Der Morgen des Thing brachte Nebel. Die weißen, mystischen Schwaden lagen wie eine Decke über dem Richtplatz. Selbst die stehenden Steine verschwanden größtenteils in der geheimnisvollen Wettererscheinung. Die Männer, die sich für den kommenden Rat versammelten, fröstelten trotz ihrer dicken Fellbekleidung.
Auch Thorstein und Rollo hatten sich auf dem Weg zum Thing gemacht. Nun standen sie am Rand des Ratsplatzes und schauten auf die im Nebel versunkenen Felsen.
»Odin scheint uns ein Zeichen geben zu wollen.« Rollo wies auf die Nebelfetzen, die über das Hochplateau geisterten. »Die Götter schauen auf das Thing und auf uns.«
Auch Thorstein war von dem Nebel beeindruckt. Er schaute über den Thingplatz und versuchte sich klarzumachen, welche Wünsche er an die Götter hatte. Welcher Schuldspruch war richtig und gerecht? War Arngrims Verurteilung eine Frage der Macht oder eine Frage des Großmutes? Der Steuermann wusste, dass diese Entscheidung nicht von ihm getroffen werden würde. Dennoch blickte er hoffnungsvoll auf die Haselstäbe in Rollos Hand. Die Entscheidung einem Holmgang zu überlassen, erschien ihm richtig.
Weitere Männer näherten sich dem Thingplatz und sahen sich den Nebel an. Sie alle empfanden Respekt vor den Göttern und betraten den Versammlungsort leise. Gruppen aus Freunden und Männern mit gleicher Gesinnung fanden sich zusammen und tauschten murmelnd ihre Erwartungen aus.
Als die Sonne sich über die Felsen erhob, waren alle versammelt und erwarteten den König und seine Begleiter. Nach und nach verflüchtigte sich der Nebel durch die zunehmende Wärme. Dennoch blieb das Gefühl, dass die Götter nahe seien.
Horik hatte sich die Zeit genommen, seine wertvollste Kleidung und seinen besten Schmuck anzulegen. Kriegerringe schmückten seinen Bart und Armreife seine Unterarme, als er seine Behausung verließ. Nicht nur Ìvaldi und Sántor begleiteten ihn, sondern auch Ragnar und Gylve schlossen sich seinem Gefolge an. Gemeinsam bildeten sie eine Gruppe ehrfurchtgebietender Männer. Daher war es nicht erstaunlich, dass alle Gespräche verstummten, als sie den Thingplatz betraten.
Horik ließ sich nicht von der Stille beeindrucken, sondern betrat zügig den für ihn vorbereiteten, erhöhten Platz. Er setzte sich nicht, sondern trat mit halb erhobenen Händen vor die wartenden Männer.
»Ich grüße euch, Männer von Straumfjorður!«, rief er. »Ihr habt euch hier mit mir versammelt, um euer Recht auf Sicherheit im eigenen Land zu bekräftigen. Ihr habt euch hier versammelt, weil euch durch eure Nachbarn Unrecht widerfahren ist. Mithilfe der Götter werden wir heute ein Urteil über jene sprechen, die gegen die Werte unseres Volkes und gegen meine ausdrücklichen Gesetze verstoßen haben. Ich danke euch, Männer von Straumfjorður, dass ihr meinem Ruf gefolgt seid und euch heute hier versammelt habt. Ich danke euch auch, Männer von Straumfjorður, dass ihr eure Siedlung verteidigt und eurem Jarl Ragnar die Treue gehalten habt.«
Jetzt erst nahm der König Platz und seine Begleiter stellten sich hinter ihm in einer Reihe auf.
»Heimat«, begann Horick noch einmal seinen Gedanken, »ist mehr als nur ein Ort zum Wohnen. Heimat bedeutet Sicherheit. Heimat bedeutet Wärme, Zufriedenheit und Familie. Denke ich an Heimat, sehe ich friedliche Siedlungen mit zufriedenen Bewohnern. Eure Heimat, Männer von Straumfjorður, eure Heimat sage ich, wurde von Arngrim bedroht. Er brachte Gefahr für euer Zuhause, eure Frauen, eure Kinder und euren Wohlstand, den ihr euch zu Recht verdient habt.
Doch Arngrim ist uns allen kein Fremder. Arngrim, der Jarl von Moseby, ist euer nächster Nachbar. Er ist mein verschworener Gefolgsmann. «
Horik erhob sich. Fordernd blickte er über die vor ihm versammelten Männer. »Heute müssen wir in ihm mehr sehen als nur einen Gegner. Arngrim ist ein hinterhältiger Verräter. Und es gilt, ihm das Handwerk zu legen. «
Der König begann, auf seinem erhöhten Platz hin und her zu gehen. Die versammelten Männer vor ihm standen stumm und beobachteten seine Bewegungen. Horik ließ sie ein wenig warten, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen.
Auch Ragnar erwartete die Ausführungen des Königs gespannt. Ihm war nicht entgangen, dass Horik Santór an seine Seite geholt hatte. Er hatte auch die Haselstäbe gesehen, die Thorstein und Rollo mitgebracht hatten. Würde Horik auf diesem traditionellen Gericht bestehen?
Auch dem König waren die mitgebrachten Haselzweige nicht entgangen. Mehrere Stimmen hatten ihm zu einem Holmgang geraten. Doch diese unsichere Art des Gerichts gefiel ihm nicht. Er würde die Entscheidung nicht aus seiner Hand geben, davon war er nach dem Gespräch mit Sántor vollkommen überzeugt. Und so schloss seine weitere Rede jegliche Abstimmung oder gar ein Gottesgericht aus.
»Ich habe die Haselstäbe wohl gesehen, die ihr mitgebracht habt. Es ehrt euch, dass ihr Odin den Rechtsspruch überlassen möchtet. Doch wollen wir Arngrim so viel Wert beimessen, dass wir ihm zu Ehren die Götter anrufen? Nein, das wollen wir nicht! Ich bin überzeugt, dass wir die Götter kränken würden, wenn wir sie mit der Entscheidung über diesen wertlosen Auswurf belästigten. Arngrim hat euch verraten und somit hat er seinen König verraten. Und ich, dieser König, werde ihn richten. «
Horik stellte sich nun breitbeinig vor die Männer. In seinem Zorn und seiner Entschlossenheit wirkte er wahrhaft majestätisch. Nach seinen Worten war jedem Mann klar, dass es am Rechtsspruch des Königs nichts zu rütteln geben würde. Und so strafften sich auch seine Zuhörer, um von dem folgenden nichts zu verpassen. Doch zunächst gab Horik den Befehl, Arngrim, dessen Männer und die gesamte Jarlsfamilie von Moseby auf den Thingplatz zu holen.