Meine lieben Leserinnen, heute gibt es nur ein kleines Kapitelchen. Im echten Buch wird die Kapitelgestaltung dann sowieso anders aussehen. Aber thematisch kommt hier ein Bruch. Daher heute also eine etwas kürzere Fortsetzung. Dafür besuchen wir dann bald gemeinsam das Thing. Dazu gehören auch ein paar Recherchen, die ich euch demnächst im Buch "Historische Hintergründe ..." vorstellen werde.
Viel Spaß euch allen erst mal mit den nächsten 500 Wörtchen.
Eure Sophie
Lathgertha wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Ragnars Zweitfrau zu sein, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Doch würde der Jarl sie mit ihrem Sohn einfach gehen lassen, oder würde er Björn für sich fordern? Dem Gesetz nach stand es ihm frei, sein Kind bei sich zu behalten. Und dass es dem Jarl um Nachkommen ging, hatte er nicht verschwiegen, sondern laut in der Schildhalle ausgesprochen. Die ganze Siedlung wusste sicher inzwischen davon!
Auf dem Weg zu Thorsteins Grubenhaus schien die Schildmaid die Blicke beinahe auf der Haut zu spüren – scheinbares Mitleid, unverhohlene Neugier, Schadenfreude. Plötzlich war es nicht nur Ragnars Haus, das ihr ungastlich erschien. Die gesamte Siedlung mit all ihren Menschen, die Schwäche nicht akzeptierten, stieß sie ab.
»Vielleicht kann ich bis zum Herbst bei euch auf dem Hof leben«, schlug sie deshalb später vor, als sie von Rúna nach ihren Plänen gefragt wurde. Anders als die heimlichen Blicke der Bewohner Straumfjorðurs waren die Umarmung ihrer Freundin und die große tröstende Hand Thorsteins auf ihrem Rücken bei der Begrüßung ehrlich und voller Zuneigung gewesen.
Gut tat eine solche Freundschaft, dachte Lathgertha und lächelte den beiden tapfer zu, als der Steuermann sie einlud, solange zu bleiben, wie sie es wollte.
»Ich weiß noch nicht, wie es jetzt weitergehen soll«, gab Lathgertha zu. »Zurück zu Ragnar werde ich nicht gehen. Da bin ich mir sicher. Ich werde mein Heim nicht mit einer anderen Frau teilen, und sei sie auch eine Königstochter.«
Zornig geworden schlug die Schildmaid auf den Tisch. »Und ich werde mich von Ragnar nicht demütigen lassen, indem ich zustimme, seine Zweitfrau zu sein. Wir haben in all den Jahren, die hinter uns liegen, vieles geteilt und immer zueinander gestanden, auch wenn es manchmal schwer war. Doch egal, welche Sorgen und Herausforderungen das waren, mein Platz war immer neben und nicht hinter ihm.«
Lathgertha wollte stark sein. Doch es ging nicht mehr. Nachdem sie sich in den letzten Stunden mit aller Macht beherrscht hatte, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie schluchzte auf und versteckte gleichzeitig ihr Gesicht hinter ihren Händen.
Thorstein seufzte. Doch auch er wusste keinen Rat, wie er der erniedrigten Gertha helfen könne. Rúna trat tröstend hinter sie und schloss sie in die Arme. Letztlich ließen sie die enttäuschte Frau einfach weinen.
Irgendwann kam Gertha zur Ruhe und mit der Erschöpfung kam auch eine Art stille Resignation über sie.
»Ich werde in den nächsten Tagen mit Ragnar reden und ihm sagen, dass ich ihn verlasse. Wenn irgend möglich, werde ich Björn mitnehmen. Falls er darauf besteht, dass unser Sohn bei ihm bleibt, muss ich das akzeptieren. Björn ist alt genug, um bei seinem Vater zu leben. Irgendwann wird er es verstehen.«
Thorstein bezweifelte, dass Ragnar seinen Sohn einfach gehenlassen würde. Doch es war nicht an ihm, Gerthas Hoffnungen zu zerstören. Vielleicht hatte der Jarl ein weicheres Herz, als er es annahm? Vielleicht wünschte sich Horik, dass die Kinder seiner Tochter als einzige auf Ragnars Hofstätte lebten? Noch hatte das Schicksal seine Knöchelchen nicht geworfen. Also würden sie warten und hören, was Ragnar entschied.
Bis zum Thing aber – und da ließ Thorstein nicht mit sich verhandeln – würden sie allen Ärgernissen aus dem Weg gehen, indem sie zum Moorseehof zurückkehrten.