Die Sonne drängte sich in so vielen Farben in den Vordergrund, dass der Horizont zu brennen schien. Keine Wolke stand am Himmel und doch war das Sonnenlicht gedämpft, als es endlich zum Vorschein kam. Als die ersten warmen Strahlen ins Innere der Höhle fielen und auf Nuins weiches Fell trafen, an das sich Alex in der Nacht gekuschelt hatte, glänzte es beinahe golden.
Als sie den Kopf drehte, schlief der Greif noch immer tief und fest. In der Nacht hatte er sich lange stöhnend hin und her geworfen und Alex fragte sich, ob er vielleicht doch mehr Schmerzen hatte, als er zugeben wollte. Anders hingegen war wach, als sie in seine Richtung schaute. Er saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt und betrachtete die letzten Flammen des Feuers, das Alex mühsam in den späten Abendstunden in Gang gebracht hatte. Ein Hoch auf die vielen schlechten Filme, die in Wäldern und an abgelegenen Orten gedreht wurden!
Aber was in diesen Produktionen immer äußerst leicht schien, nämlich durch Reibung Hitze zu erzeugen, erwies sich in Wirklichkeit als äußerst zähes Vorhaben. Erst fand sie keine passenden Steine, dann kaum brennbares Material rund um die Höhle, das sie zusammentragen konnte, und irgendwann war sie selbst so müde gewesen, dass ihr schon beim Versuch die Augen zugefallen waren. Dennoch - irgendwie hatte es funktioniert.
Behutsam, um Nuin nicht zu wecken, schälte sich das Mädchen aus einem Meer aus Fell und Federn. Sofort wandte ihr Anders seinen Blick und seine ganze Aufmerksamkeit zu. Alex legte rasch einen Finger an die Lippen, um ihm zu signalisieren, dass er ruhig bleiben sollte, und gestikulierte in eine Ecke der Höhle, von der sie annahm, sie wäre weit genug entfernt, um ungestört reden zu können. Und Alex wusste, es gab viel zu sagen, viele Fragen zu stellen, und viele Antworten zu geben.
Erleichtert stellte sie fest, dass der Krieger sofort Anstalten machte, aufzustehen. Zwar hielt er sich bei jeder Bewegung den schmerzenden Unterbauch, doch er kam ganz ohne Hilfe auf die Beine, stützte sich ab und humpelte in die von Alex ausgewiesene Ecke. Dort machte er es sich bequem und wartete, bis sie zu ihm kam.
»Hey«, sagte Alex, als sie an seiner Seite in die Hocke sank.
Er schenkte ihr ein halb verwirrtes, halb erfreutes Lächeln. »Alexandra«, grüße er und hielt ihr auffordernd seine rechte Hand entgegen.
Obwohl sie schmutzig und mit Erde verkrustet waren, reichte ihm Alex ihre Finger und lächelte zurück. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie, während sie all ihre Kraft mobilisieren musste, um ruhig zu bleiben. War es möglich, dass sie jetzt, nach zehn Jahren dem Mann erneut begegnete, der ihren Horizont für das Übernatürliche damals unbewusst geweitet hatte? War es möglich, dass er hier war, ganz real und lebendig? Hatte er sie erkannt? Wusste er, wer sie war?
»Wie aufgespießt«, erwiderte der Krieger - Anders - wehmütig. »Ich bin sehr müde und kann trotzdem nicht schlafen. Was ist passiert? Der Spiegel ist zerstört und das Monster tot? Wirklich?«
Obwohl sie ihm in mehreren Anläufen bereits von den Geschehnissen des letzten Abends berichtet hatte, zeigte sich Alex verständnisvoll für seine Situation. Er hatte viel durchgemacht, war durchbohrt und beinahe umgebracht worden. Und wenn es nötig war, ihm alles noch einmal zu erzählen, dann würde sie es jederzeit tun. »Mein Freund dort drüben«, setzte sie an und wies mit einem Nicken in Nuins Richtung, »hat das Ungeheuer getötet, mit dem du gekämpft hast. Leider erst nachdem du den Spiegel zerstört hast.«
»Ich musste verhindern, dass dieses Wesen in die Anderswelt gelangt und dort das Gleichgewicht zerstört.«
Deswegen also. Alex seufzte. »Ist dir gelungen. Das Tor ist geschlossen. Hat dich beinahe den Kopf gekostet.«
»Die Zerstörung des Spiegels war jedes Risiko wert«, entschied der Fremde daraufhin. »Wenn dieses Ungeheuer in eine andere Welt gelangt wäre, dann..« In diesem Moment stoppte er, blinzelte kurz und musterte das Mädchen mit seltsamer Miene. »Ist es wahr? Kann das möglich sein? Bist du..?« Anders hielt inne, sog aufgebracht Luft zwischen den Zähnen hindurch und krallte seine schmutzigen Finger in den Staub, der den Höhlenboden bedeckte. »Ich erinnere mich an dich«, offenbarte er ihr schließlich, doch seine Worte klangen weder nostalgisch, noch erfreut. Nein, was sich in ihnen zeigte waren Entrüstung und Schrecken. »Was tust du hier? Du bist der letzte Mensch, der an diesen Ort gelangen sollte, verdammt! Du musst Andhera sofort verlassen.«
Plötzlich lagen Spannungen in der Luft. Deutlich konnte Alex spüren, wie sich ihr Gegenüber physisch und psychisch von ihr zu distanzieren versuchte. Was hatte sie auch erwartet? Dass er sich freuen würde, sie zu sehen? Dass sie wie alte Freunde sein würden, die sich unendlich viel zu erzählen hatten?
