Anders lag lang ausgestreckt auf dem Boden, Arme und Beine hatte er von sich gespreizt und den Blick der Decke entgegen gestreckt. Seine Fesseln zwangen ihn nicht dazu, aber er wollte es. Herumliegen und denken war alles, was ihn davon abhielt, schreiend seine Fäuste gegen die Mauern zu rammen, bis seine Knöchel bluteten.
Er war verloren.
Diesmal und für immer.
Seine Augen waren geöffnet und er sah zur Decke hinauf. Um ihn herum regierte das Dunkel. Er hatte nie zuvor in seinem eigenen Verlies gesessen, aber die schmalen Schlitze, die von schräg oben vereinzelt ein paar Sonnenstrahlen gestatteten, ins innere der Zelle zu fallen, genügten ihm plötzlich nicht mehr. Er hatte sich vor sie gestellt und gewartet, aber das Licht war nie zu tief hinabgefallen, bis es ihn berühren konnte. Das Licht verspottete ihn. Was ihm widerfuhr, geschah ihm recht.
»Deine Lage hat sich sehr ungünstig verschlechtert«, drang da eine leise Stimme an sein Ohr. Gefolgt vom Tapsen leiser Pfoten auf kaltem Stein. »Es tut mir leid. Ich hätte dich gern gewarnt.«
Anders schmunzelte. Er ließ den Kopf zur Seite gleiten und erhaschte im Dunkeln einen Blick auf einen vorbeihuschenden, kniehohen Schatten. »Was willst du von noch mir?«
»Nur eine einzige Antwort«, erwiderte die Stimme. »Nur eine. Dann bin ich fort, denn ich werde versuchen, zu helfen. Aber du musst mir zuvor diese eine Frage beantworten, damit ich verstehe, wer du bist, und wieso dein Handeln mir so rätselhaft erscheint.«
»Kannst du mich von diesen Fesseln befreien?«, fragte der Kerub, raschelte mit den Ketten und blinzelte ins Dunkel.
»Nein«, erwiderte die Stimme. »Das kann ich nicht. Sie sind mit schwarzer Magie erschaffen, und der Zauber lässt sich nicht so einfach aufheben. Aber-«
»Dann verschwendest du deine Zeit.« Er drehte den Kopf fort und schloss die Augen. Die Geister der Finsternis spielten indessen mit seinen durcheinandergeratenen Gedanken. »Ich kann nichts für dich tun.«
»Du kannst nicht, oder du willst nicht?«
»Vielleicht beides«, erwiderte Anders. Doch im Gegensatz zu ihrer letzten Begegnung verspürte er diesmal kein Bedürfnis, die Göttin, die ihm stets in Gestalt einer Katze erschien, fortzujagen. Sie war eine willkommene Abwechslung in seiner stillen Traurigkeit. »Wieso bist du hier?«
»Ich möchte dir helfen.«
»Aus reiner Nächstenliebe?«, hakte Anders spöttisch nach. »Dir liegt nichts an mir oder meinem Leben. Du belügst dich und mich mit dazu.«
»Mir liegt an deinen Absichten. Ich weiß sehr genau, wer du bist, Anders. Ich kann so tief in dein Inneres blicken, wie du es bei anderen Menschen vermagst. Nur in dich selbst kannst du offenbar nicht hineinsehen.«
»Ich weiß zu gut, was in mir drinnen ist«, entgegnete dieser düster. »Wenn du irgendetwas tun willst, um meine Lage zu verbessern, mach ungeschehen, dass ich mich zu diesem Spiegelzauber hinreißen lasse und das Unheil seinen Lauf nehmen kann.«
Die Schwere, die Anders ursprünglich verspürt hatte, war einer schwelenden Wut gewichen. Nachdem er Jahr um Jahr verbittert gegen Isay angekämpft und letztendlich mehr als einen Sieg errungen hatte, hatte er es ihm diesmal viel zu einfach gemacht. Nie zuvor hatte er das Schloss unbewacht gelassen, aber Darias Erscheinen und Eyndors Rückkehr hatten ihn leichtsinnig werden lassen. Ein einziges Mal hatte er sich gehen lassen und nicht alle Risiken abgewogen, und schon war es geschehen. Er hatte den Teufel bespitzeln wollen, und ihn damit eingeladen.
