Die Krieger drängten zum Aufbruch. Noch ließen sie sich von der Macht des Jarlsbruders zurückhalten. Doch Rollo wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie sich offen gegen ihn aussprechen und ihre Pferde auch ohne seinen Befehl besteigen würden. Lockte der Kampf, wurden sie alle zu einer Horde wilder Tiere, die kaum zu bändigen war. Auch er - das hatte er in den letzten Jahren oft genug genossen - war davon nicht ausgenommen.
So kam sein Aufatmen von Herzen, als Gylfe im hellen Licht der Mittagszeit auf einem erschöpften, schäumenden Pferd durchs Tor ritt. Der Späher sprang ab und warf dem herbeigeeilten Pferdeknecht die Zügel zu. Es blieb wenig Zeit und so stieß er hervor, was er gesehen hatte.
»Sie kommen!«, keuchte der erschöpfte Mann atemlos. »Sie haben nicht auf Verstärkung gewartet.« Gylfe ließ sich auf dem Brunnenrand nieder und tauchte eine Hand in den halbvollen Eimer, den eine Magd dort offenbar aufgrund der allgemeinen Aufregung stehengelassen hatte. Das kalte Wassers tat gut auf seiner erhitzten Haut und einen Moment lang starrte er auf die zarten Wellen, die sich auf dessen Oberfläche ausbreiteten. »Sie haben ein Zeichen bekommen«, berichtete er weiter, obwohl er von dem schnellen Ritt noch ganz außer Atem war.
»Von weit draußen sah ich eine dunkle Rauchwolke aufsteigen. Sie muss es gewesen sein, die Arngrims Männer erwartet haben, denn sie begrüßten dieses Wölkchen mit Gejohle und Begeisterung.«
Gylfe sah Rollo ernst an. »Es muss ein Zeichen gewesen sein, das vom Wasser aus gegeben wurde«, vermutete er. »Es war weit weg, viel weiter entfernt, als es die Küste dort im Süden ist. Sie müssen ein Boot haben!« Er knirschte bitter mit den Zähnen. »Wie sie es machen werden, weiß ich nicht. Doch sie planen einen zeitgleichen Überfall vom Land und von der See aus. Ich bin vor ihnen aufgebrochen, um euch zu warnen, doch es kann gut sein, dass sie nicht hierher kommen, sondern Richtung Straumfjorður gehen!«
Zornig stampfte Rollo auf. »Gamal Hundar(1) ! Natürlich werden sie es auf die Siedlung abgesehen haben. Wer nimmt auch ein dünnes Ferkel, wenn er ein gemästetes Schwein haben kann?« Wütend raufte er sich die Haare, die ihm danach wirr vom Kopf abstanden. Doch den zornigen Krieger interessierte sein Aussehen gerade gar nicht. »Wir schaffen es nicht einmal mehr, Thorstein vor dem Angriff rechtzeitig zu warnen«, fluchte Rollo weiter. »Selbst wenn die Küstenspäher das Boot rechtzeitig melden - die Männer aus dem Hinterland wird er nicht erwarten. Auch ich habe nicht damit gerechnet, dass sie es wagen, sich zu teilen«
Gylfe nickte düster. »Sie sind gerissener, als wir dachten«, stimmte er zu. »Doch auf dem Ritt hierher kam mir eine Idee.«
Er schwieg und wartete darauf, dass Rollo ihn aufforderte zu sprechen. Das würde seiner Rede das Gewicht geben, welches sie verdiente.
Wie vermutet, ging sein Gegenüber auch darauf ein und bat ihn mit einer Geste zu sprechen.
»Sie mögen gen Straumfjorður ziehen«, fing Gylfe an, seinen Plan zu entwickeln. »Doch sie sind größtenteils zu Fuß. Wir aber haben Pferde, ausgeruhte Pferde.« Er lachte leise auf. und sah zu seinem Hengst, der erschöpft vor dem Stall stand und soff. »… die meisten von uns zumindest.«
Gylfe sah, dass Rollo ungeduldig wurde. Er sollte seinen Anführer nicht warten lassen.
