetzt zurück, Nuin?«
»Nicht weinen«, sagte das Fabelwesen, senkte den Kopf und schmiegte ihn an den Rücken des Mädchens. »Ich verspreche dir, dass wir einen Weg finden. Du wirst nach Hause gehen. Es gibt immer einen Ausweg.«
»Und wenn dieser Spiegel mein Ausweg war? Ich bin noch nie in einer Welt gestrandet, in der Spiegel ein Eigenleben haben, in der ich festgesessen habe, und in der ich mit ansehen musste, wie-«
Erst jetzt glitt ihr Blick über Nuins Körper. Das Blut war bereits dabei, in sein Fell einzutrocknen, und er setzte die verletzte Vorderpfote nicht ganz auf. »Ich Trampel! Bist du schwer verletzt?«, fragte sie ihn, und hätte sich selbst gern geohrfeigt, weil sie so unsensibel war, und nur ihre eigenen Sorgen vor Augen hatte. »Das sieht schlimm aus.«
»Es ist nur eine Fleischwunde.« Der Greif zwinkerte. »Wenn du nachher nicht hinsiehst, werde ich sie belecken, und danach kann sie problemlos abheilen. Mein Speichel hat eine sehr heilende Wirkung. Mach dir keine Sorgen um mich.«
»Kannst du ihn dann nicht auch.. belecken?«, fragte Alex. Sie deutete ein Nicken in Richtung des Kriegers an.
Hatte sie das wirklich gefragt? Ob der Greif den Fremden belecken könnte? War es denn möglich, dass dieser Tag noch verrückter wurde?
»Solange ich nicht weiß, was er ist, könnte ich mehr kaputtmachen, als heilen. Aber etwas anderes sollte ich tun.« Alex bemerkte, wie sein Blick in den Himmel wanderte. »Es wird bald dunkel, und wenn wir hier bleiben, sind wir allen Schattenkriegern und Kreaturen der Dunkelheit schutzlos ausgeliefert. Wir müssen gehen.«
»Und er?« Mit gemischten Gefühlten entzog das Mädchen dem Krieger seine Hand. »Wir können ihn nicht hierlassen. Vielleicht weiß er, wo ich einen Spiegel finde.«
»Wir nehmen ihn mit. Aber du wirst ihn festhalten müssen.«
Nickend sah Alex zu Nuin auf. »In Ordnung. Warte, ich hole nur Josh.«
Kaum einen Augenblick später ließ sich der Greif auf alle Viere fallen und machte sich so klein wie möglich, damit Alex all ihre Kräfte mobilisieren und den Verletzten quer über den Rücken des Untiers schleifen konnte. Er war schwer und schien plötzlich viel größer zu sein, als zuvor. Sein Körper war schwer, und Lex mühte sich nach Leibeskräften ab, ihn nicht allzu grob zu behandeln, und irgendwann, eine halbe Ewigkeit später, lag der fremde Mann bäuchlings über Nuins Rücken. Über ihnen ging bereits die Sonne unter. Die Zeit drängte.
Nuin hatte ihr erzählt, dass alle bösen Wesen ihren Unterschlupf verließen und auf die Jagd gingen, sobald es dunkel wurde.
Sie stieg auf, neigte sich so weit vor, wie sie nur konnte und griff, über den Leib des Bewusstlosen hinweg, nach Nuins Nackenfedern. Josh lugte aus ihrem Kragen hervor. Schwer zu sagen, ob ihm Fliegen gefiel oder nicht. »Ich bin bereit!«
Diesmal spürte sie deutlich, wann die Schritte des Greifen in Fliegen übergingen.
