Ragnar raufte sich den Kinnbart. Was für ein elender Tag!
Am Morgen war er, noch ohne richtige Orientierung nach dem reichlichen Met, nackt in seiner Scheune aufgewacht. Die Kälte des offenen Tores hatte ihn frösteln lassen. Der Schädel dröhnte ihm und seine Füße waren eisig. Mühsam hatte er sich aufgerappelt, nur um bei einem Blick auf seinen Körper feststellen zu müssen, dass sein Schwanz mit Blut und Samen bekleckert war. Bei Odin, war ihm schlecht gewesen!
Dann kam langsam doch die Erinnerung zurück. Er war auf Rúna gewesen und ganz offensichtlich hatten sie viel Spaß miteinander gehabt. Anders konnte er sich nicht erklären, warum er sich an ihr Stöhnen und ihre halblauten Schreie erinnerte. Wo aber war sie hin?
So langsam war er munter geworden und als er endlich stand, war ihm sein sorgsam zusammengefaltetes Kleiderbündel aufgefallen. Der Dolch ganz oben wies auf den Platz, an dem er gerade noch geschlafen hatte. Er hatte lange gebraucht, bis sich die Erinnerungsstücke der Nacht in seinem benebelten Hirn zusammenfügten. Rúnas zerrissenes Unterkleid war ein Wegweiser gewesen, das und der dunkelblaue Fleck knapp unterhalb seines linken Hodens. Verdammt nah dran war sie bei ihrem letzten Tritt gewesen!
Er hatte sich angezogen und dann vorgehabt, seinen Dolch in den Gürtel zu schieben. Ein letzter Blick auf die Klinge hatte jedoch seine Erinnerung schlagartig zurückgebracht. Bei Thors Hammer! Sein Versuch, Rúna von sich zu überzeugen war aber auch sowas von schief gegangen!
Ein wenig später saß er in seinem Haus und versuchte der schmollenden Lathgertha zu erklären, warum er erst jetzt aus der Schildhalle zurückgekommen war. Gerade war sie dicht zu ihm getreten und Ragnar machte sich auf das Schlimmste gefasst. Die Schildmaid sog tief die Luft an seinem Oberkörper ein und fluchte dann ausgiebig. "Du stinkst nach ihr!", ließ sie ihn trocken wissen. "Sieh zu, dass du an einen Eimer Wasser kommst und danach nüchtern wirst. Heute Nacht kannst du auf der Bank am Feuer schlafen!"
Was für eine Öde! Ragnar sah Lathgertha nach, die, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen, aus dem Haus rauschte. Bei Mjölnir, sein Schädel brummte! Vielleicht tat ein Eimer Wasser ja ganz gut?
Mühsam stand der Jarl auf. Ein Morgenmahl wäre auch nicht zu verachten. "Was klotzt ihr so?", fauchte er die beiden Sklavinnen an, die tuschelnd an der Wand lehnten. "Seht zu, das etwas zu essen auf den Tisch kommt, sonst macht ihr heute die Schweinekoben sauber!"
Als die beiden Mädchen kichernd im hinteren Teil des Hauses verschwanden, ging auch Ragnar nach draußen. Ein Eimer Wasser am Brunnen musste her!
Gerade hatte der Jarl den eisigen Guss überstanden, da schlang sich eine feste Männerhand um seine Kehle. Instinktiv setzte sich der Jarl gegen den Griff zur Wehr, doch er kam nicht gegen seinen Angreifer an. Ein Mann, sicher eine gute Handbreit größer als er, hielt ihn hartnäckig in einem unlösbaren Griff gefangen.
"Du wirst dir jetzt ein Pferd holen, Ragnar", raunte Rollo dicht an seinem Ohr. "Und dann reiten wir ein wenig hinauf in die Berge." Der Bruder des Jarl lachte freudlos. "Es sei denn, du willst dich gleich hier gegen mich zur Wehr setzen. Das wäre mir natürlich auch recht!" Der Griff um seinen Hals lockerte sich ein wenig. "Wollen wir, Bruder?"
Ragnar knirschte mit den Zähnen. Wenn ein Tag schlecht begann, blieb er meist auch so. Dass sein Bruder mal wieder eine Abreibung brauchte, hatte ihm gerade noch gefehlt. "Was ist es heute, Rollo?", wollte der Jarl freudlos wissen. "Sind dir die Abgaben für die Leidang zu hoch? Oder hast du dich mal wieder mit Aodh angelegt und ich soll nun für dich die Wogen glätten?" Der Jarl kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, was den Jüngeren am meisten ärgerte. Jeder noch so kleine Angriff auf dessen Ehre war es Rollo wert, sich darum zu schlagen. Doch die heutige Antwort war auch für den Jarl überraschend.
"Rúna!", flüsterte Rollo ihm ins Ohr und ließ ihn los.
Ragnar richtete sich keuchend auf. "Was ist mit ihr?"
"Das wirst du noch früh genug erfahren", knurrte Rollo. "Komm jetzt! Oder soll ganz Straumfjorður dabei zusehen?"
Ragnar begriff, dass sein Bruder es ernst meinte. Als Knaben und junge Männer hatten sie sich, bei Thor, oft genug geschlagen. Um Frauen, um Beute, einfach um die Ehre, der Stärkere zu sein. Dabei waren sie auf eine kleine Lichtung im Wald gegangen, um ungestört zu sein. Jedes Mal hatte ihre Mutter ihnen, so lange sie klein genug dafür waren, eine heftige Kopfnuss für die zerrissenen Wämser und die aufgeschlagenen Knie verpasst, später hatte sie sich mit saftigen Sprüchen begnügt. Doch heute sah die Sache ganz anders aus. Rollo war entschlossen, etwas zu Ende zu bringen und der Jarl hatte keine Ahnung, wo es begonnen hatte. War Rollo auf ihn eifersüchtig?
