Liebe Leserinnen der Seewicingas,
Da "mein" Jarl Ragnar ja fiktiv ist (der historische Ragnar Lodbrok kam vermutlich sogar aus Island - aber die Quellen sind nicht sicher!), bekommt er auch ein fiktives Domizil, von dem aus er herrschen und seeräubern kann. Ich präsentiere: Straumfjorður, einen Ort an der Ostküste des Kattegat (grins) mit Zugang zu einem schützenden Fjord und reichlich fruchtbarem Hinterland. Ich hoffe, ihr mögt die Siedlung ebenso sehr wie ich. Viel Spaß nun beim nächsten Kapitel, das ein wenig von Rúnas Herkunft erzählt.
Der Überfall König Göttriks auf Rerik ist historisch sicher, ebenso Haithabu als Umschlagplatz für Waren und Sklaven.
GLG Sophie - die sich auf eure Kommentare freut!!
Eine gute Woche später war Rúna von ihrem Fieber genesen und stark genug, dass sie die Völva zu einer geschützten Stelle am Fjord begleiten konnte, um sich endlich zu baden. Die Hütte der Seherin lag ein wenig außerhalb der Siedlung, in der Ragnar Loðbrók als Jarl von Straumfjorður residierte. Dass die Alte diesen längst über die Genesung des ihr anvertrauten Mädchens informiert hatte, ahnte Rúna nicht. So überraschte sie die Anwesenheit der reich gekleideten Frau, die bei ihrer Rückkehr vor der Hütte der Völva auf sie wartete. Höflich verbeugte sich die alte Heilerin vor dem Gast.
"Lathgertha, welche Freude!", begrüßte sie die Jüngere. "Du bist sicher gekommen, um eure neue Sklavin abzuholen?" Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Dennoch nickte die als Lathgertha Angesprochene zustimmend.
"So ist es, Seherin. Ragnar lässt dir ausrichten, dass du dir aus unserer Schafherde eines der Lämmer aussuchen sollst als Lohn für deine Mühe bei der Pflege."
Das alte faltige Gesicht der Völva erstrahlte bei diesen Worten. Es war das erste Mal, dass Rúna die Seherin lächeln sah.
"Das, meine liebe Lathgertha, ist sehr großzügig von unserem Jarl. Grüß ich von mir. Er kann mir jederzeit wieder seine kranken Leibeigenen schicken, wenn er mich immer so reich belohnt."
Die beiden Frauen lachten herzlich und die Völva schob derweil Rúna mit einem festen Griff die wenigen Stufen zu ihrem Grubenhaus hinab. Das Mädchen fügte sich widerstandslos. Was hätte sie auch gegen die beiden Frauen ausrichten sollen? Wohin hätte sie sich wenden können? Hier, tief im Herrschaftsgebiet der Nordmänner, kannte sie sich kein bisschen aus. Und wenn sie ehrlich war, konnte es hier nicht viel schlimmer kommen als bei ihrem letzten Herrn. Allein auf sich gestellt, gab es aber auch hier kein Überleben, das sich lohnte.
Also ließ sie es zu, als Lathgertha sie aufforderte, sich vor ihr auszuziehen, damit sie ihren Körper begutachten konnte. Dabei wusste sie es zu schätzen, dass man ihr das übliche Leinentuch ließ, mit dem sie ihre Blöße bedeckte. Nachdenklich wurde sie von der Gefährtin des Jarl betrachtet. Ohne ihr weh zu tun, fuhr diese dann die breite Narbe nach, die auf Rúnas Rücken prangte. Obwohl sie selbst nie einen Blick darauf hatte werfen können, wusste sie von Balbó, dass der fingerbreite derbe Striemen noch immer rot und wulstig war. Der Schnitter hatte von ihr deshalb auch verlangt, dass sie ihm beim Liebesspiel nie den Rücken zukehrte. Es stoße ihn ab, sie derart verunziert zu sehen, hatte er als Grund vorgegeben. Doch in Wirklichkeit lag es wohl daran, dass er nicht verstand, warum sie diese Narbe überhaupt in Kauf genommen hatte.
