Am nächsten Tag ließ Horik alle Bewohner von Moseby und sein gesamtes Gefolge neben den verkohlten Überresten der Halle zusammenrufen. Verängstigte Menschen drängten sich zusammen, um sich gegenseitig zu schützen. Verschlossene Gesichter der Krieger musterten aufmerksam jede Bewegung. Auch Ragnar und seine Männer beobachteten gespannt, wie sich Horiks Plan entwickeln würde.
Doch zunächst mussten sie lange warten, bis der König bereit war zu erscheinen.
»Er genießt es!«, brummte Rollo ungeduldig. »Er spielt mit uns und mir gefällt nicht, was es bedeutet.«
»Mir auch nicht«, versicherte Thorstein. »Doch wir werden uns keine Blöße geben und geduldig bleiben. Das ist es doch, was er will – uns herausfordern. Das soll ihm besser nicht gelingen!«
»Wir werden ihm nichts geben, das ihn heute reizt«, versicherte jetzt auch Ragnar. »All das hier ist zu riskant, um einen Konflikt auszulösen. Keiner von uns wünscht sich weitere Verletzte oder gar Tote.«
Später jedoch, als die Sonne eine gute Handbreit höher gestiegen war, fiel es auch Ragnar schwer, ruhig zu bleiben. Nach einer letzten, vernichtenden Ansprache an die Bewohner von Moseby, gab Horik seiner Tochter ein Handzeichen und diese trat ein paar kleine Schritte vor die Gruppe des Königs.
»Ihr alle hier«, Horiks Hand wies über die Menschen und die Siedlung, »ihr alle steht nun unter meiner unmittelbaren Herrschaft. Jeder, der sich etwas zuschulden kommen lässt, hat das vor mir zu verantworten. Versteht ihr das?« Den letzten Satz knurrte er wütend über den offenen Platz und sah dann befriedigt, wie die Menschen vor ihm furchtsam nickten.
»Ich bin euer Herrscher! Und es wäre besser, wenn das keiner von euch jemals mehr vergisst. Einen zweiten Verrat wie diesen, den Arngrim unserer Gemeinschaft gegenüber begangen hat, werde ich nicht mehr so gnädig vergeben.«
Die finsteren Blicke von Horiks Kriegern ließen ein Gemurmel des Widerspruchs schnell verklingen.
»Solltet ihr mich ein zweites Mal verraten, werde ich jeden der Siedlung, egal welcher Stellung, ins Meer jagen. Ich werde Verrat mit Tod bestrafen, ohne eine Ausrede zu akzeptieren.«
Horik sah selbstzufrieden um sich. »Ich sehe, ihr versteht mich«, ließ er die Menschen dann etwas leiser und friedlicher wissen. »Doch ihr sollt auch nicht vergessen, wer euer Anführer ist, wenn ich wieder in Århus bin. Aus diesem Grund werde ich euch Birthe als neue Anführerin geben. Als meine Tochter hat sie alle Macht inne, die auch mir gebührt. Sie wird ebenbürtig wie jeder andere Jarl behandelt werden. Ihr werdet ihr auf Knien die Treue schwören. Hier und sofort! Und damit ihr nicht glaubt, dass ihr eine schwache Frau vor euch habt, die ihr betrügen oder täuschen könnt, wird dieser Mann hier ihr Stellvertreter sein, der sie berät und jeden zur Rechenschaft ziehen wird, der Birthes Ansprüchen zuwiderhandelt.«
Der König hatte bei seinen Worten Santór eine Hand auf die Schulter gelegt und dieser war ebenfalls nach vorn getreten und nur einen kleinen Schritt hinter der Königstochter stehengeblieben.
Der König lächelte und Thorstein sah, wie er einen kurzen, triumphierenden Blick auf Ragnar warf. Der Moment war kurz, doch der Steuermann begriff, dass sich hier der ganze Plan Horiks zeigte: Offenbar war ihm Ragnars Macht in Straumfjorður und vielleicht auch die Verbundenheit zwischen ihm und seinen Männern zu gefährlich geworden. Indem er scheinbar dessen Gefährtin ehrte, beschnitt er die Rechte des Jarls drastisch. Er gab ihm keine Macht in Moseby, ja er ließ ihn nicht einmal den Platz eines Beraters seiner Tochter Birthe. Ragnar blieb der Jarl von Straumfjorður. Aus dem Sieg über Moseby zog er keinen Gewinn. Deutlicher hätte er den Anführer ihrer Siedlung nicht in die Schranken weisen können.
Sicherheitshalber legte Thorstein seinem Jarl eine Hand auf die Schulter, um ihn von einer vorschnellen Handlung abzuhalten. Doch Ragnar knirschte nur mit den Zähnen. »Keine Angst, Thorstein«, knurrte er dann wütend. »Ich bin still wie das Meer vor dem Sturm. Ich werde die Herausforderung nicht annehmen. Ich bin nicht dumm!«
Sie sahen stumm zu, wie die Menschen von Moseby vor Birthe und Santór niederknieten. Nach und nach legte jeder von ihnen einen Eid auf diese Gefolgschaft ab. Erst am späten Nachmittag löste sich die Versammlung langsam auf.
»Wir können hier nicht offen reden«, ließ Rollo seinen Bruder wissen. »Hier hat der Sand Ohren.«
Ragnar nickte. »Wir müssen uns so bald wie möglich besprechen. Das hier geht über alles hinaus, was ich mir vorgestellt habe. Die Zukunft in Freiheit und Wohlstand, die ich für Straumfjorður erhofft hatte, wird es auf diesem Weg nicht geben. Wir alle werden einem Herrn dienen, der seine Macht mit allen Mitteln festigt. Das werden nicht die letzten Leichen sein, die zu Hel gehen.«
»Vermutlich nicht«, stimmte Thorstein zu. »Das ist die Zukunft, vor der Jorunn uns gewarnt hat. Der Drache war uns viel näher, als wir alle geglaubt haben.«
Über ihnen schrie ein Rabe. Ragnar sah seinem Flug hinterher. »Doch sie hat auch einen Ausweg genannt. Oder nicht?«
Rollo schwieg und sah fragend zu Thorstein. Auch dieser schwieg lange, dann nickte er Rollo zu. Von diesem kam nur ein einziges Wort: »Segeln!«