Angst hatte sie keine mehr. Nachdem sie vor Kurzem Zeuge geworden war, wie ein Ungeheuer einen Mann aufspießte, würde sie wohl auch niemals mehr vor solch banalen Dingen in Panik ausbrechen. Alex schloss die Augen und ließ die Zugluft die Tränen auf ihrem Gesicht trocknen. Mit einem Mal schienen Dinge wieder Gewicht zu haben, denen das Mädchen bis vor Kurzem keinerlei Beachtung geschenkt hatte. Doch jetzt vermisste sie die Normalität ihres Lebens mehr denn je. Das Eindringen ihrer Eltern in ihre Privatsphäre, die nervigen Fragen beim Abendessen, das gehässige Lachen ihrer Mitschüler - all das vermisste sie plötzlich. Schon eine Kleinigkeit, wie eine Tasse warmen Tee, ein gutes Buch, oder auch nur Papier und Stift hätten Alex in diesem Moment so viel mehr zu bieten gehabt, als ein Flug in ungewisse. Doch kaum, dass ihre Gedanken zu ihrer Heimat wanderten, erinnerte sie sich an die Skizze, die sie in den letzten Tagen fast zu verspotten schien. Sie versuchte sich das lange, dürre, finstere Wesen in Erinnerung zu rufen und dachte kurz daran, dass es tatsächlich etwas Ähnlichkeit mit dem Ungetüm gehabt hatte, gegen das Nuin gekämpft hatte. Hatte sie, einer Vorahnung gleich, schon vor einiger Zeit begonnen, sich mit dieser Welt anzufreunden, ohne wirklich davon gewusst zu haben?
Nuin flog sie höher als zuvor. Er schien das Ziel ihrer Reise genau zu kennen. Zielstrebig steuerte er, nachdem es beinahe vollkommen finster geworden war, einen hoch in den Himmel aufragenden Felsen an. Ein schwarzes Loch klaffte in einer der Fassaden auf, wie ein düsterer Mund, der darauf lauerte, die zu verschlingen. Und auf eben dieses Loch hielt der Greif zu, und landete unsanft auf einem brüchigen Felsvorsprung. Einzelne Steine und Felsbrocken lösten sich aus der Mauer, als die Pranken des Greifen aufsetzten, doch der Untergrund hielt und trug sie. Nuin marschierte ins Innere der Höhle, blieb stehen und machte sich klein. Er wartete geduldig, bis Alex abgestiegen war, schüttelte dann ein wenig zu grob den Fremden ab und wandte sich dem Eingang zu. »Wartet hier. Ich bin in Kürze zurück. Aber wir brauchen Holz für ein Feuer. Die Nacht wird kalt werden, und du bist sehr dünn angezogen.« Er spreizte seine Schwingen, und ehe Alex zu Wort kam, war er fort.
Das Mädchen drehte sich einmal um die eigene Achse, ehe es begann, mit beiden Händen über seine Oberarme zu reiben. Sie hatte in all dem Stress völlig vergessen, dass es neben all den Schatten hier noch eine weitere Bedrohung für ihr Leben geben konnte: die Kälte. Umso dankbarer war sie Nuin dafür, dass er sich so rührend um sie kümmerte. Und das, obwohl er sie eigentlich weder kannte, noch ein Grund existierte, ihr zu vertrauen. Im Gegenteil. Angesichts dessen, was in Andhera vorgefallen war, erstaunte es sie sogar, dass Nuin so vertrauensvoll wirkte.
Sie senkte den Blick und sah im Halbdunkel eine Regung. Der verwundete Krieger! Es waren keine wirklich Bewegungen, aber kleine, abgehackte Muskelreflexe, die ein Erwachen ankündigten. Wie bei einem schlafenden Hund, dessen Pfoten unaufhörlich zuckten, während er schlief. Flink huschte sie zu ihm, sank in die Hocke und berührte mit dem Handrücken seine Stirn. Seine Haut war schweißnass und warm, als stünde er innerlich in Flammen. Dann, als seine Lider zum ersten Mal zu flackern begannen, spürte sie, wie ihr das Atmen leichter fiel. Sie wusste nicht, wie weit er bei Sinnen war, ob er sie hören oder überhaupt wahrnehmen konnte, aber in ihrer Welt glaubte man sogar daran, dass Menschen, die seit Jahren im Koma lagen, die Nähe ihrer Angehörigen spüren konnten. Wieso sollte er dann nicht auch in der Lage sein, sie wahrzunehmen?