"Woher hast du die?", riss sie nun die Stimme ihrer, wie sie zumindest annahm, neuen Herrin aus den Erinnerungen. Rúna schüttelte den Kopf, um die alten Zeiten aus ihrem Sinn zu vertreiben. Ári war tot und es ging niemanden etwas an, dass sie ihren eigenen Herrn aus dem Feuer gezogen hatte, anstatt aus der Gefangenschaft zu fliehen. Das war es gewesen, was Balbó nicht verstanden hatte. Doch damals konnte sie den alten Mann nicht in der Scheune zurücklassen. Das hatte keiner verdient, lebendig verbrannt zu werden.
"Ein brennendes Eichenbrett hat mich dort getroffen", antwortete sie ausweichend. "Es ist aber gut geheilt und beeinträchtigt mich nicht bei der Arbeit."
Die Nordlandfrau lachte leise. "Das bezweifle ich nicht!", erwiderte sie dann heiter. "So, wie du Ragnar beeindruckt hast, musst du aus einem festen Holz sein." Mit einer Geste wies sie auf ein Bündel, das sie offenbar mitgebracht hatte. "Zieh das dort an. Die Lumpen von der Überfahrt sind nicht mehr tragbar. Am besten werden sie verbrannt."
Während Rúna nun zu den Kleidungsstücken griff, die ihr für ihren Stand zu neu und auch zu gut erschienen, setzten sich die beiden anderen Frauen zu einer kleinen Unterhaltung an das offene Feuer der Völva.
"Sie hat Ragnar tatsächlich einen Feigling genannt", verriet Lathgertha schmunzelnd. "So verwirrt habe ich meinen Mann schon lange nicht mehr gesehen." Nachdenklich musterte sie das Mädchen, das sein langes Haar gerade unter einem dunklen Kopftuch verschwinden ließ.
"Ich glaube, sie hat ihm dennoch recht gut gefallen, auch wenn sie ein wenig zu respektlos ihm gegenüber war. Solche Frauen findet man selten unter dem Bauernvolk an der Westküste …"
Die Völva nickte wissend. "Sie sind alle Dienerinnen dort, egal, ob sie nun frei oder Sklavinnen sind. Eine Frau mit Verstand wird man kaum antreffen."
Leise besprachen sich die beiden weiter, die Wörter waren dabei so gedämpft, dass Rúna, die nicht als Lauscherin dastehen wollte und deshalb höflich am Eingang wartete, kaum etwas verstand. Schließlich erhob sich die Gefährtin Ragnars und verabschiedete sich von der Seherin. Auch Rúna wurde genügend Zeit gegeben, sich für ihre Heilung bei der Alten zu bedanken, dann gingen die beiden davon.
"Wie war es dort, wo du herkommst?", forschte Lathgertha und betrachtete Rúna dabei von der Seite. So sehr das Fieber der geraubten Frau auch zugesetzt hatte, die herben Gesichtszüge und die Ernsthaftigkeit in deren Blick konnten nicht allein Folge der Überfahrt sein. "Du warst schon immer unfrei, oder?"
Rúna verlangsamte ihren Schritt ein wenig. Sie wusste, sie musste der Anderen Rede und Antwort stehen, wenn diese es von ihr verlangte. Dennoch sträubte sich etwas in ihrem Inneren, der letzten Bemerkung einfach zuzustimmen. Ja, sie war schon endlos lang eine Sklavin. Aber dennoch! Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der auch sie frei gewesen war. Daran hielt sie sich noch immer fest. Das würde sie sich nicht nehmen lassen.
„Nicht immer“, antwortete sie kurzangebunden. „Unser Dorf wurde ausgeraubt, da hatte ich acht oder neun Winter gesehen. Erst seitdem lebe ich in Unfreiheit.“
Lathgertha nickte verstehend. „Du hattest also freie Eltern“, schlussfolgerte sie und akzeptierte Rúnas Nicken als Bestätigung. „Und du sprichst unsere Sprache, auch, wenn dein Dialekt recht ungewöhnlich ist. Woher kommst du?“
Die Nordländerin war stehengeblieben und sah ihre Begleiterin forschend an. Dass Ragnars Mitbringsel sich so gut mit ihnen verständigen konnte, war ungewöhnlich.
Rúna musste sich konzentrieren, um die Antwort richtig zu formulieren. Sie sollte ohne Vorwurf sein und dennoch nichts beschönigen.