Dennoch fühlte sie, wie sich ihr Magen in einen Stein verwandelte und Kälte über ihre Haut rauschte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber plötzlich lächelte der Krieger wieder. »Tut mir leid. Das war sehr unpassend von mir, gerade, weil du mich gerettet hast. Ich wusste immer, dass der Tag kommen würde, an dem du mich findest. Es ist Schicksal, denn du besitzt etwas, das uns beide verbindet. Aber ein Teil von mir hat doch immer gehofft, dass es nicht geschieht.« Unsicher senkte er den Blick. »Alexandra«, sagte er mit langsamer, klangvoller Stimme. »Das Mädchen, das mit den Spiegeln spricht.«
»Alex«, korrigierte sie ihn. Röte schoss ihr in die Wangen und plötzlich fühlte sie sich gar nicht mehr so stark und unbezwingbar, wie in den letzten Stunden. »Als ich dich sah, wusste ich sofort, wer du bist«, log sie und verschwieg ihm, dass es auch bei ihr einen Moment gedauert hatte. »Ich dachte damals, du würdest wiederkommen. Ich habe nie jemandem von dir erzählt. Mir hätte wohl ohnehin niemand geglaubt. Wo warst du in den letzten zehn Jahren?«
»Hier«, erwiderte Anders. »In den letzten Jahren gehörte mein Leben der Aufgabe, die Übergänge zwischen den Welten zu bewachen, und irgendwie am Leben zu bleiben. Letzteres ist mir wohl meist besser gelungen, als gestern.«
»Und wieso tust du so etwas?«
»Seit das Gleichgewicht Andheras aus den Fugen geraten ist, ist es unzählig vielen Schattenwesen gelungen, aus dieser Welt in andere zuentkommen. Sie haben dort Chaos angerichtet und ganze Welten zerstört.« Unbeteiligt zuckt er die Achseln. »Irgendjemand muss es tun.«
Alex seufzte. »Und wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass du mir gleich eine haarsträubende Geschichte von Krieg, Dämonen und einem Prinzen der Krähen erzählen wirst?« Sie ging in ein Lächeln über. »Schön, dich zu sehen. Selbst wenn viel Zeit vergangen ist, freue ich mich sehr, dass es dir gelungen ist, nicht getötet zu werden. Bisher jedenfalls.«
Die Stimmung zwischen ihnen löst sich langsam. Mit Anders zu sprechen, ihn anzuschauen ist so gewöhnlich und angenehm, dass Alex fast vergessen könnte, wo sie sich befindet.