Seufzend gab er dem Jüngeren nach und holte seine Stute aus dem Stall. Einen Sattel brauchte er für die kurze Strecke wohl nicht. Rollo hatte ein Seil über die Schulter geworfen, mit dem sie die beiden Pferde später problemlos anbinden konnten. Schweigend ritten die Brüder in den Wald hinein.
Dann, als sie die Siedlung schon weit hinter sich gelassen hatten und ein seichtes Flüsschen durchquerten, wurde Ragnar das Schweigen unerträglich. "Was ist mit Rúna, dass du dich ihretwegen mit mir schlagen willst?", forschte er nach. Denn das es um eine Prügelei unter Brüdern ging, war dem Jarl im Laufe ihres Ritts klargeworden. Rollo war unbewaffnet, genau wie er.
Der Jüngere zügelte seinen Braunen und sah den Jarl zornig an. "Sie ist seit heute Morgen Gast in meinem Haus!", ließ er den Älteren wissen. "Und wenn du wissen willst, wie sie da hin kam, sollst du auch das erfahren!"
Der Fluss war durchquert und sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung im Wald hinter Straumfjorður. Rollo zügelte sein Pferd und sprang ab. Zielstrebig zog er das mitgebrachte Seil durch das Zaumzeug seines Wallachs.
Auch Ragnar stieg ab. Er würde sich seinem Bruder stellen. Sich dem Kampf zu verweigern, kam nicht in Frage. Schnell tat er es Rollo nach und band auch sein Pferd an. Die beiden Tiere würden schon miteinander klarkommen.
Rollos Blick war eiskalt, als sich der Jarl ihm nun stellte. "Sie ist von den Klippen gesprungen, nachdem du sie eine ganze Nacht lang gegen ihren Willen bestiegen und geschlagen hast!", warf er seinem Bruder vor. "Und dabei hast du ganz genau gewusst, dass Thorstein sie wollte." Die Faust Rollos schnellte vor und traf Ragnar am Kinn. Kaum hatte sich der Jarl von dem Schlag erholt und ging in eine brauchbare Abwehrstellung, da brüllte Rollo auch schon weiter. "Er wollte sie zu seiner Gefährtin machen, Bruder!" Bei dem Wort 'Bruder' wurde es Ragnar kalt. So verbittert, wie Rollo mit ihm sprach, wurde das hier wirklich ernst!
Der zornige Krieger, der dem Jarl gegenüberstand, zog berechnend die Brauen zusammen. "Ich bin sicher, auch davon wusstest du, auch wenn du es mir gegenüber tunlichst verschwiegen hast." Tänzelnd baute sich Rollo vor Ragnar auf, bis in die Haarspitzen angespannt und hoch konzentriert. Lange würde er hier nicht mehr reden. Dann sollte Ragnar ihm zeigen, ob er es wert war, dass er, Rollo, für ihn log. "Dabei habe ich immer gedacht, du bist sein Freund."
"Ich bin sein Freund, Rollo", versuchte der Jarl seinen aufgebrachten Bruder zu beschwichtigen. Doch dieser Satz brachte den Zorn des Kriegers endgültig zum Überlaufen.
"Wenn das Freundschaft ist, braucht Thorstein keine Feinde mehr!" fluchte er. "Ich habe ihn immer beneidet, weil er anscheinend an erster Stelle bei dir kam. Doch er ist auch mein Freund, mein treuer Kampfgefährte, und wenn er es nicht selber kann, dann werde ich heute und hier für ihn einstehen!"
Rollo griff an und Ragnar hob nun auch die Fäuste, um sich zu verteidigen. Schlag folgte auf Schlag, Tritt auf Tritt und die beiden Brüder schenkten sich nichts. Bald schon war Ragnars Augenbraue aufgeplatzt und Blut lief in sein linkes Auge und tropfte wenig später von seinem Kinn. Rollos Lippe war ebenfalls gerissen, doch noch immer prügelte er wie von Sinnen auf seinen Gegner ein. Ein Knirschen und ein erneuter Schwall Blut zeigte bald darauf an, das er dem Älteren die Nase gebrochen hatte.
Ragnar seinerseits war ebenfalls ganz in die Rolle des Kämpfers geraten. Nach und nach drängte er Rollo zum Fluss und als der Jüngere dessen Ufer erreichte, ließ er ihn mit einem gezielten Tritt in den Schlamm fallen. Ein Haken seines Gegners riss ihn ebenfalls zu Boden und die Brüder balgten sich noch eine ganze Weile im seichten Wasser. Irgendwann bekam Ragnar den Hals seines Bruders zu packen. Mit letzter Kraft drückte er ihn unter Wasser und hielt ihn eine Weile dort gefangen. Rollo wehrte sich verzweifelt, doch der Jarl gab nicht nach.
Erst als Rollo anfing, Wasser zu schlucken und angstvoll in den Händen seines Gegners zu zucken, gab der Jarl nach. Mit einer Hand packte er Rollos Kyrtel und zog ihn hoch. "Was ist nun mit Rúna?", wollte er wissen. "Wie geht es ihr?"