Mit einem Seufzen drehte er den Kopf zur Katze hin, die noch immer von Dunkelheit verschlungen war, und öffnete die Augen. »In Ordnung«, hauchte er ihr zu. »Stell mir deine Frage.«
»Erzähl mir von der Frau, durch deren Verlust dieser Fluch zu Stande gekommen ist, den du nun so eisern zu bekämpfen versuchst. Ich will wissen, wer sie war, wie sie lebte, was sie für dich tat, um all die Liebe zu verdienen. Sag mir, wieso sie dich so veränderte, dass du heute in der Lage dazu bist, im Dunkeln zu sein, und anstatt Furcht nur an sie zu denken.« Sie Katze kam näher. Ihre Augen funkelten in der Finsternis wie Smaragde. »Erzähl mir, wie sie dich verändern konnte und lass mich tiefer in dich hineinsehen, als je ein Wesen zuvor. Und finde ich dort am Grunde deiner Seele den Funken, den ich in dir vermute, dann werde ich dir helfen. Gib mir Vertrauen in dich! Vertrauen ist alles, was dich noch retten kann.«
Anders sog Luft ein. »Tatsächlich?«, gab er zischelnd zurück, setzte sich auf und musterte die Katze mit zusammengekniffenen Augen. »Mein Leben wiegt so schwer wie das Wissen um die einzige Frau, die ich je geliebt habe? Wieso? Was, wenn dir nicht gefällt, was ich zu sagen habe?«
»Weil du kein Herz hast, in das ich hineinsehen kann. Aber man sagte mir, dein Herz liegt auf deiner Zunge, und Worte lügen nicht. Lass mich sehen, dass du in der Lage bist, Gefühle zuzulassen, und ich werde dir einen großen Dienst erweisen. Ich weiß um den Inhalt deiner Kiste, und wir beide wissen, dass du nur mit Hilfe all deiner Gefühle im Stande sein kannst, Isay die Stirn zu bieten. Du und ich, wir verfolgen dasselbe Ziel, aber helfen kann ich dir nur, wenn ich weiß, dass genug Gutes in dir ist, um diesen Kampf beschreiten zu können. Aber wenn du nicht willst..« Mit einem tiefen Schnurren drehte sich die Katzengöttin fort. Anders empfindliche Ohren nahmen wahr, wie sie an der Wand entlang streifte. Hier und da blitzte ihr Fell zwischen den Schatten auf.
Anders Gedanken huschten zu Eyndor und Alex, zu den einzigen Wesen, die ihm vertraut hatten, als er ihnen Schutz versprach, und die nun nicht nur allein und schutzlos, sondern in Gefahr schwebten, von der sie nichts ahnten. Er nahm seinen Mut zusammen, ballte die Hände im Schoß zu Fäusten und lauschte in sich hinein. Die Leere, die der Verlust seines Herzens und seiner Gefühle in ihm hinterlassen hatten, jaulte wie ein Sturm an den Innenwänden seines Verstandes vorüber. Er war einsam. Kalt. Gefährlich. Damals, als er die Entscheidung getroffen hatte, sich selbst vom Fluch seiner Gefühle zu befreien, hatte er an einem ähnlich empfindsamen Punkt gestanden, wie nach dem Verlust der einzigen Frau, die je sein Herz erobern konnte. Er hatte diesen Weg gewählt, um ein einziges Mal keinen Gebrauch von der todbringenden Kraft machen zu können, die wie Blitze durch seine Venen rasten.
Er erinnerte sich nur allzu gut an das, was er vor seiner ersten Berührung mit wahrer Liebe gewesen war. An das instinktgetriebene Schattenwesen, das alle Macht aus dem Zorn und dem Hass schlug. Damals hatte es kaum einen Unterschied zwischen Isay und ihm gegeben, und doch hatte ein einziger Blick in diese rehbraunen Augen ausgereicht, um sein Leben für immer zu verändern.
»Ruf mich, wenn du zu dieser Unterhaltung bereit bist«, schnurrte die Kätzin und drohte sich abzuwenden.