»Wir könnten ihnen den Weg abschneiden. Niemals werden sie erwarten, in einen Hinterhalt zu geraten, so unvorbereitet, wie sie uns wähnen.«
Rollo rieb sich nachdenklich über den Nasenrücken. »Das könnte gehen«, brummte er. »Doch ist es nicht zu riskant, die Höfe ohne Schutz zu lassen? Ein Feuer ist schnell gelegt …«
Hier mischte sich Gunnar in die Diskussion ein.
»Sie wissen ja nicht, dass die Höfe verlassen sind. Ein geschlossenes Tor sagt nichts über das Kommen und Gehen der Bewohner eines Bauernhofes aus. Also werden sie vorsichtig sein. Und«, hier lachte er zufrieden, »viel gibt es auf den Hofstätten gerade nicht zu holen. Alles was uns wichtig oder wertvoll erschien, liegt gut verwahrt bei unseren Frauen und Kindern im Moor. Dorthin sollen sie erst einmal vordringen!«
Gunnar war ein wortgewandter, mutiger Mann und so kam es, dass er Rollo bald überzeugt hatte. Die kleine Schar bis an die Zähne bewaffneter Kriger verließ den Hof, wandte sich zunächst ein wenig gen Westen, wo die Wiesen flacher und das Gras kürzer waren, und galoppierte dann nach Süden, als jage sie Thor persönlich voran. Rollo trieb seinem Pferd die Fersen in die Seiten. Noch war es weit bis zu jenem dichten Wäldchen, das den Weg nach Straumfjorður umgab und ihnen den Schutz bieten würde, den sie für einen hervorragenden Hinterhalt brauchten.
»Vorwärts Männer«, brüllte er in den Wind. »Die Götter sind mit uns! Odin ist mit uns, mit uns, den Gerechten!« Es war das erste Mal, dass sie kämpften, um ihr eigenes Zuhause zu verteidigen, das erste Mal, dass nicht sie es waren, die auf fremdem Grund und Boden einfielen. Rollo spürte eine seltsame Beklommenheit, als er an die vielen Überfälle dachte, an denen er in der Vergangenheit beteiligt gewesen war. Niemals war dabei das Gefühl in ihm stark geworden, etwas Gerechtes zu tun. Es ging um Gold, Schätze und Sklaven, nie aber um mehr, um etwas von unschätzbarem Wert wie ihr geliebtes Straumfjorður, dessen Frieden sie bisher so selbstverständlich hingenommen hatten.
Im Wind, der ihm in den Ohren klang, glaubte er die Nornir lachen zu hören. Verdandi würde die Stäbe legen, Skuld die Knöchelchen werfen. Wer wusste schon, was sie für einen Krieger wie ihn bereithielten? Und doch! Heute fühlte er sich stolzer und mächtiger als je zuvor. Ob es wirklich daran lag, dass sein Handeln gerecht war? Rollo blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken. Schon kam jenes Wäldchen in Sicht, das sie zum Ziel erkoren hatten. Sveinn, der an der Spitze ritt, schwenkte noch einmal nach Westen, um alle verräterischen Spuren zu vermeiden. Dann, nachdem sie gute zehn steinkasten(2) weit geritten waren, bogen sie endgültig ab und ritten in einem geruhsamen Trab an den Rand des Wäldchens heran. Hier gab es genügend Sträucher, zwischen denen sie ihre Pferde versteckten. Dann wurden erneut Glve und Sveinn zu Spähern ernannt, die vor dem Herannahen der Feinde rechtzeitig warnen sollten. Alle anderen Krieger pirschten sich an den Weg heran, der nach Straumfjorður führte. Ohne ein unnötiges Geräusch verteilten sie sich zu beiden Seiten des etwas höher gelegenen Weges, nutzen die Bäume, um über den Boden zu gelangen und legten ihre Waffen bereit. Dann herrschte bald wieder Stille. Die Ruhe im Wald ließ nach einiger Zeit die Vögel und kleinen Wildtiere sich wieder hervorwagen. Nichts in den Gezwitscher und Blätterrauschen deutete auf das Blutbad hin, das diesen Ort bald ereilen würde.
