Sie erreichten den Thingplatz im letzten Licht des späten Nachmittags. Thorstein atmete tief durch, als sie in die schattige Enge der Felsengasse einritten, die sie zu dem natürlich Rund des Richtplatzes bringen würde. Das tiefstehende Sonnenlicht ließ einen starken Kontrast zwischen Licht und Schatten entstehen, der die mystische Stimmung des Ortes verstärkte. Der Weg stieg leicht an und die Pferde verfielen unwillkürlich in einen langsameren Schritt.
Nach ungefähr drei steinkasten öffnete sich die Gasse zu einem grasbedeckten Oval, das von Felsen unterschiedlicher Höhe umstanden wurde. Hier waren zusätzliche stehende Steine errichtet worden, die anzeigten, dass der Ort von Menschen genutzt wurde. Eine Holzleiter führte zu einem schmalen Grat, der sich in etwa Kopfhöhe an der Nordseite des Thingplatzes erhob. Hier befand sich ein steinerner Sitz für den Anführer des Thing.
Heute würde an diesem Platz Horik sitzen und die Versammlung mit einem Trinkgelage und ersten prüfenden Gesprächen eröffnen. In Erwartung des Königs war der Sitz mit Fellen und Decken geschmückt und mit Farnwedeln gepolstert worden. Horik war der Einzige, dem ein Sitzplatz zustand. Alle anderen nahmen auf der Grasfläche des Thingplatzes stehend an dem Gericht teil.
Der Steuermann sah sich um und entdeckte unter jenen, die vor ihnen eingetroffen waren, alte Bekannte.
»Lass uns Aodh begrüßen!«, schlug er Rollo vor. Der nickte und sie stiegen von den Pferden, bevor sie auf eine Gruppe an östlichen Rand des Thingplatzes zugingen. Hierhin schien noch die Sonne und in deren Licht wärmten sich der Schmied und seine Freunde. Aodh begrüßte die Neuankömmlinge freundlich und sie beschlossen, später auch die Gästehütte mit dem Schmied zu teilen. Zufrieden gaben sie die Zügel aus den Händen, als ein paar Jungen aus der Siedlung anboten, ihre Pferde auf die Weide zu bringen. Dann wurde ihnen das Trinkhorn zur Begrüßung überreicht und sie waren in die Gruppe der Thingbesucher aufgenommen.
Während die Gruppe um Aodh noch einmal Arngrims Überfall und ihren herausragenden Sieg besprachen, schmiedeten der König und der Jarl bereits eigene Pläne.
»Dieser Überfall auf Straumfjorður war eine besonders schändliche Tat, da sie den Kampf in unser eigenes Land getragen hat«, ließ Horik seine Männer wissen.
Diese Ansicht äußerte er nicht zum ersten Mal an diesem Tag und Ragnar war sich inzwischen sicher, dass der König bereits wusste, wie er Arngrim strafen wollte.
Bei seiner Ankunft am Thingplatz hatte er gesehen, dass die Familien der gefangenen Männer aus Moseby bereits angekommen waren und vor dem heiligen Bezirk ein Lager aufgeschlagen hatten. Kinder liefen zwischen den Zelten umher und Frauen trugen schwere Wasserkrüge zu den Feuerstellen. Wären dies Menschen aus Straumfjorður gewesen, sie hätten nicht anders ausgesehen. Der Jarl versuchte sich vorzustellen, wie deren Leben aussehen würde, wenn Horik ihre Männer und Versorger töten ließe. Manche würden von den Brüdern der Opfer versorgt werden, andere hatten fast erwachsene Jungen oder heiratsfähige Töchter, deren zukünftige Ehemänner das Schlimmste abwenden konnten. Doch es blieben genug Frauen und Kinder, die durch den Verlust des Mannes oder Vaters zu Elend verurteilt würden. Horiks Urteil würde die Zukunft ganz Mosebys nachhaltig beeinflussen.
Ragnars Bedürfnis nach einem Ort zum Nachdenken stieg mit jeder Äußerung des Königs und seiner Berater. Selbst die geflüsterten Ratschläge Santórs störten ihn. Er musste überlegen, wie weit er selbst gehen wollte und ob er hinter Horiks Wunsch nach einer harten Bestrafung aller Angreifer stehen konnte. Müde verschränkte der Jarl die Arme vor der Brust und legte seine Hand unwillkürlich auf seinen Oberarm. Der Schmerz, der ihn daraufhin durchfuhr, erinnerte ihn, dass seine Wunde noch immer nicht vollkommen abgeheilt war.