Rasch hob Anders die Hand und seine Fesseln folgten raschelnd seiner Bewegung. »Warte!«, rief er ihr nach und konnte selbst in der Finsternis ihr triumphierendes Lächeln spüren. »Du gewinnst«, entgegnete er leise. »Halt dein Wort, Katze, oder sollte ich je hier rauskommen, werde ich mich auf die Suche nach dir begeben. Und ich werde dich finden.«
»Deine Drohungen ängstigen mich nicht«, erwiderte die sanfte Stimme zärtlich. »Und nun lass mich deine Geschichte hören.«
»Ihr Name war Kateryna«, sagte der Krieger und erinnerte sich mit geschlossenen Augen an ihre Schönheit zurück. »Sie war jung und schön, und sie trug eine Weisheit in sich, die ich mit all meiner Lebenserfahrung und meinem Wissen nur erahnen konnte. Als sie mich fand, stand ich am Scheideweg meines Lebens. Durch den Verlust meiner Erinnerungen geschwächt und vom Sturz verletzt und geschunden, dachte ich nicht, dass ich überleben würde. Ich war mir sicher, dass ich sterben würde. Und ein Teil von mir dachte sich wohl, es wäre leicht, einfach loszulassen und zu gehen. Ich war voller Zorn und Wut und die Menschheit ekelte mich an. Für alle Zeiten unter ihnen leben zu müssen, erschien mir unerträglich. Also bettete ich mich, um loszulassen. Doch als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, lag nicht der Tod vor mir, sondern zum ersten Mal das Leben. Ein Mädchen saß vor mir im Gras. Sie trug ein gelbes Kleid und ihr Haar roch nach Sommer.« Anders schloss die Lider, und es fühlte sich an, als trug der Wind einen zärtlichen Sommerhauch in seine Richtung. »Ich habe mich tausendmal gefragt, wieso ich damals nicht auf sie losgegangen bin, sobald ich mich besser fühlte. Aber die Wahrheit ist, dass ich sie angesehen und gewusst habe, dass sie nur auf dieser Welt ist, um bei mir zu sein. Sie war einzigartig. Und ihre Gegenwart veränderte alles für mich. Nur für sie wollte ich fühlen und denken, wie ein Sterblicher. Nur wegen ihr wünschte ich, meine Seele wäre hell und voller Licht, und mit ihr fühlte es sich an, als wäre dieser Traum plötzlich greifbar. Wenn sie sprach, erschienen vor meinem inneren Auge Bilder. Sie malte mit meinen Gefühlen Dinge auf meine Netzhaut, von denen ich nie zu träumen gewagt hatte, und hielt mir, obwohl sie mich nicht kannte, eine Tür zu einer Welt auf, in die ich mich niemals alleine hineingewagt hätte. Aber sie pflegte mich gesund und nahm mich an die Hand. Und jeden Tag traute ich mich ein Stück weiter aus den Schatten hinaus ins Licht. Und das, obwohl ich anfangs nicht einmal ihre Sprache verstand. Aber ich fühlte ihre Besonderheiten und ich wusste schon damals, dass ein dunkler Schatten über ihr lag. Ich wollte es nur nicht wahrhaben.« Er seufzte, öffnete die Augen und streifte die Katze im Vorübergehen. »Nie hätte ich glauben wollen, dass es für mich wieder eine Zeit ohne sie gäbe. Und obwohl seitdem viel Zeit vergangen ist, und ich mich in all das verwandelt habe, was sie mir mühsam austreiben wollte, gibt es nicht einen Tag, an dem ich nicht fühle, wie ihr der Fluch, den ich über ihre Welt verhängt habe, das Herz bricht.«
»Wieso sie?«
»Ich habe oft darüber nachgedacht, aber nie wirklich eine Antwort gefunden. Alles, was ich weiß, ist, dass mein Herz zu Schlagen aufgehört hat, als ich sie das erste Mal ansah, und ich dachte, ich ersticke. All die bösen Gedanken waren fort, die Stimmen in meinem Kopf wurden still und ich spürte, wie das Sonnenlicht mich berührte und wärmte.«
Die Katze schmunzelte. »Wie ist es dir gelungen, ihr Herz zu gewinnen?«