Doch der Frieden währte nicht lange. Der warnende Ruf eines Käuzchens klang durch den Wald und auf dieses Zeichen der Späher hin hätte ein aufmerksamer Beobachter hier und da einen Kopf erkennen können, der sich über die dicht belaubten Äste oder aus dem hohen Gras ein wenig erhob. Den schnelleren Herzschlag aber und die angespannten Muskeln spürten nur Rollos Krieger, die sich auf den Kampf vorbereiteten. Nun, da man von weitem ein leises Hufgetrappel vernahm, hatte das Warten ein Ende. Die Feinde kamen langsam näher, waren es doch hauptsächlich Fußgänger, die sich auf den langen Weg ins feindliche Gebiet gewagt hatten. Nur die fränkischen Ritter hatten ihre Pferde dabei. Deren Hufe waren es, die die Stille zuerst durchbrachen.
Die Vögel verstummten, dann war ein aufgeregtes Flattern über den Köpfen der Wartenden zu hören, als die feindliche Schar den Weg durch das Wäldchen betrat. Die plötzliche Dunkelheit ließ die Männer blinzeln. Sie verfielen unwillkürlich in einen langsameren Gang, als sie die Kälte des Waldes zu spüren bekamen. Der erste Augenblick der Erfrischung ließ sie unaufmerksam werden. Auch die Pferde hoben lauschend die Köpfe und warfen den Bäumen einen neugierigen Blick zu. Diesen Moment des allgemeinen Zögerns hatte Rollo erwartet und machte ihn sich gnadenlos zunutze.
Er und seine Männer sprangen mit wildem Kampfgeschrei aus ihren Verstecken. Die ersten Lanzen flogen und Schwerter rissen Wunden, noch ehe sich die so überfallenen Gegner von ihrer Überraschung erholt hatte. Flüche wurden laut. Die Pferde begannen erschrocken zu tänzeln und in die wie eine Schar aufgescheuchter Hühner durcheinander rennende Meute der Feinde fielen Rollos Mannen ein wie ein Rudel Wölfe.
»Schildwall! Schildwall!«, donnerte der Befehl eines Franken durch die Masse an kämpfenden Leibern. Keinen Moment zu früh, denn als der bewaffnete Mann vom Pferd sprang, um sich ebenfalls in den Schutz der Schilde zu begeben, drang ein gut platzierter Pfeil an der Schulter durch seine Rüstung.
