Als Rollo die Siedlung erreichte, konnte er sich ein erleichtertes Aufatmen nicht verwehren. Sein Zuhause stand noch unversehrt und es herrschte ein reges Getümmel. Die Männer, die offenbar Tote oder Verletzte aus der Schildhalle trugen, waren nicht die räuberischen Söldner Arngrims sondern seine Freunde.
Einen Moment lang gestattete er sich, das Treiben aufmerksam zu beobachten, dann stieß er seinem Pferd die Fersen in die Seiten. Gylve schloss zu ihm auf und gemeinsam trabten sie auf den Platz am Brunnen. Hier stand Thorstein, der Mann, der ihnen mit Sicherheit am ehesten Auskunft geben konnte.
Der Steuermann grinste von einem Ohr zum anderen, als er die beiden Männer unverletzt auf sich zukommen sah. Triumphierend stieß er eine Faust in die Luft und Rollo erwiderte die eindeutige Geste.
»Bei Mjölnir!«, lachte der Jarlsbruder erleichtert. »Du hast es ihnen also gezeigt!«
Die Erleichterung, die in seiner Stimme mitschwang, wollte Rollo gar nicht verbergen. Thorstein bedeutet ihm inzwischen wirklich viel. Der Steuermann war sein bester Freund und ein zuverlässiger Kampfgefährte geworden. Nicht auszudenken, wenn er bei dem hinterhältigen Angriff verletzt oder getötet worden wäre …
Thorstein lachte. »Ja, wir haben ihnen eine Lehre erteilt, die sie so schnell nicht vergessen werden.« Er wies mit der Hand zur Schildhalle. »Einer unserer Männer ist gefallen und mehrere sind verletzt. Doch von Arngrims Leuten hat keiner unsere Siedlung verlassen. Sie sind alle tot oder gefangen.«
Nachdenklich senkte er den Kopf und betrachtete seine blutbespritzten Stiefel. »Wir haben es ihnen angeboten, doch sie wollten sich nicht ergeben.« Tief atmete er ein und stieß dann die Luft resigniert aus. »Es war ein Blutbad, Rollo, das ich gern vermieden hätte. Immerhin waren das keine Fremden …«
Rollo kratzte sich den Bart und trat dann ein paar Kiesel mit dem Fuß beiseite. »Sie waren Feinde wie jeder andere Angreifer auch«, widersprach er dann entschlossen. »Es gab nur ›du oder sie‹, nichts anderes.« Er sah Thorstein ins Gesicht und erwiderte dessen zweifelnden Blick mit entschiedener Sicherheit. »Wären sie stärker gewesen als wir, würden die Raben jetzt unsere Augäpfel fressen und unsere Seelen wären mit den Walküren auf dem Weg nach Walhalla. Keiner von denen, die wir ausgeschaltet haben, sah aus, als würde er Gnade walten lassen. Sie waren gierig und wollten zu viel.« Er fluchte lautstark. »Doch bei Geri und Freki – das haben sie nicht bekommen!«
Thorstein nickte. »Nein, das haben sie nicht. Und darüber bin ich auch wirklich froh. Jeder hier im Dorf hat sein Bestes für Straumfjorður und Ragnar gegeben. Trotzdem ist es ein anderes Gefühl, Nordmänner zu töten … Ich wünschte, Arngrim wäre weniger gierig gewesen oder uns weniger nahestehend … Ich möchte nicht in Ragnars Haut stecken, wenn er mit Horik diesen Angriff rächen muss.«
Rollo grinste. »Das wird ihm nicht schwerfallen, denke ich.« Er beobachtete Aodh, der mit weiteren Männern die Gefangenen aus der Schildhalle führte. »Genug Geiseln für eine ordentliche Lösegeldsumme hast du ihm ja eingefangen.«
Thorstein folgte dem Blick seines Freundes. »Einer der Franken ist dabei«, murmelte er. »Ein starker Kämpfer mit Mut zum Hinterhalt …«
Sie besprachen den Verlauf ihrer Kämpfe und wandten sich dann dem Hafen zu, wo immer noch das feindliche Schiff herrenlos dahindümpelte. Auch wenn Thorstein die Knorr zunächst im Stillen mit einer Schnecke verglichen hatte, gefiel ihm das Lastschiff auf den zweiten Blick deutlich besser.