»Ich wünschte, ich hätte eine Antwort auf diese Frage. Und es war nicht so einfach und unkompliziert, wie es klingt. Eine menge Dinge und Wesen standen zwischen uns. Ihre Geschwister und ihr Vater waren von unserer Bindung nicht sonderlich angetan. Aber Kateryna hat nie aufgehört, zu mir zu stehen. Sie wusste, was ihr Herz wollte, und war bereit, ein Leben lang darum zu kämpfen.«
»Und wenn es einen Weg gäbe, sie zurückzuholen, ganz gleich, wie egoistisch er sein möge, würdest du ihn gehen?«
Anders schmunzelte. »Nein«, erwiderte er dann. »Sie glaubte an Schicksal und Verheißungen und daran, dass ihre Seele nach dem Tod eins mit mir und allem anderen werden würde. Ich mag ein schreckliches Geschöpf sein, rachsüchtig, finster und listenreich, aber ich würde niemals das Seelenheil eines Geschöpfes berühren, das ich geliebt habe.« Er schlug die Augen wieder auf und blinzelte ins Dunkel. Der Hauch von Sommer und die Wärme ihrer Gegenwart schwanden, und plötzlich war er wieder mit der Katze allein in der finsteren Zelle. »Das«, endete er seine Erzählung, »ist alles, was von mir übrig ist. Eine Erinnerung an ein nobles Ziel und der Wunsch, irgendwann, wenn meine Zeit gekommen ist, wieder bei ihr zu sein.«
»Ich wünschte, wir hätten diese Unterhaltung geführt, ehe du hier gelandet bist«, entgegnete die Katze, und traute sich erstmals aus den Schatten heraus. Ihr weißes Fell blitzte, wann immer die Andeutung von Licht darauf fiel und plötzlich spürte Anders, wie es sich in seine Hand schmiegte. Er öffnete die Finger und die Katzengöttin strich schnurrend unter ihnen hindurch. »Aber es ist nie zu spät, um den Wert aller Dinge zu erkennen. Und heute bist du mir zum ersten Mal nicht feindselig begegnet. Du befindest dich auf einem guten Weg dorthin, wieder der Mann zu sein, der du einst werden wolltest.«
»Wirst du mir helfen?« Anders Stimme verlor sich in der kleinen Zelle. Er konnte das Prickeln unter seinen Fingern fühlen, während er behutsam mit der Hand über den Rücken der Katze strich. »Ganz gleich, was ich sage, oder denke, was ich tu, oder wie ich zu alledem stehe: Da draußen existieren zwei Geschöpfe, die mir etwas bedeuten. Ich kann nicht herumsitzen und darauf warten, dass sie irgendeine Dummheit begehen, um mich zu befreien.«
»Denkst du, so töricht kann Freundschaft sein?«
Anders nickte. Er dachte an Alex und Eyndor. An all die Gefahren, die sie bereits meistern mussten und an all die Male, in denen er nicht geglaubt hatte, sie könnten es mit ihm oder der Gefahr in seiner Nähe aufnehmen. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass sie irgendwie versuchen würden, ihm zur Hilfe zu eilen. Selbst dann, wenn es aussichtslos erschien. Dieser Gedanke wärmte etwas in seiner Brust, das sonst kalt und leer war, und durch das der Wind seiner dunklen Gedanken jaulte. »Noch viel törichter«, antwortete er.
»Halte noch eine Weile durch«, sagte die Katze daraufhin. »Ich muss gehen, bevor Isay mich findet. Aber ich gebe dir mein Wort, dass ich dir Hilfe schicke, so klein und unscheinbar sie auch sein mag. Aber ich werde dir helfen.«
Leichtfüßig huschte sie unter seinen Fingern hervor. Der Blick ihrer listigen, giftgrünen Augen streifte den des Engels und kaum, dass sie in die Schatten entschwunden war, und seine Hoffnung langsam schwinden wollte, spürte er, wie sich im Inneren seines Schlosses etwas regte. Ein Prickeln auf seiner Haut kündete davon, dass Isay auf dem Weg zu ihm war. Zum ersten Mal, seit ihn dessen Wachen hier ins Verlies geworfen hatten. Und das konnte kaum ein gutes Zeichen sein.