»Ich bin hier«, ließ sie ihn wissen, während sie mit dem Zeigefinger zaghaft seine Hand berührte. Mit dem Daumen führte sie behutsam kreisende Bewegungen über seinen Handrücken aus und genoss die Berührung auf eine seltsam beruhigende Weise. Jemanden anzufassen, der zwar kein Mensch war, aber wie einer aussah und sich auch so anfühlte, erschien ihr in diesem Augenblick wie ein Segen. Außerdem waren sie alte Bekannte. Ob er davon wusste? Auf dem Feld hatte sie nicht das Gefühl, er würde sie erkennen? Wie auch, ein Jahrzehnt war seither vergangen und aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau geworden.
Flackernd schlug er die Augen auf. Seine Pupillen bewegten sich. Er versuchte verzweifelt, irgendetwas auszumachen, woran er sich klammern konnte, aber seine Suche kam erst zum Erliegen, als sein Blick auf den des Mädchens traf. Wortlos, blinzelnd und wie in Trance taxierte er Alex mit dem Argwohn eines Raubtiers. Er sprach kein Wort, und seine Augen deuteten kein Verständnis an, und doch spürte das Mädchen, dass ihm ihre Nähe Sicherheit gab. Seine Hand bewegte sich unter ihrer. Sie zuckte leicht.
»Wo bin ich?«, flüsterte er nach einer Weile.
»In Sicherheit«, sagte Alex daraufhin nur. Mühsam zauberte sie ein Lächeln auf ihre Lippen. Es war wichtig, dass er sich geborgen fühlte. Wichtig für ihn, wichtig für sie. »Du bist verletzt worden. Mach dir keine Sorgen. Mein Freund und ich passen auf dich auf, bis du wieder selbst dazu in der Lage bist. Wir werden dir nichts tun, wenn du uns nichts tust. Schlaf dich aus und-«
»Der Dämon«, würgte der Krieger hervor. »Was-«
»Du hast den Spiegel zerschlagen und mein Freund hat das Ungeheuer vernichtet. Es ist alles in Ordnung.«
Ein angedeutetes Nicken signalisierte dem Mädchen, dass der Fremde verstanden hatte.
Sein Bewusstsein wankte und kehrte erst nach einer Weile zurück zu ihr. »Wer bist du?«, fragte er mit schwächer werdender Stimme und schaffte es endlich, seine große Hand um ihre Finger zu schließen.
»Mein Name ist Alexandra«, erwiderte sie langsam. »Ich war auf der Suche nach dem Spiegel, als wir dich mit dem Monster kämpfen sahen. Wir sind keine Feinde, und wir wollen keinen Streit. Hast du einen Namen?«
Unsicher schob der Fremde seine Zunge zwischen den aufgesprungenen Lippen hindurch und leckte über die trockene Haut. »Ich heiße Anders«, brachte er hervor, ehe seine Stimme verebbte. »Ich bin.. die Spiegel zerstören..«
»Ruh dich aus«, sagte Alex wieder und diesmal gehorchte der Fremde widerwillig.
Seine Augenlider fielen herab und öffneten sich in dieser Nacht kein zweites Mal. Sein Kopf sackte zur Seite, wo er regungslos liegenblieb. Schließlich erschlafften seine Finger in denen des Mädchens. Eine Friedlichkeit, die nicht recht zu ihm oder seinem Schicksal passen wollte, machte sich breit auf seinen Lippen und erinnerte fast an ein Lächeln. Er atmete einmal tief aus, und fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf, den Alex ihm beinahe hätte neiden wollen.
Doch stattdessen setzte sie sich zu ihm, hielt seine Hand und betrachtete ihn so lange, bis das Licht im Inneren der Höhle nicht mehr ausreichte, um irgendetwas erkennen zu können. Der Mann wirkte jung, irgendwo in den Dreißigern, und doch waren seine Augen von einem Alter und einer Weisheit erfüllt, die dieses junge Aussehen Lüge strafte.
Was war dieser Mann? Wer war Anders? Wieso war sie ihm in ihrer Welt begegnet und nun hier?
War ihr Erscheinen in dieser eigenartigen Welt vielleicht doch kein Zufall?