»Und ich bin froh, dass trotz der Bürde, die ich dir aufgehalst habe, eine junge Frau aus dir geworden ist. Wie lange ist es her? Wirklich zehn lange Jahre? Du siehst gut aus, scheinst bist klug und aufgeweckt. Eigentlich genau wie damals, als du vor dem Spiegel standest, und nach mir gerufen hast.«
»Genau danach wollte ich dich fragen«, gestand Alex. »Wieso bist du damals ausgerechnet zu mir gekommen? Du sagtest, du suchst jemanden, dem du etwas vermachen kannst. Wieso ich? Es gab mit Sicherheit viele Menschen, die besser geeignet waren, um etwas zu bewachen, als mich. Ich hätte mich nicht einmal wehren können, wenn jemand gekommen wäre, um mir den Schlüssel abzunehmen. Und was hat es mit diesem Schlüssel auf sich? In welches Schloss passt er? Wieso ist er wertvoll? Was-«
Ein Grinsen erhellte Anders Gesicht. »Du hast dich überhaupt nicht verändert«, entschied er und bleckte grinsend die Zähne. »Von vorn, in Ordnung? Langsam. Ich habe nicht nach dir gesucht, Alex. Du hast nach mir gerufen. Ich war verzweifelt auf der Suche nach jemandem aus einer anderen Welt, dem ich einen unvorstellbar kostbaren Schatz anvertrauen konnte. Seit Wochen war ich auf der Flucht vor den Schatten, die mich jagten. Ich war müde und völlig erschöpft. Und da hörte ich dich plötzlich rufen Du hast einen Freund gesucht. Jemanden, der dich so sehen konnte, wie du warst. Und ich habe dich gehört. Im schlimmsten Augenblick meines Lebens warst du - ein kleines Mädchen in einem dunklen Zimmer - das einzige Geschöpf, das mir helfen konnte. Du bist mein Schicksal, und der Schlüssel ist deines.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wirkte dadurch wieder sehr erschöpft und mitgenommen. »Und es tut mir, seit ich ihn dir gab, unendlich leid, was ich dir damit angetan habe.«
»Was hast du mir denn angetan?«
Alex seufzte nicht und war weder wütend, noch verwirrt. Zum ersten Mal in ihrem Leben schienen einzelne Puzzleteile plötzlich sinnvoll zusammenzupassen. Anders, ihre Spiegelgabe, diese Welt - auf einmal wirkte es logisch, dass sie hier sein musste, selbst wenn sie nicht hierher gehörte. War der Grund dafür, dass sie diesen Ort unbewusst aufgesucht hatte, dass sie Bilder von Geschöpfen zeichnete, die hier möglicherweise zu Hause waren, nur ein Zeichen dafür, dass sie schon lange mit dieser Welt verbunden war?
»Ich wollte damals warten, bis du alt genug bist, um dir alles zu erklären. Ich hatte fest vor, dich, sobald du alt genug warst, um es zu verstehen, dieser Bürde zu entheben, aber das Leben kam dazwischen, und plötzlich war zu wenig Zeit da, um nach dir zu suchen.« Das Lächeln auf seinen Lippen bekam erstmals Risse, wirkte aufgesetzt und anstrengend. »Aber jetzt bist du hier, und es ist sicherlich kein Zufall, dass ausgerechnet du mein Leben gerettet hast. Ich habe dir damals einen gestohlenen Schlüssel gegeben, für den ich mein Leben riskiert habe. Ich wusste, er würde bei mir nie in Sicherheit sein. Nicht, solange man nach mir suchte, und ich ihn bei mir trug. Aber damit du verstehen kannst, muss ich etwas weiter ausholen.« Anders neigte den Kopf leicht zur Seite und warf einen Blick zu Nuin hinüber. »Und ich bitte dich, ihm nur so viel zu verraten, wie er unbedingt wissen muss. Man kann niemandem trauen.«
»Einverstanden. Ich verspreche es.«
In diesem Moment ergriff Anders ihre Hand und drückte ihre Finger freundschaftlich. »Ich vertraue dir, weil ich es immer schon getan habe. Und jetzt wird das Ganze, fürchte ich, doch eine Geschichte über abtrünnige Kerubs und gefährliche Dämonen. Was weißt du über den Krähenprinzen?«
»Ich weiß, dass er ein Erwählter der Götter ist, der euch beschützen, und das Böse bekämpfen sollte. Nuin hat gesagt, er sei von seinen eigenen Dämonen bezwungen und selbst zur Gefahr geworden. Und, dass er verschwunden ist. Das ist alles.«
»Das ist nicht alles. Ich bin ihm begegnet. Vor vielen Jahren beschloss er, dass er die Kontrolle verloren hatte und da er im Besitz einer Waffe war, die allen Erzählungen nach über das Schicksal Andheras entscheiden wird, verschloss er diese in einer magischen Truhe. Den Schlüssel gab er dem einzigen Mann, dem er trauen konnte. Einem jungen Krieger namens Eyndor. Vielleicht hast du diesen Namen schon einmal gehört? Jedenfalls halten sich die Gerüchte einsam, dass diese Waffe, einmal entfesselt, Sieg oder Niedergang Andheras bedeutet. Man sagt, um sie wegzusperren, brauchte der Schattenprinz all seine Macht auf und verlor sich in dem Dunkel, das er bekämpfen wollte. Der Schlüssel, den du bei dir trägst, öffnet die Truhe, in der diese Waffe seither liegt. Ohne ihn ist sie unbrauchbar und genau das macht diesen Schlüssel so wertvoll. Und dich. Ich stahl ihn Eyndor und brachte ihn fort. Zu dir. Weit genug weg, dass der Einfluss des Prinzen nie ausreichen würde, um ihn zu finden.«
»Wieso?«
»Nun, als der Prinz den Verstand verlor, begann er, sein eigenes Volk, seine Anhänger, zu gefährden. Ihm diese Waffe und die Entscheidungsgewalt zu überlassen, grenzte an Wahnsinn.«
»Und Eyndor?« Wie war der Sdchlüssel dann zurück zu Anders gelangt, und schließlich zu ihr?