Er schloss die Augen und lauschte in sich hinein. Hatte die Katze recht? Seit Alex und Eyndor zu ihm zurückgekehrt waren, war ihm eine Veränderung an sich aufgefallen. Zunächst war sie klein und unscheinbar gewesen, doch im Laufe der letzten Tage hatte sein Bewusstsein eine Wandlung durchlebt, die allein dazu fähig gewesen war, ihn im Augenblick größter Gefahr, das Richtige tun zu lassen. Nur dank seines sich wandelnden Denkens war er im Stande dazu gewesen, die zu retten, die ihm etwas bedeuteten.
Für einen Augenblick spielte die Zeit, die zwischen ihm heute und seinem vergangenen Ich lag, keine Bedeutung. Hatte er sich nur daran erinnern müssen, was er sich einst geschworen hatte, um seine Wunden langsam heilen zu lassen? Katerynas Tod hatte eine Leere in ihm heraufbeschworen, die nichts und niemand seither hatte füllen können. Niemand außer ihm? Hatte ihm das die Kätzin sagen wollen?
Mit angehaltenem Atem verfolgte er, wie seine Instinkte ganz langsam zum Leben erwachten. Er konnte spüren, wie Isay näherkam, und als er das Knarren der Tür hörte, wallte seine neuauflebende Hoffnung noch einmal in ihm auf.
Schritte durchdrangen plötzlich die Stille. Ein paar Stiefel kamen den Gang hinunter, gefolgt vom kreisrunden Schein einer begrenzten Lichtquelle. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Isay vor der Zelle postierte, eine halb heruntergebrannte, langstielige Kerze in der Hand, von der Wachs auf den Boden tropfte.
Der Dämon sagte kein Wort, sondern kniete stumm nieder, griff durch das Gitter und drückte die weiche Kerze auf den Steinboden, nur eine Armlänge von Anders entfernt, der wortlos aufsah und dem Blick seines Widersachers begegnete. Mit einem Seufzen, das fast wehleidig und keinesfalls mehr feindselig klang, ließ sich Isay im Schneidersitz auf den Boden sinken, bettete die Hände in den Schoß und heftete den Blick auf seine langen Fingernägel.
»Ich bin traurig«, sagte dieser plötzlich. Der Schein der Kerze erfasste ihn nur flüchtig, aber gut genug, dass Anders aufrichtiges Bedauern in seinen Augen ausmachen konnte. »Ich habe mir unser Wiedersehen anders vorgestellt. Ich dachte immer, wir würden einen anderen Weg finden, und dass dabei keiner von uns hinter Gittern sitzen würde. Ich wollte diesen Augenblick um jeden Preis verhindern, aber du hast es mir unmöglich gemacht, an dich heranzutreten. Du wolltest mich nicht sehen, nicht mit mir reden, nichts von mir wissen. Du bist gegangen und hast mich stehenlassen, in meiner ganzen Unvollkommenheit. Als du fortgegangen bist, habe ich es nicht verstanden, aber heute tu ich es. Ich dachte, du wolltest mir eine Lektion erteilen und mich zwingen, über meine Grenzen hinauszuwachsen. Aber heute weiß ich, du wolltest Frieden finden und den Dämon in dir endgültig bezwingen.« Seine Finger verschränkten sich ineinander, er hob den Blick und musterte Anders lange. »Ich habe all die Jahre so verbittert um deinen Respekt und deine Achtung gekämpft, dass ich beinahe vergessen habe, wie es sich anfühlte, von deiner Anwesenheit zu zehren. Das ist ein sehr bewegender Moment für mich und du musst verstehen, dass ich ihn auskosten will. Es war vermessen von mir zu denken, irgendwann würdest du anerkennen, dass ich dir ebenbürtig bin. Und als ich dich dort vor dem Spiegel sitzen sah, wollte ein Teil von mir vor der Konfrontation fliehen und stolz einen Kampf beschreiten, den ich nicht gewinnen kann. Ich wollte dir gefallen und so edelmütig sein, wie du mich haben wolltest.« Sein Seufzen wurde tief und er klang gequält und entrüstet. »Aber ich habe verstanden, dass ich auf dieser Ebene nicht mit dir kämpfen kann. Und ich werde es nicht weiter versuchen.«
Anders kniff die Augen zusammen und wandte den Blick ab. Tief in sich spürte er, wie sehr ihre erste Begegnung vor vielen, vielen Jahren, Isays Leben gezeichnet hatte. Wäre er unter anderen Umständen noch zu bekehren gewesen?
