Segeln! Ein einziges Wort war gefallen. Doch die Bedeutung ihrer Unterhaltung kam Ragnar nur langsam zu Bewusstsein. Jorunn hatte recht. Es gab immer die Möglichkeit, neu anzufangen, einen Versuch zu wagen, das Schicksal zu ändern. Die Götter würden ihre Unterhaltung haben und vielleicht ließen sie sich dazu herab, den Menschen, die sie belustigten, gewogen zu sein und ihnen am Ende der Reise Glück und Wohlstand zu schenken.
Nach zwei weiteren Tagen, die sie mit Feiern und Nichtstun verbracht hatten, bestiegen Horik und Erik ihre Schiffe und brachen nach Århus auf. Ragnar und seine Männer blieben zurück, ebenso wie Birthe und Santór, den Rollo bereits spöttisch den Schoßhund der Königin nannte.
Ragnar hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht und seiner Frau, nachdem er sie in der Nacht bestiegen hatte, zu ihrer neuen Würde in Moseby gratuliert.
»Du solltest dir überlegen, ob du Santór von Anfang an die Führung hier überlassen möchtest«, hatte der Jarl versucht, sie in die Richtung seiner Wünsche zu lenken. »Manchmal ist es besser, selbst einen Anfang zu machen und den Leuten zu zeigen, dass man Macht über sie hat«, schmeichelte er. »Andererseits muss es dich auch drängen, deinen eigenen Hausstand zu gründen und als verheiratete Frau zu leben. Ich könnte verstehen, wenn du Santór hierlässt, um mit mir nach Straumfjorður
zurückzukehren.«
Der Köder war gut ausgelegt. Ragnar hatte schon zu Beginn seiner Ansprache das Glimmen von neu erwachter Gier in Birthes Augen gesehen. Sie würde nicht als einfache Ehefrau leben wollen, da war er sich sicher. Dennoch spielte er kurz den enttäuschten Ehemann, als sie darum bat, in Moseby bei Santór bleiben zu dürfen. Er ließ sich von ihr bis zum Morgen verwöhnen und gab ihr das Gefühl, ihn überredet zu haben, als er am Schluss ihren Wünschen zustimmte.
»Ich werde dir einige Männer zum Schutz dalassen«, versicherte er. »Alles, was du benötigst, kannst du dir von Straumfjorður herschicken lassen. Mägde, Knechte und Diener findest du hier gewiss.«
Die Begeisterung, mit der seine Frau ihrer Abschiebung nach Moseby zustimmte, ließ Ragnar innerlich lachen. Wenn Birthe nur wüsste, was für einen großen Gefallen sie ihm mit ihrer Abwesenheit tat! Nur so fand er Zeit, um sich mit seinen Männern zu ihrem weiteren Vorgehen zu beraten, konnte er Björn zurückholen und die Zukunft planen.
Der Jarl wusste, dass ihm nur ein Aufschub gewährt worden war, ein wenig Zeit, um sich zu bedenken und einen Entschluss zu fassen. Der einfachste Weg, so verstand er, war jener, der ihn weitermachen ließ wie bisher. Seine Stellung in Straumfjorður hatte Horik nicht angetastet und es blieben ihm genügend Männer, diese Position zu halten, auch wenn Birthe und Santór Moseby lenkten. Die Nachbarsiedlung war durch Horiks Vorgehen nachhaltig geschwächt. Von dort drohte ihm in der kommenden Zeit keine kriegerische Gefahr. Dennoch waren die Positionen anders verteilt worden und seine neue Gemahlin mochte bald gieriger werden, wenn sie einmal Macht gekostet hatte. Der Franke hingegen – und das war Ragnar ebenso aufgefallen, wie es auch Horik bemerkt haben musste – war klug. Vielleicht mehr, als gut für ihn war. Und er besaß Geschick genug, um sich einen Platz unter den Anführern zu sichern. Mochte er heute noch Birthes Berater spielen, konnte er morgen schon weit mehr fordern …
Jeder andere Weg und vor allem der Gedanke an einen gänzlichen Neuanfang barg auch Gefahren in sich, die er bedenken musste, bevor er vielleicht auf die Ideen Rollos und Thorsteins einging. Segeln klang verlockend, verhieß Abenteuer, einen Neuanfang, versprach, all die verworrenen Fäden des Schicksals einfach hinter sich zu lassen. Björn sah er auf seiner Súð neben sich und wenn er ein wenig mutiger dachte, dann sogar Lathgertha.