Horik musste das blasse, angespannte Gesicht seines Schwiegersohns aufgefallen sein, denn er klopfte Ragnar freundschaftlich auf die Schulter. »Zieh dich ein wenig zurück mein Freund und ruhe dich aus«, schlug er vor. »Du siehst erschöpft aus und bist auch noch nicht gänzlich wiederhergestellt.« Er lachte. »Birthe jedoch wünscht sich einen gesunden Mann!«
Ragnar nickte und verabschiedete sich ehrerbietig. Auf dem Rückweg jedoch, als ihn keiner mehr hören konnte, fluchte er leise vor sich hin. Birthe war ein weiteres Problem, das er nicht vorausgesehen hatte. Die junge Königstochter war ihm zart und ein wenig unbedarft erschienen. In der Hochzeitsnacht hatte er sie ausgiebig bestiegen und ihr dabei offensichtlich auch Genuss geschenkt. Doch seiner neuen Frau schienen schon am ersten Tag seine körperlichen Zuwendungen nicht zu genügen. Seine Halle war ihr zu klein und zu dunkel und seine Knechte und Mägde zu unreinlich und in ihrer Anzahl viel zu wenige. Ob er sie für eine Schweinemagd hielte, hatte sie die Stirn gehabt zu fragen.
Der frischgebackene Ehemann seufzte. Jede andere Frau hätte er mit einer zornigen Antwort oder einer Maulschelle zum Schweigen gebracht. Selbst Lathgertha hatte ihre Wünsche und Vorschläge stets mit Respekt vorgetragen. Dabei waren ihre Forderungen zumeist maßvoll und seinem Haushalt von Nutzen gewesen. Birthe jedoch, als die Tochter eines Königs, würde sich von ihm kaum in die Schranken weisen lassen. Sie fühlte sich herabgesetzt und weggeschickt und das hatte sie ihm deutlich zu verstehen gegeben. Hinzu kam, dass sie seinen Sohn Björn ablehnte. Der Junge hatte sich am ersten Abend zu ihnen gesetzt und war von seiner neuen Frau nach kurzer Zeit zu den Knechten geschickt worden. Ragnar hatte ihr nicht widersprochen, doch er litt unter dieser Zurückweisung ebenso wie Björn. Dieser hatte am nächsten Tag dabei geholfen, die Ragnarsúð auf den Strand zu ziehen. Später war er bei Gylfe geblieben und hatte dort auch ein Nachtlager gefunden. Sein Freund hatte ihm eine Magd vorbeigeschickt und ausrichten lassen, dass Björn bei ihm in guten Händen sei. Doch war es das, was er für seinen Sohn wollte – als ungeliebtes Stiefkind bei den Freunden des Vaters aufwachsen?
Ragnar hatte seine Hütte erreicht und kroch erschöpft ins Innere. Kaum hatte er sich die Stiefel von den Füßen gezogen, ließ er sich auf sein Lager fallen. Er musste nachdenken und sich mit irgendjemanden austauschen. Doch Santór erschien ihm nach den letzten Gesprächen keine Option zu sein. Nachdenklich starrte der Jarl hinauf zu den rauchgeschwärzten Balken. Irgendjemand hatte dort vor langer Zeit ein Bündelchen Salbei aufgehängt und die Blätter waren längst von Rus überzogen und zu nichts mehr zu gebrauchen. Dennoch – je länger Ragnar zu den verdorrten Pflanzen hinaufstarrte, umso deutlicher wurde der Wunsch in ihm, eine ganz bestimmte Person um ein Gespräch zu bitten. Jorunn wollte er befragen! Von allen Menschen um ihn herum, war die alte Heilerin diejenige, die ihn am genauesten kannte und ihm am wenigsten nach dem Mund redete.
Doch der Jarl wusste auch, dass die Frauen in Straumfjorður zurückgeblieben waren. Wenn er ein Gespräch mit der Seherin wünschte, müsste er einen schnellen Ritt zurück zur Siedlung in Kauf nehmen oder die Seherin ins Lager bitten. Ragnar entschloss sich, einen Boten zu Jorunn zu senden. Selbst wenn heute noch Verabredungen getroffen werden sollten, eine Entscheidung über Arngrim und seine Mannen würden sie nicht vor dem morgigen Abend fällen. Also rief er einen zuverlässigen Pferdeknecht und schickte diesen auf einem schnellen Tier zurück nach Straumfjorður.