Sveinn und Gylfe waren den Feinden gefolgt und schlossen sich nun dem Kampf an. Sveinn, der als Jäger einen Bogen führte, nutzte die Kraft der Fernwaffe und versendete sein Dutzend Pfeile auf die Pferde der Franken und deren Reiter. Er hatte auf dem Weg hierher lange nachgedacht, wo seine Pfeilspitzen durch die Rüstungen dringen konnten. Nun sah er, dass seine Überlegungen richtig waren. Zwar konnte er dem Gegner keine tödliche Verletzung zufügen, doch die Schwerthand des Franken war eindeutig beeinträchtigt, als Gylfe diesen nun herausforderte. Schild schlug gegen Schild und die Schwerter der beiden Kämpen trafen krachend aufeinander. Jeder der beiden Krieger verfügte über einen ihm eigenen Vorteil: Gylfe war ohne Kettenhemd wendiger und mit seinem relativ kurzen Einhänder konnte er schneller den Schlägen seines Gegners begegnen oder vor ihnen ausweichen. Der Franke jedoch trug eine Rüstung, wie sie bei den Wikingern erst seit kurzer Zeit bekannt war. Anstelle des Kettenhemdes, das sie alle kannten und schätzten, war die Brust des Mannes von einer geschlossenen Eisenplatte geschützt. Helm und eiserne Handschuhe vervollständigten den Aufzug und Gylfe musste feststellen, dass seine Klinge das Metall nicht durchdringen konnte. Nach einem Schlag, der von dem Harnisch abgewehrt wurde, stolperten sie beide und der Nordmann sprang einen Schritt zurück, um seine Gedanken zu sammeln. Dieser Feind war schwer zu Fall zu bringen. Zu Fall zu bringen … Gylfe erhaschte einen Blick auf die kaum geschützten Beine des Gegners. Auch wenn es kein Mittel war, zu dem er gern griff, so war er heute doch gewillt, mit allen Tricks zu kämpfen. Redlichkeit hatte der Mann vor ihm nicht verdient, wollte doch auch er mit seinem Angriff Thorsteins ungeschützten Rücken treffen.
Gylfe täuschte einen Angriff an, wich zurück, trat vor, täuschte an, zur Seite hin auszuweichen … und als der Franke ihm in die angedeutete Bewegung folgte, schlitzte er diesem den linken Oberschenkel bis zum Knochen auf. Schreiend stürzte der Fremdling zu Boden, das Schwert fallenlassend und sich beide Hände auf die Wunde pressend. Ein unverständlicher Fluch drang an Gylfes Ohr, dann versenkte dieser seine Schwertspitze zwischen Helm und Harnisch in den schutzlosen Hals des Franken.
Ohne nachzudenken, zog Gylfe sein Schwert zurück, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei Angreifer gegen seinen Freund Sveinn antraten. Der junge Mann hatte seinen Bogen weggeworfen und das Schwert gezogen. Doch aufgrund der doppelten Bewaffnung trug er keinen Schild, sodass er den beiden Feinden ungeschützt gegenüberstand. Aufschreiend ließ auch Gylfe seinen Schild fallen und hob stattdessen das Schwert des Franken, einen schweren Anderthalbhänder, vom Boden auf. Brüllend warf er sich in den Kampf und es gelang ihm, die beiden Angreifer von seinem Freund abzulenken. Doch es war schon zu spät. Einer von Arngrims Männern war der Schlag gelungen und nun steckte sein Schwert tief im Bauch des Bogenschützen. Kraftvoll hielt der Angreifer die Waffe aufrecht, als Sveinn zu Boden ging, dabei seine Wunde noch weiter aufreißend. Schon, als er den kühlen Bodes des Weges berührte, war der junge Mann tot.
Seine Gegner aber sahen sich einem wie wahnsinnig brüllenden und schwertschwingenden Mann gegenüber, dessen blutbespritztes Gesicht vor Zorn zu einer Grimasse verzogen war. Hier gab es keine Gnade und nach kurzem Kampf gehörte der Sieg Gylfe.
Als dieser jedoch sah, dass von Seiten der Angreifer keine Gegenwahr mehr zu erwarten war, warf er beide Waffen zu Boden und kniete sich neben seinen gefallenen Freund. Voller Trauer bettete er dessen Kopf in seinen Schoß. Viel zu jung war Sveinn nach Walhalla gegangen. So viel hätte es für ihn noch zu erleben gegeben. »ES tut mir leid, mein Freund, dass ich dir nicht eher zu Hilfe kommen konnte«, murmelte Gylfe. Dann stimmte er einen leisen Gesang an, der die Walküren gnädig stimmen sollte, damit diese den jungen Krieger sicher in die Anderwelt geleiteten.
(1) Gamal hundar - altnordisch: Alte Hunde
(2) steinkast - ein Steinwurf weit (ca. 47 m oder 25 favner) bis heute als grobes Schätzmaß gebräuchlich