»Ich«, fuhr der Dämon fort, »hatte nie die Wahl, vor der du gestanden hast. Niemand hat mich gefragt, ob ich als Schattenwesen geboren werden will, ob ich das Dunkel in mir bekämpfen und im Licht stehen möchte. Niemand wollte wissen, was ich denke und fühle, und wie verkorkst die bösen Stimmen sind, die schon mein ganzes Leben lang finstere Dinge in meine Gedanken flüstern. Ich habe nie vor der Wahl gestanden, ein anderes Leben zu wählen. Für mich gibt es nur diesen Weg. Das zu akzeptieren hat mich viel Kraft gekostet. Ich wollte sein wie du. Aber das kann ich nicht. Seit ich dich das erste Mal sah, war ich besessen von dir. Der Fluch, den du über Andhera ausgesprochen hast, hat mein Leben verändert. Du hast ihn heraufbeschworen und dich von allen Sünden reingewaschen, und mein Leben hat er zerstört und mich, solange ich lebe, untrennbar an dich gebunden. Du allein hast mich nach deinem Sinneswandel und deinem plötzlichen Wunsch, dein eigenes Unrecht zu sühnen, zum Widersacher in deiner ganz persönlichen Apokalypse gemacht. Ich hatte nie die Wahl, auszusteigen.«
»Du hättest sie dir nehmen können«, sagte Anders.
»Und du hättest mich mit offenen Armen aufgenommen und mir dabei geholfen, dir ins Licht zu folgen?«, spottete der Dämon und funkelte den Kerub mit hitzigen Augen an. »Lüg mich nicht an. Wir beide wissen, dass du mich zu deinem Feind gemacht hast. Ich wollte weder dir, noch Andhera etwas Böses. Ich habe meinen Platz in dieser Welt gesucht und du hast ihn mir gegeben. Durch dein Handeln habe ich erfahren, wie wenig Wert ein Wesen wie ich in den Augen der Welt hat. Du hast mir gezeigt, was es bedeutet, Macht zu haben. Du hast mich emporgehoben und ins Licht gestellt. Du wolltest mich alles lehren und mir so vieles zeigen. Und dann hast du das Interesse an mir verloren und mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Du hast mich zu deiner Sysyphosaufgabe bestimmt, und ich habe angenommen, weil ich dir nie verzeihen werde, dass du mein Leben zerstört und mich der einzigen Person beraubt hast, von der ich mich verstanden fühlte.«
»Ich wollte dich für gar nichts bestrafen. Und ich wollte dich nie leiden lassen. Alles, was ich wollte, war Frieden mit mir und der Welt schließen«, sagte Anders und fühlte sich plötzlich an Eyndors Worte erinnert, mit denen er seine Flucht aus dem Schwarzen Schloss erklärt hatte. »Nicht alle Entscheidungen, die ich getroffen habe, waren richtig. Aber meine Seele zurückzuerobern, war es. Jetzt ist es zu spät für uns, Isay. Du kannst die Dinge, die zwischen uns stehen, nicht aus meiner Erinnerung streichen, und das ist es, was es mir unmöglich macht, jemals zu dir zurückzukehren.«
Und obwohl er Isays Wesen kannte und die Bedrohung in ihm die Luft knistern ließ, wisperte irgendwo in Anders Bewusstsein eine leise Stimme davon, dass der Dämon nur ein Opfer war, und es eine Zeit gegeben hatte, in der er ihre gemeinsamen Stunden genossen und gutgeheißen hatte. Was, wenn er damals nicht geflohen wäre, sondern den Mut gehabt hätte, Isay die Stirn zu bieten? Wäre dieser dann noch zu retten gewesen?