Doch Segeln allein reichte nicht aus. Bevor er sich zu einem solchen Schritt entschloss, musste er sich darüber klarwerden, wo sein Ziel liegen konnte. War er bereit, für einen unsicheren Neubeginn alles aufzugeben, was er erreicht hatte?
Auf dem Weg nach Straumfjorður schwieg Ragnar fast ständig. Seine Begleiter ließen ihn grübeln. Auch ihnen war nicht nach Reden zumute. Das, was sie erlebt hatten, gab ihnen genügend Stoff zum Nachdenken. So trabten sie gemeinsam an der Küste entlang Richtung Heimat, ein schweigsamer, grüblerischer Trupp Nordmänner, der versuchte, sich über die Wege der Zukunft klar zu werden.
Ragnar beschloss, vorsichtig vorzugehen, Schritt für Schritt.
Nachdem er endlich wieder eine Nacht auf seinem eigenen Lager geschlafen hatte, ohne von seiner unerwünschten neuen Frau bedrängt zu werden, fühlte er sich erholt und gestärkt. Es war Zeit, ein erstes Mahl zu sich nehmen.
»Geh hinüber zu Gylfe«, wies er eine seiner Sklavinnen an, »und bitte ihn, mit Björn zum Essen herüberzukommen. Ich muss mit ihm sprechen und möchte meinen Sohn sehen!«
Ragnar erwartete Björn sehr ungeduldig. Während er an seinem Methorn nippte, trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Noch immer wusste er nicht, welchen Weg er einschlagen würde. Horiks Machtdemonstration war für ihn unbequem gewesen. Dennoch! Zu Segeln und völlig neu anzufangen, war ein sehr großes Risiko. Der Jarl war sich nicht sicher, ob er mutig genug war, diesen Weg einzuschlagen.
Ein wenig erinnerte ihn die Situation an ein neues Paar Schuhe. Auch diese waren zu Anfang unbequem und drückten, doch nach einiger Zeit hatte sich der Fuß an den Stiefel gewöhnt und fühlte sich völlig normal an. Vielleicht musste auch er, Ragnar, sich an seine neue Position gewöhnen.
Dem Jarl blieb nicht genügend Zeit, weiter zu sinnen. Vor der Tür polterte es und Gylfes Stimme mahnte: »Streich dir sofort die Füße ab!« Dann schlug das Türblatt auf und krachte gegen den Pfosten, an dem man es befestigen konnte, wollte man das Haus lüften.
»Faðir, faðir!«, jubelte ein Junge. Björn sprang Ragnar auf den Schoß und fiel ihm um den Hals. »Du warst lange fort!«
Der Jarl zog seinen Sohn in eine gerührte Umarmung. »Mein lieber Björn!«, begrüßte er ihn. »Das stimmt! Unser König hat zum Thing gerufen. Das habe ich dir erzählt. Und ich habe dir gesagt, dass ich immer gehen muss, wenn Horik mich ruft. Erinnerst du dich?«
Der Junge nickte. »Trotzdem war es lang!« Er wurde in Ragnars Umarmung zappelig und der Jarl strich ihm noch einmal durch das blonde, weiche Haar, bevor er ihn anhob und auf den Stuhl neben sich setzte.
Björn war noch klein, stellte er fest. In seiner Erinnerung hatte er den Buben älter gemacht, als er eigentlich war. Als er in dessen Alter gewesen war, lebte seine gesamte Familie in einem kleinen Haus am Meer. Fast jeden Tag hatte er bei seiner Mutter verbracht. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie einmal nicht zuhause gewesen war, wenn er nach einem Abenteuer mit seinen Freunden oder einem Ausflug mit seinem Vater müde zuhause ankam. Dann hatte sie über seine dreckigen Füße geschimpft oder seine blutigen Knie versorgt und er hatte sich immer sicher sein können, dass sie ihn liebte und für ihn da war.
Björn aber, und das sah Ragnar mit einem Mal deutlich, war viel zu jung, um ohne Mutter auszuwachsen. Birthe jedoch war selbst viel zu unerfahren, um seinem Jungen Lathgertha zu ersetzen.
Ragnar seufzte. »Wir werden morgen zu Thorstein auf den Hof fahren, damit du deine móðir wiedersehen kannst.«
Die glänzenden Augen und der Jubel Björns bestätigten ihm sofort, dass dies die rechte Entscheidung gewesen war. Wie er Lathgertha jedoch erklären sollte, was er selbst nicht wusste – wie es nun weitergehen würde – konnte er nicht sagen.