»Man sagt, Isay hat ihn gefangen genommen, um sich den Gehorsam seines Widersachers zu sichern. Und seither sind sie beide verschwunden. Eyndor wurde in ein dunkles Verlies gesperrt, und der Schattenprinz hat sich ins Exil verbannen lassen, und ringt dort mit seinem Verstand oder dem, was noch davon übrig ist.« Anders Stirn schlug nachdenkliche Falten. Er musterte Alex lange, als würde er nachforschen wollen, ob sie ihn tatsächlich verstanden hatte. »Eyndor ließ ihn mir über einen Freund zukommen. Einen Krieger namens Reyndra. Wir beschlossen, diesen Schlüssel außerhalb unserer Welt zu verstecken. An einem Ort, an dem der Krähenprinz ihn nicht fühlen kann. Er darf niemals in Besitz dieses Schlüssels kommen, denn es steht außer Frage, dass er ihn widerstandslos an Isay ausliefern, Eyndor freikaufen, und unser aller Schicksal besiegeln würde. Wir dürfen nicht zulassen, dass es so weit kommt. Mit dieser Waffe in den Händen ist Andhera Isays Zorn schutzlos ausgeliefert und wir alle verloren.«
»Dann solltest du ihn nehmen«, erwiderte Alex, langte nach der Kette und wollte diese hervorziehen, als Anders mit einem Zischen ihre Hand packte.
»Alex, nicht!«, warnte er sie. Er vermied es sorgfältig, sie oder den Schlüssel auch nur anzusehen. Als würde ein Blick alles zerschlagen, was er aufgebaut hatte.
»Du darfst ihn niemals aus der Hand geben, hörst du? Niemandem. Nicht einmal mir.« Ein tiefer Atemzug erschüttert seine Glieder. »Vor allem nicht mir.«
Verwirrt zog das Mädchen die Hand zurück und ließ den Schlüssel wieder in ihren Kragen rutschen. Das Schaben von Silber auf Stoff, weckte Joshau auf. Mit einem Gähnen reckte der Rattenmann sein Köpfchen aus ihrem Kragen hervor und blinzelte mehrmals schlaftrunken, ehe er sich wieder zurückzog.
»Weil ich seinen Wert kenne, bin ich anfällig für den dunklen Zauber der Truhe. Wenn du ihn mir gibst, riskieren wir, alles zu verlieren. Also biete ihn mir niemals wieder an, in Ordnung? Ich könnte schwach werden und einwilligen. Ganz Andhera geriete in Gefahr, wenn ich versucht wäre, diese Waffe zu benutzen.«
»Aber ich muss nach Hause zurück, und ich werde den Schlüssel mitnehmen. Dass wir uns begegnet sind, muss doch eine Bedeutung haben? Denkst du nicht, es bedeutet, du sollst ihn wieder an dich nehmen, und euch alle retten?« Für einen Moment lang kam sich Alex komisch vor. Sie hatte so viele Bücher über mutige Helden und Zauberwelten, über unendliche Schlachten und Gut und Böse gelesen, dass für sie außer Frage stand, dass all diese Dinge eine Bedeutung hatten. Aber war ihre Wahrnehmung durch die Geschichten getrübt, in denen sie sich so oft versteckt hatte? Liefen die Dinge in der Wirklichkeit anders? Und war es einfach nur Zufall, dass das zweite Wesen, dem sie begegnete ausgerechnet Anders war?