»Nein, das kann ich nicht. Und könnte ich noch einmal die Entscheidung treffen, ich würde es vielleicht nicht wagen, dich im Schlaf zu überwältigen. Aber die Dinge sind geschehen. Ich war einen Augenblick lang unachtsam und meine Instinkte haben mich übermannt.« Seine Lippen zuckten. »Ich kann spüren, dass ich mich auf einen gefährlichen Pfad begeben habe, auf dem es keinen Weg zurück mehr gibt. Du warst mein Freund, und ich habe dich respektiert. Ich habe dich als das geschätzt, was du bist, und ich habe hingenommen, dass du selbst nicht in der Lage warst, deine Einzigartigkeit zu erkennen. Ich schätzte dich als Freund und als Mentor. Du hast mir gezeigt, wie leicht es ist, Grenzen zu überschreiten und das Regelwerk zu ändern. Nur unserer einstigen Freundschaft wegen habe ich Eyndor jahrelang nichts angetan und bin dir aus dem Weg gegangen. Ich scheute die Konfrontation mit dir, weil ich mich vor dem Augenblick fürchtete, in dem ich gezwungen sein würde, eine Entscheidung zu fällen. Ich wollte diesen Moment hier um jeden Preis verhindern. Aber das kann ich jetzt nicht mehr.« Isays Blick suchten den des Kerubs, und als er ihn fand, wurden seine Augen düster und waren plötzlich von einem irrsinnigen Funkeln erfüllt. »Du musst mir nicht antworten, und es spielt keine Rolle, ob du es dennoch tust. Ich brauche dein Wohlwollen nicht mehr, denn ich habe mich entschieden. Du hast dich entfernt, und ich verstehe jetzt, dass du nicht rückwärtsgehen und vergessen kannst, wieso du einst vor mir geflohen bist. Ich habe akzeptiert, dass du das Dunkel verachtest, das meine Gegenwart in die weckt, und habe entschieden, nicht mehr um deine Gunst zu kämpfen. Nach all den Jahren habe ich dich hier.«
Ein eiskalter Schauer fuhr Anders den Rücken hinab.
»Verstehst du?«, hakte der Dämon nach. »Ich brauche dir gar nicht mehr zu gefallen, denn du kannst nirgendwohin gehen. Du kannst mich nicht bekämpfen und nichts sagen, das mich umstimmen könnte. Und obendrein halte ich etwas in der Hand, das für dich von allerhöchster Wichtigkeit ist. Ich habe dich besiegt und fortgesperrt. Dein Kampf hat keine Bedeutung mehr. Niemand weiß, was du für Andhera tust und niemanden kümmert dein Kampf mehr.« Er schmunzelte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis mein bester Zauberer das magische Schloss deiner Kiste aufbrechen wird. Verstehst du nicht? Zum allerersten Mal bedeutet mir dein Wohlwollen nichts und ich habe es tatsächlich erst begriffen, als ich dich vor dem Spiegel sitzen sah. Ich schaue dich an und sehe nicht den Mann, dessen Stärke ich bewundert habe. Nicht den Helden, der du damals in meinen Augen warst, nicht den Krieger, vor dem ich mich fürchten, und zu dem ich aufsehen sollte. Sondern nur ein widerspenstiges Tier, das gefangen und gezähmt werden kann. Ich weiß genau, was in dieser Truhe ist, und was es dir bedeutet. Und nichts, was du sagst oder tust, wird mich davon abbringen können, es mir zu nehmen. Deine Zeit ist abgelaufen.«
»Wenn du freilässt, was ich weggesperrt habe, wird es dich zerreißen.«
»Nicht«, fuhr der Dämon fort, »wenn es dich zuerst zerfetzt. Ich bin damit vertraut, von der Dunkelheit heimgesucht zu werden. Ich trage alle Konsequenzen. Du jedoch nicht. Du bist so lange vor dir selbst davongelaufen, dass du vergessen hast, wie es sich anfühlt, in der Stille der Nacht den Verstand zu verlieren. Du bist durchgebrannt, hast deine Gefühle abgeschaltet und dir eingeredet, dass dich niemand durchschauen würde. Aber als du mir das Mädchen schicktest und nicht kamst, um ihr beizustehen, auch dann nicht, nachdem ich ihren Tod gefordert habe, verstand ich, dass es nicht anders sein konnte. Du hast deine Bürde abgelegt, dich von allen Fesseln befreit und deine Gefühle abgestellt. Jetzt werden deine Dämonen dich einholen und verzehren, wenn ich sie freilasse. Ich brauche nur geduldig zu sein und zu warten, und am Ende die Scherben zusammenzusammeln, die von dir übrig bleiben. Dann bekomme ich endlich zurück, was du mir in deinem grenzenlosen Egoismus weggenommen hast. Das einzige Wesen, das mich je verstanden hat. Den echten Schwarzen Engel.«