Der Schiffsbauer hatte eine robuste Bretterstärke für den Rumpf des Bootes gewählt und die Planken gründlich mit Birkenpech versiegelt. Ein feiner Duft nach Tang und feuchtem Holz stieg dem Steuermann in die Nase, als er einen ersten Blick über die hochbordige Außenwand warf. Auch hier fiel ihm die sorgfältige Arbeit auf, mit der das Schiff gebaut und instandgehalten war.
»Wer dieses Boot gepflegt hat, war ein guter Schiffsbauer«, brummte Thorstein. »Zu schade, dass er sein Handwerk nicht für uns betreibt …«
Rollo lachte. »Wenn er unter den Gefangenen ist, könnte er sich vielleicht sogar für ein Leben in Straumfjorður entscheiden. Besser als der Sklavenmarkt in Haithabu ist unsere Siedlung allemal.«
»Ich weiß noch nicht, wie viele Gefangene wir überhaupt gemacht haben und wer sie sind …«, gestand Thorstein.
»Das werden wir schon noch rechtzeitig erfahren«, wiegelte der Jarlsbruder leichthin ab. »Viel wichtiger ist doch, dass du mit der Knorr eine wichtige Beute gemacht hast. Nun bist du auch ein Schiffseigner wie Ragnar – nicht nur ein Steuermann.«
Ungläubig wandte sich Thorstein seinem Freund zu. »Ich kann doch dieses Boot nicht einfach behalten! Eine solche Beute steht nur dem Jarl zu …«
Rollo lachte. »… und wie du das kannst! Ragnar hat mir alle Rechte für die Zeit übertragen, die er der Siedlung fernbleibt, nicht wahr?«
Zögerlich nickte der Steuermann, noch nicht ganz verstehend, worauf Rollo hinauswollte.
»Also habe ich auch das Recht, gemachte Beute zu verteilen«, erklärte dieser entschlossen. »Und als dein Anführer spreche ich dir heute diese Knorr zu.« Er klopfte Thorstein freundschaftlich auf die Schulter. »Das hast du dir mehr als verdient! Behandle die Knarrar-bringa einfach gut, das ist das Einzige, was ich von dir erwarte.«
Sprachlos starrte Thorstein auf das Lastschiff. »Das kannst du nicht machen, Rollo«, widersprach er trotz der Verlockung, endlich ein eigenes Schiff zu besitzen, und sei es auch nur ein Lastkahn. »Aodh, Gylve und du habt ebenso viel für diesen Sieg getan wie ich. Wer wäre ich, wenn ich euch so übervorteilen würde?«
Rollo lachte. »Für Aodh und Gylve wird es genug Beute geben, wenn Ragnar von Haithabu zurückkommt. Er wird garantiert nicht leer ausgehen. Und was sollte ein Schmied auch mit einem Schiff?« Nochmals klopfte er seinem sprachlosen Kampfgefährten auf die Schulter. »Ich aber bin mir sicher, dass du die Ehre verdient hast. Nimm diese Knorr an als Zeichen, dass wir, Ragnar und ich, dich als wichtigen Krieger Straumfjorðurs achten.«
Rollo blieb dabei, auch wenn Thorstein nach wie vor zögerte, ein so wertvolles Geschenk anzunehmen. Er schob den Steuermann in Richtung des Bootes und schließlich gab dieser nach und sprang mit Schwung an Bord. Mit erfahrenem Blick musterte er den Mast mit dem aufgerollten Segel, klopfte hier und da gegen die Planken und schließlich übermannte ihn doch die Freude und mit einem wilden Siegesruf erstieg er die oberste Planke dicht neben dem Steven, hielt sich mit der Rechten an diesem fest und stieß die Linke mit der zur Faust geballten Hand in die Luft.
»Wir haben gesiegt, Rollo«, brüllte er in Richtung der inzwischen wieder friedlich daliegenden Siedlung. »Wir haben gesiegt!«
Glücklich lachend wandte er sich dem Jarlsbruder zu. »Und wir haben ein Schiff erbeutet! Das ist viel mehr, als ich erwartet habe. Danke, Rollo, vielen Dank!«
Die Rede Thorsteins mochte nicht ganz klar und verständlich sein, doch die wilde Freude, nach vielen Jahren unter den Segeln Ragnars nun ein eigenes Boot führen zu dürfen, war dem Steuermann deutlich anzusehen. Rollo grinste dementsprechend breit zurück und schwieg zufrieden beim Anblick des begeisterten Mannes, der jubelte wie ein kleine Kind, dem man eine besonders große Honigwabe geschenkt hatte.