»Wenn es etwas bedeutet, dann sicher nicht das, was du glaubst.« Nun seufzte der Krieger doch. »Alex, ich zerstöre seit über zehn Jahren sämtliche Spiegel. Ich bringe mich jeden Tag in tödliche Gefahr und begegne immerfort Schergen des Bösen. Wenn ich den Schlüssel nehme, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie mich fassen, und mir den Schlüssel abnehmen, oder mich zwingen, ihn herauszugeben. Soll alles umsonst gewesen sein?«
»Natürlich nicht, aber..«
»Aber was? Keiner von uns weiß, in welcher Verfassung der unser Krähenprinz ist.«
»Aber wenn er den Kampf sucht, und nicht über die Waffen verfügt, die er braucht, dann...«
Anders räusperte sich geräuschvoll. »Ich werde deutlicher sein müssen. Ich bin nicht sicher, dass das Monster, das du gestern Abend gesehen hast, von Isay geschickt wurde.«
»Du denkst, es könnte der Krähenprinz gewesen sein?«
»Ich halte es für möglich. Die Grenzen verschwimmen immer mehr. Er lässt in allen Welten, an jedem Ort, in jedem Dorf, überall nach seinem Schlüssel suchen, weil er alles tun würde, um Eyndor freizukaufen. Als Isay den jungen Krieger festnehmen ließ, erpresste er vom Kärhenprinzen die Truhe, in der sich die Waffe befindet. Alles, was ihm noch fehlt, um unsagbar mächtig zu sein, ist der Schlüssel. Wenn er ihn bekommt, sind wir alle verloren.«
»Du hast nicht sehr viel Vertrauen in euren Krähenprinzen.«
»Wie könnte ich auch?«, entgegnete Anders, plötzlich sehr hitzig und angespannt. »Er hat uns im Stich gelassen, als wir ihn am dringendsten gebraucht haben. Er war nicht da, als unsere besten Krieger starben, als Isay Familien entzweite und Dörfer auslöschte. Und wo war er, als Isay den einzigen Freund gefangen nahm, der ihm geblieben war? Du brauchst kein Mitleid mit ihm zu haben. Er ist ein Verräter und ein Feigling. Er hat uns im Stich gelassen und wir sind ihm alle zusammen weniger wert, als ein einzelnes Leben. Das ist, was der Krähenprinz ist: jemand, der eine ganze Welt verraten hat. Jemand, der sich aufgegeben hat, und uns dazu. Glaub mir bitte, in deinen Händen ist der Schlüssel sehr viel sicherer, als in meinen.«
»Und wenn ich wieder nach Hause gehe, dann-« Alex stockte. »Ich gehe nicht mehr nach Hause«, murmelte sie. »Wie viele Spiegel hast du zerstört?«
»Alle. Jeden, den ich finden konnte.«
»Ohne Spiegel«, sagte das Mädchen, »komme ich niemals mehr in meine Welt zurück. Wenn du noch irgendwo einen kennst, dann musst du es mir sagen. Ich verspreche dir, wenn ich gehe, nehme ich den Schlüssel mit. Aber bring mich nach Hause.«
Anders nickte, doch sein Gesicht zeigte Sorgenfalten. »Ich kenne einen Zauber, mit dem man Spiegel aufspüren kann. Mit Hilfe seiner Macht habe ich all jene gefunden, die ich zerschlagen und unbrauchbar gemacht habe. Ich kann ihn für dich einsetzen, aber ich bin mir sicher, dass dir die Antwort nicht gefallen wird.«
»Weil es der Letzte war«, schlussfolgerte Alex und spürte, wie ihr Herz einen Satz machte.
Doch Anders schüttelte den Kopf. »Weil der Zauber seit Jahren nur noch einen Spiegel findet, den ich nicht zerstören kann. Bis gestern Abend jedenfalls, als er ausschlug und mir den Spiegel zeigte, den du mitgebracht hast.«
»Und dieser allerletzte Spiegel, den du nicht zerschlagen kannst«, wiederholte Alex seine Worte. »Wo befindet er sich?«
Langsam hob Anders den Kopf und brannte seinen Blick so fest in den des Mädchens, dass es Alex beinahe den Atem verschlug. Die Antwort offenbarte sich ihr auch ganz ohne Worte. »Er ist bei ihm, nicht wahr?«, sagte sie, während sich der kleine Funken Hoffnung, der in ihr aufkeimen wollte, in Rauch und Asche auflöste. »Er ist im Besitz des Krähenprinzen.«
Anders nickte, und Alex Mut sank.