»Isay..«, setzte Anders an und mühte sich, seine Finger zu verbergen, die ganz langsam zu zittern begonnen hatten. Aber es wollte ihm nicht gelingen. »Du hast mir nie mehr bedeutet, als in diesem Augenblick. Ich habe immer nur meine eigenen Ziele verfolgt. Alles, was ich wollte, war Andhera zerstören, um mein Elend auszumerzen. Ich wollte nicht mehr fühlen und denken und an nichts mehr erinnert werden. Aber verstanden habe ich dich und deine Belange nie.«
»Ich fresse dich mit Haut und Haaren auf«, flüsterte Isay mit einem gefährlichen Lächeln auf den Lippen, »und du kannst dankbar sein, wenn ich dir am Ende übriglasse, was von dir bleibt. Ob du mich verstanden hast, oder nicht. Ich sehe dafür heute umso klarer. Und ich weiß genau, was ich tun muss, damit du mir gibst, was ich immer haben wollte. Und wenn du mir nach dem Öffnen der Truhe keine Hilfe bist, so habe ich dafür gesorgt, dass du eingesperrt, entmachtet, einsam und gefesselt immerhin keine Gefahr mehr für mich darstellen kannst. So oder so, ich gewinne.« Er stemmte die Hände gegen den Boden und richtete sich langsam auf. »Jetzt«, fuhr er fort, »kannst du in aller Ruhe mit deinen Dämonen kämpfen, bis sie dich verspeist haben. Ich habe mein Ziel längst erreicht.« Er bleckte die Zähne. Ein Schatten fiel auf seine rechte Gesichtshälfte und hüllte sie in Finsternis. »Ich besiege dich. Und wenn die Zeit gekommen ist, und ich dich nicht brechen kann, lasse ich dich für all das Leid, das ich nach deinem Fortgehen erdulden musste, bluten. Ich werde der Einzige sein, der dir helfen kann, die Schatten zu zähmen. So wie damals. Dein Einverständnis und dein Wohlwollen brauche ich nicht mehr. Nur Geduld. Und davon besitze ich reichlich. Die letzten zehn Jahre haben auch aus mir ein anderes Wesen gemacht. Du wirst schon sehen. Und du wirst schon sehr bald die Bekanntschaft des Mannes machen, der diese Ketten für dich gemacht und den Zauber gesponnen hat, mit dem Darias dich finden konnte. Ihr werdet euch sicher wunderbar verstehen, denn ihr habt etwas gemeinsam. Ein sehr dunkles Herz voller Magie.«
Er drohte sich abzuwenden und endlich kamen Anders Gedanken in Gang. Blitzschnell kam der Kerub auf die Füße und wollte sich nach dem Gitter strecken, aber die Fesseln, die er trug, hielten ihn davon ab, so weit vorzudringen. »Isay!«, rief er ihm nach, doch der Dämon entschwand siegessicher in die Dunkelheit zurück, aus der er gekommen war.
Die Kerze ließ er zurück. Und solange sie brannte, stürzte sich Anders knurrend in einen Kampf um seine Seele, den er am Ende nur verlieren konnte. Jetzt, dachte er, waren die Worte der Kätzin alles, was ihn noch retten konnte. Er schloss die Augen und ließ seinen Geist dahinsiechen, wo Licht und Güte und Hoffnung auf ihn warteten. Er dachte an Kateryna und hielt mit aller Macht an dem Gedanken fest, dass er wieder der Mann sein wollte, den sie in ihm gesehen hatte. Ganz gleich, wie Isays Plan voranschritt, er musste mit aller Macht an dem kleinen Funken Hoffnung festhalten, der ihm blieb.
Den Blick fest in das kleiner werdende Licht der Kerze gerichtet, fühlte er, wie ihre Wärme dem Wunsch gleichkam, endlich wieder Geborgenheit und Leidenschaft spüren zu können. Nur der Preis für dieses Sehnen ließ ihn insgeheim erschaudern.