„Ári, mein vormaliger Herr, war dabei, als König Göttrik Rerik angriff. Unsere Siedlung lag nur auf seinem Weg …“
Die Erinnerung brach sich mit einem Mal heftig Bahn und Rúna sah es wieder vor sich, das brennende Dorf, die schreienden Menschen, die blutbesudelten Leichen. Dem Mädchen, das sie damals gewesen war, hatte sich das schreckliche Geschehen unauslöschlich eingeprägt. Wenig davon gab sie jetzt an die Gefährtin Ragnars weiter, stockend, sich für die überschießenden Emotionen dann doch schämend.
„Mein Vater versuchte, seinen Hof und seine Familie zu schützen“, gab sie knapp bekannt. „Es brauchte drei Krieger, um ihn zu besiegen. Doch dann, als der Weg frei war, nahmen die Männer alles, dessen sie habhaft werden konnten.“ Rúna verschwieg, dass es hauptsächlich ihre Mutter und ihre ältere Schwester gewesen waren, auf die es die Eindringlinge abgesehen hatten. In ihrem Vorratsloch hatte sie die beiden schreien hören, während die Männer grunzend ihre Lust verkündet hatten. Später, als die Barbaren nur noch nach Beute von Wert gesucht und Ári sie aus ihrem Versteck gezogen hatte, sah sie ihre Mutter zum letzten Mal. Irgendwer hatte ihr gnädig die Kehle durchgeschnitten. Doch sie lag immer noch bäuchlings und entblößt über dem großen Tisch, an dem sie vorher immer alle gesessen hatten. Weinend hatte sich Rúna zu ihr stürzen wollen, doch der Mann, der sie am Arm gepackt hielt, schleppte sie gnadenlos aus dem Haus, gerade noch rechtzeitig, bevor das Reetdach Feuer fing und das ganze Gebäude in lodernden Flammen aufging.
„Man hat mir erzählt, dass die meisten Gefangenen nach Haithabu gebracht und verkauft worden sind“, fuhr Rúna mit leiser Stimme fort. „Mich aber nahm mein neuer Herr mit auf sein Boot. Àri war damals schon alt und nach diesem Feldzug ließ er sich endgültig auf seinem Hof nieder. Dort war es auch, wo Jarl Ragnar mich gefunden hat.“
Sie versuchte wirklich, sich nichts anmerken zu lassen. Lathgertha bemerkte aber dennoch, dass hinter Rúnas Geschichte viel mehr steckte, als eine Alltäglichkeit. Ja, sie hatten schon immer Sklaven in Straumfjorður gehabt. Kein Hof und kein Haushalt kamen ohne die helfenden Hände der Unfreien aus. Dennoch war etwas an der Art, wie Rúna ihr Schicksal schilderte, dass die Frau des Jarl nachdenklich stimmte. Dieser trotzige Mut der Fremden gefiel ihr. Wäre sie eine der Ihren, eine freie Frau, hätte sie zu den Schildmaiden Straumfjorðurs gehören können. Sie war Lathgertha ähnlicher, als Ragnar es ahnte.
Die Gefährtin des Jarl verzog ihr Gesicht zu einem versteckten Lächeln. Auch, wenn es nicht eilte und sie mit Sicherheit wegen einer Dienerin keinen Ärger bekommen wollte - ein Schildmaid war für den Ort viel wertvoller als eine Dienerin oder Bauernmagd. Sie würde diesen Neuankömmling aus der Ferne aufmerksam beobachten und sollte sich die Frau als würdig erweisen, würde sie nicht ewig die Sklavin Ragnars oder besser Torsteins sein.
Lathgertha hätte Rúna durchaus sofort von Ragnar für sich selbst erbitten können. Die meisten Wünsche schlug ihr der Jarl nicht ab. Dazu liebte und begehrte er sie viel zu sehr. Doch sie erhoffte sich auch für Torstein eine Möglichkeit, seine Trauer abzulegen. Vielleicht konnte diese Rúna ihm ja einen Weg dorthin zeigen? Das Mädchen war noch jung. Es gab also keinen Grund, warum sie sich ihre Freiheit nicht in den nächsten Monden oder Jahren erarbeiten sollte.
Still in diese Gedanken versunken, erreichten sie den Ort. Rúna wurde keine Zeit gelassen, die imposante Siedlung genauer zu betrachten. Vorbei an den Anlegern führte Lathgertha sie zielstrebig zum größten der Langhäuser und schob sie dann freundlich aber bestimmt ins Innere des Holzbaus.